Achtundzwanzig
Es war kalt geworden. Der Himmel war grau und die Luft feucht. Vor drei Stunden, als Carlyle die Wohnung verlassen hatte, war der Himmel von einem klaren Blau gewesen, das auf einen angenehmen Sommertag schließen ließ. Mittlerweile schien er eher eine Reproduktion des Februars im Juni zu sein. Er verfluchte sich, weil er die Wettervorhersage ignoriert und seinen Regenmantel zu Hause gelassen hatte, richtete den Blick nach oben und hoffte, dass die Bäume in der Umgebung ihm ein wenig Schutz vor dem drohenden Regen bieten würden.
Seinem Unbehagen zum Trotz – dies war das richtige Wetter für eine Beerdigung. Carlyle war schon vor langer Zeit zu der Überzeugung gelangt, dass es einfach die ultimative Beleidigung wäre, an einem schönen Sommertag begraben zu werden – als machte das Universum sich über dich lustig. Dunkel, klamm und zur Selbstbeobachtung einladend – so wollte er das Verfahren haben, wenn seine Zeit gekommen war.
Während er auf die Sintflut wartete, zwang er sich zu fröhlicheren Gedanken. Mit etwas Glück würde seine Zeit noch nicht so bald kommen. Für Agatha und Henry Mills war es allerdings schon so weit. In ihren jeweiligen letzten Verfügungen hatte das Paar bestimmt, dass sie zusammen im Familienmausoleum der Familie Pettigrew auf dem Lavender Hill Cemetery in North London bestattet würden. Carlyle hatte sich am Haupttor eine Broschüre eingesteckt. Er zog sie aus seiner Hosentasche und ermittelte seinen derzeitigen Standort auf der kleinen Karte.
Die Familie Pettigrew hatte ein Mausoleum auf einer Parzelle in der Nähe der Friedhofsmitte. Es sah aus wie ein kleines Granithaus – oder ein sehr großes Puppenhaus. Als Carlyle darum herumging, konnte er immer noch die Musik aus der nonkonformistischen Kapelle neben dem Haupttor hören. Ihm kam der Gedanke, dass dies die Art war, wie er auch bestattet werden möchte – über der Erde, mit etwas frischer Luft, ein bisschen Sonnenlicht und einer guten Aussicht.
Als er das Mausoleum zum zweiten Mal umkreiste, erkannte Carlyle nun, dass die Tür zum Mausoleum in Erwartung der beiden Neuankömmlinge aufgeschlossen worden war. Er warf einen Blick in die Runde, um zu überprüfen, ob ihn niemand beobachtete, gab ihr einen kleinen Schubs und trat mit eingezogenem Kopf ein. Vom Tageslicht, das durch ein kleines rundes Fenster an der hinteren Wand hereinfiel, wurde ein schmaler Gang beleuchtet, der so lang war, dass ein Sarg quer in eine der drei Krypten auf jeder Seite geschoben werden konnte. Eine Seite war bereits voll, die andere leer. Jede Krypta war mit einer kleinen Holztafel versehen, auf der ein Name sowie Geburts- und Todesdatum des Verstorbenen standen. Carlyle bückte sich noch ein bisschen tiefer und las die Namen von Tomas und Sylvie Pettigrew, Agathas Eltern, die dort in den Siebzigerjahren bestattet worden waren, neben einem Walter Henry, der am 4. August 1956 gestorben war – vermutlich einer ihrer Großväter. Auf der leeren Seite las er die frisch hinzugefügten Namen Agatha, geborene Pettigrew, und Henry Mills. Ganz hinten war eine Tafel mit verblasster Schrift unter dem Raum, der für William Pettigrew reserviert worden war, den verschollenen Priester. Kein Todesdatum war hinzugefügt worden.
Da es kein lebendes Familienmitglied mehr gab, gab es niemanden, der hätte vorschlagen können, dass Agatha angesichts der Umstände ihres Ablebens beschlossen hätte, lieber nicht neben ihrem Mann und mutmaßlichen Mörder bestattet zu werden. Darüber war Carlyle froh; er war mehr denn je davon überzeugt, dass Henry Mills seine Frau nicht getötet hatte. Diese Theorie kam natürlich in der Station nicht so gut an. Simpson bedrängte ihn wegen seines Abschlussberichts, damit der Fall offiziell als abgeschlossen verbucht und als »gewonnen« abgehakt werden konnte. Der Bericht musste allerdings noch fertiggestellt werden. Simpsons Geduld ging langsam zu Ende, und der Inspector wusste, dass er sie nicht viel länger würde hinhalten können.
Tatsächlich wäre Simpson entsetzt, wenn sie erführe, dass er hier war, anstatt seine Energie dem letzten Fall zu widmen, den sie ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte – eine Reihe von Raubüberfällen auf wohlhabende Zuschauer im Royal Opera House. Carlyle wusste genauso wie Simpson und jeder andere, dass der oder die Täter zum Personal der Oper gehören mussten, aber nur mithilfe von Joe Szyszkowski und zwei Community Support Officers Dutzende von überempfindlichen Angestellten zu vernehmen, würde ihn mehrere Wochen kosten. Carlyle war jedenfalls der Ansicht, dass sich bei den meisten das Verständnis für die Misere der Opfer in Grenzen hielte, wenn sie es sich leisten konnten, dreihundertfünfzig Pfund für eine Eintrittskarte und anschließend weitere zweihundert Pfund oder so für ein Abendessen in dem Amphitheatre Restaurant auszugeben.
Der Inspector trat wieder nach draußen. Wie erwartet hatte es ziemlich heftig zu regnen begonnen, und er lief zu einer etwa zwanzig Meter vom Mausoleum entfernten, weit ausladenden Kiefer, um sich unterzustellen. Von dort aus beobachtete er, wie ein großer, schnittiger mitternachtsblauer Volvo-Leichenwagen, in dem beide Särge standen, langsam auf ihn zurollte. Hinter dem Wagen folgte eine seiner Ansicht nach überraschend große Zahl von Trauernden, die den leicht ansteigenden Weg zu Fuß zurücklegten. Rund eine Minute später hielt der Leichenwagen vor dem Mausoleum an. Als hätte er auf ein Zeichen gewartet, ließ der Regen bis auf ein leichtes Tröpfeln nach. Vier Bestattungshelfer sprangen rasch aus dem Wagen und nahmen ihre Plätze ein, wo sie auf die Ankunft der Trauergäste – vielleicht dreißig Personen – warteten, bevor sie die Hecktür des Volvo öffneten und den ersten Sarg heraushoben.
In diesem Moment dröhnte Justin Timberlake über den Friedhof. Gesichter drehten sich um, und Münder murmelten; dies war vielleicht eine nonkonformistische Zeremonie gewesen, aber eine Fanfare von »LoveStoned« hieß eindeutig, die Sache ein bisschen zu weit zu treiben. Entsetzt angesichts des Aufruhrs, dessen Ursache er war, versuchte der Inspector, das Handy aus der Tasche zu ziehen und zum Schweigen zu bringen. »Verdammte Alice!«, brummte er, als er sich in der Hoffnung hinter den Baum verzog, aus den Augen wäre auch aus dem Sinn. Es war nicht das erste Mal, dass seine Tochter den Klingelton an seinem Handy ohne sein Wissen verändert hatte; er würde die kleine Schnecke umbringen, wenn er nach Hause käme. In seiner Panik drückte er auf die Annahmetaste, anstatt das Gespräch abzulehnen. Seine Erleichterung darüber, dass Justin vom Schauplatz verschwunden war, wurde aufgehoben durch die unangenehme Erkenntnis, dass noch jemand in der Leitung war.
Da Carlyle sich völlig von der Technik überrumpelt fühlte, entfernte er sich noch ein Stück weiter von den missbilligenden Trauergästen, weil er davon ausging, dass sein fortdauernder Bruch der Umgangsformen bei Bestattungen dann nicht so zudringlich wäre. Er presste das Handy ans Ohr. »Hallo?«, flüsterte er.
»Inspector Carlyle? Hier spricht Fiona Singleton aus Fulham.« Die Worte wurden schnell ausgestoßen, als ob sie versuchte, sie schnell herauszubekommen, bevor er sie unterbrechen konnte.
Mist, dachte Carlyle.
»Ich versuche jetzt seit ein paar Tagen, Sie zu erreichen«, fuhr Singleton fort. »Ich habe Ihnen zwei Nachrichten in der Agar Street hinterlassen …«
»Ach ja«, sagte Carlyle leise mit Blick auf die Särge, die inzwischen in das Mausoleum getragen wurden. »Entschuldigen Sie bitte. Wir haben gerade ein paar Probleme in Charing Cross.«
»Ja«, sagte Singleton mitfühlend, »die Anthrax-Geschichte. Das muss eine ziemliche Aufregung verursacht haben.«
»Es ging«, erwiderte Carlyle. Singletons Ton beruhigte ihn ein bisschen; wenigstens machte sie ihm keine Vorwürfe, weil er sie nicht zurückgerufen hatte. »Es war wahrscheinlich alles ziemlich übertrieben, um ehrlich zu sein.« Phillips hatte recht gehabt; die Aufregung hatte ganze vierundzwanzig Stunden gedauert. Man hatte niemanden mit den entsprechenden Symptomen gefunden, und sogar Dave Prentice hatte eine Gesundheitsbescheinigung bekommen. Am nächsten Tag war der Betrieb in der Station wieder normal gelaufen.
»Jedenfalls wissen Sie, warum ich anrufe?«
»Ja«, sagte Carlyle und schaute wieder zum Mausoleum hinüber. Der Regen hatte, zumindest im Augenblick, ganz aufgehört. Agatha und Henry Mills waren bestattet worden, und die Trauergäste begannen bereits aufzubrechen. Falls er irgendwas Brauchbares von diesem Ausflug mitnehmen wollte, musste er sich beeilen. »Hören Sie«, sagte er hastig, »ich bin im Moment auf einem Begräbnis. Kann ich Sie in etwa einer Stunde zurückrufen?«
»Ich denke schon.« Singleton, die sich damit abfand, wieder einmal abgewimmelt zu werden, seufzte.
»Okay, danke.« Carlyle beendete das Gespräch und ging um den Baum herum auf das Mausoleum zu. Die Männer vom Bestattungsinstitut standen geduldig neben ihrem Leichenwagen und warteten darauf, dass die letzten Trauergäste sich auf den Weg zum Friedhofseingang machten. Sie sahen Carlyle vorbeischlendern, sagten aber nichts.
Der Inspector blieb ein paar Schritte hinter ihrem Volvo stehen und schaute den verstreuten Grüppchen hinterher, die den Weg entlanggingen. Wonach hielt er hier Ausschau? Nach einer Frau, die aussah, als könne sie Mitglied der Töchter des Dismas sein? Nach jemandem, der chilenisch aussah? Jemand, der vielleicht Sandra Groves kannte? Weil er noch durch den Anruf von Singleton abgelenkt war, schien er sich nicht auf den vorliegenden Fall konzentrieren zu können. Gedanken an Rosanna Snowdon schossen ihm durch den Kopf. Ihm wurde bewusst, dass in den Zeitungen nichts Substanzielleres über ihren Tod gestanden hatte. Er war überrascht, dass der Stalker noch nicht verhaftet worden war. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er ein schlechtes Gewissen haben sollte, weil er es nicht geschafft hatte, Rosanna zu helfen, als sie ihn um Hilfe bat, aber er kam wieder zu dem Schluss, dass es sowieso nicht viel gab, was er hätte tun können. Und während seine Gedanken umherschweiften, fragte er sich auch, was er zu Fiona Singleton sagen und was er zu Mittag essen sollte – aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Als Carlyle versuchte, seine Niedergeschlagenheit abzuschütteln, blieb sein Blick an einem Paar Frauen hängen – vielleicht Mutter und Tochter –, die dreißig Meter von ihm entfernt dem Ausgang zustrebten. Er hatte sich gerade dazu entschlossen, sie anzusprechen, als ihm bewusst wurde, dass jemand neben ihm angekommen war. Er drehte sich um und stand einem sonnengebräunten, gut aussehenden Mann gegenüber, der einen teuren Regenmantel über einem klassischen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte trug. Der Gesamteindruck war der eines Mannes, der gerade aus einer Armani-Anzeige gehüpft war. Er hielt ihm die Hand hin, also schüttelte Carlyle sie.
»Matias Gori.«
Du hast dir den Bart abrasiert, dachte Carlyle. »Inspector John Carlyle.«
»Ja«, sagte Gori und lächelte, »das weiß ich.«
Das reicht als Einleitung, du selbstgefälliger Penner, dachte Carlyle. »Was machen Sie hier?«, fragte er unvermittelt.
Gori senkte den Blick, hörte aber nicht auf zu lächeln. »Der Botschafter hat mir gesagt, dass Sie mit mir sprechen möchten. Er wollte auch, dass die Botschaft der Familie Mills die letzte Ehre erweist.« Er zeigte auf einen großen Kranz, der gegen den Eingang des Mausoleums gelehnt war. An der Vorderseite war eine Botschaft auf Spanisch befestigt – con más sentido pésame –, die Carlyle nicht verstand, aber er begriff ungefähr, was gemeint war. Er erinnerte sich an die Todesanzeige – Keine Blumen. Bitte schicken Sie eventuelle Spenden an die Catholic Aid Foundation –, sagte aber nichts. Sein Blick fiel auf die wunderbar geputzten Schuhe des Militärattachés.
»Woher wussten Sie, dass ich hier sein würde?«
»Das wusste ich nicht«, sagte Gori und zuckte die Achseln. »Aber da Sie nun mal hier sind, kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wie es so schön heißt.«
Carlyle ließ es zu, dass Gori ihm sacht eine Hand auf den Rücken legte und ihn die Zufahrtsstraße hinunter zum Ausgang führte. Es hatte immer noch nicht wieder angefangen zu regnen, aber er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Nach wenigen Augenblicken kam der Volvo hinter ihnen angerollt, und sie traten von dem Asphalt herunter, um ihn vorbeizulassen. Während sie warteten, öffnete Gori seinen Regenmantel und zog eine Packung Zigaretten aus einer Innentasche. Er bot Carlyle eine an.
»Nein danke.« Der Inspector schüttelte den Kopf.
Gori nahm eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Zähne. Als er in einer anderen Tasche nach einem Feuerzeug suchte, bemerkte Carlyle eine Anstecknadel in Form eines kleinen goldenen Dolchs, die am Aufschlag seines Jacketts befestigt war. Gori zündete sich die Zigarette an und machte einen tiefen Zug, hielt den Rauch ein paar Sekunden in der Lunge, bevor er ihn an Carlyles Kopf vorbei wieder ausstieß. Als er bemerkte, dass Carlyle den kleinen Dolch anstarrte, knöpfte er seinen Regenmantel gelassen, aber schnell wieder zu, bevor er zurück auf den Asphalt trat.
Carlyle wartete geduldig, während Gori noch mal an der Zigarette zog.
»Und warum sind Sie hier?«, fragte der Militärattaché schließlich.
»Nur um ihnen die letzte Ehre zu erweisen«, sagte Carlyle ruhig.
Gori sah ihn zweifelnd an. »Gehen Sie auf die Beerdigungen aller Ihrer Opfer?«
»Es sind nicht meine Opfer.« Carlyle lächelte höflich, um zu zeigen, dass er nicht verärgert war, weil ihm Fragen gestellt wurden. »Und nein, ich gehe nicht immer auf die Beerdigungen, ganz und gar nicht.«
»Aber in diesem Fall schon.«
»Nun ja, Agatha Mills war eine bemerkenswerte Frau.«
Gori nahm die Zigarette aus dem Mund und betrachtete sie gründlich. »Hab ich auch gehört.«
Carlyle wartete darauf, dass Gori näher auf diese Bemerkung einging, aber als klar war, dass nichts mehr kam, änderte er seine Taktik. »Ich dachte, Sie wären in Santiago.«
Gori betrachtete seine Umgebung, zehntausend Kilometer von seiner Heimat entfernt, und seufzte. »Das war ich auch, aber es war nur ein kurzer Besuch von drei Tagen.«
»Das ist ein langer Weg für eine derart kurze Zeit.«
»Ich weiß.« Gori zuckte mit den Achseln. »Es ist eine Schande, aber das gehört zum Beruf.«
»Was ist denn Ihr Beruf?«, fragte Carlyle. »Was treiben Sie so?«
Gori lachte. »Der Botschafter hat mir gesagt, dass Sie beide sich darüber unterhalten haben.« Er brach ab und drohte ihm freundlich mit dem Finger. »Keine Sorge, Inspector, ich bin in nichts Illegales oder Brisantes verwickelt, vielleicht von dem einen oder anderen unbezahlten Strafzettel abgesehen. Und die haben alle Botschaften.«
»So ist es wohl.«
»In Wirklichkeit ist das alles ziemlich langweilig.«
Traue nie einem Mann, der nicht erklären kann – oder will –, womit er seinen Lebensunterhalt verdient, überlegte Carlyle. »Kannten Sie Agatha Mills?«, fragte er.
»Nein.« Gori biss sich auf die Unterlippe. »Warum?«
»Sie wissen von ihrer Verbindung nach Chile?«
»Soweit ich gehört habe, hatte sie einen chilenischen Vater.«
»Und einen Bruder, der dort Priester war.«
Gori sagte nichts, aber in seinen Augen flackerte eindeutig Interesse auf, während er darauf wartete, dass der enervierende Polizist seine Karten aufdeckte.
»Er ist 1973 während des Staatsstreichs gestorben.« Carlyle zeigte auf das Mausoleum. »Sein Name war William Pettigrew. Dort drinnen wartet noch eine Nische auf ihn. Sie suchen immer noch nach der Leiche. Oder haben es getan.«
Goris Augen verengten sich ein wenig. »Dank Ihrer Gespräche mit dem Botschafter wissen wir von den langjährigen Beziehungen der Familie zu unserem Land.«
»Was halten Sie von der ganzen Geschichte?«, wollte Carlyle wissen.
»Wovon?« Gori machte sich langsam wieder auf den Weg zum Ausgang.
»Davon, was mit ihrem Bruder geschehen ist?«
»Ihrem Bruder!« Gori schnaubte. »Ist das nicht, worum es gerade geht, Inspector? Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist.«
»Aber es wird einen Prozess geben«, erwiderte Carlyle fast beiläufig.
»Vielleicht.« Gori absolvierte einen kleinen Quickstepp auf dem Asphalt und gestikulierte mit den Händen vor seinem Gesicht. »Aber wie kann jemand nach all dieser Zeit die Hoffnung haben, die Wahrheit herauszubekommen?«
»Also halten Sie es für Zeitverschwendung?«
Gori begriff, dass er dabei war, zu viel preiszugeben, und brachte seine Körpersprache schnell wieder unter Kontrolle. »Es hat nichts mit mir zu tun, Inspector. Das juristische Prozedere wird seine Zeit in Anspruch nehmen.«
»Aber Sie müssen sich doch eine Meinung gebildet haben?«
Gori seufzte theatralisch. »Ich persönlich bin der Ansicht, dass man immer nach vorn schauen sollte – und nicht zurück.«
Wie äußerst praktisch, dachte Carlyle. »Waren Sie denn darin verwickelt, was damals passiert ist?«
»1973?« Gori runzelte die Stirn. »Ich war kaum zwei Jahre alt.«
»Aber Ihre Familie?«, insistierte Carlyle.
»Eigentlich nicht.«
Eigentlich nicht? Es war eine Ja-oder-Nein-Frage, dachte Carlyle wütend.
»Nicht mehr als jeder andere«, fügte Gori hinzu. »Jedenfalls sind wir, wie ich schon sagte, Menschen von der Art, die in die Zukunft schauen, Inspector. Wir schwelgen nicht in den Wechselfällen einer Vergangenheit, an die wir uns kaum erinnern.«
Sie erreichten das Friedhofstor. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und Carlyle hatte einen langen Marsch die Cedar Road hinunter bis zur nächsten Bushaltestelle vor sich. Gori zog etwas aus seiner Tasche und zielte damit auf den glänzenden grauen Mercedes-Sportwagen, der auf einer gelben Doppellinie mitten auf der Straße geparkt war. Der Wagen gab laute Piepgeräusche von sich, während die Türschlösser aufsprangen. »Ich würde ja anbieten, Sie mitzunehmen, Inspector«, sagte er mit einem flüchtigen Blick auf den bleifarbenen Himmel, »aber ich fahre in die entgegengesetzte Richtung.«
»Kein Problem«, erwiderte Carlyle mit zusammengebissenen Zähnen, als er fühlte, wie ein dicker Regentropfen mitten auf seinem Kopf landete. Er zwang sich zu einem, wie er hoffte, zumindest ansatzweise unverkrampften Grinsen. »Eine letzte Frage noch?«
»Ja?«, sagte Gori, der schnell hinüber zu seinem Wagen ging.
»Kannten Sie eine Frau namens Sandra Groves?«
In einer fließenden Bewegung zog Gori die Fahrertür auf und schlüpfte hinein. Er schaute an Carlyle vorbei, als wünschte er, dass sich die Wolken gänzlich auftun würden. Eine immer schneller werdende Prozession von Regentropfen prallte von der Windschutzscheibe ab, und er leckte sich die Lippen. »Nein«, sagte er schließlich. »Habe ich was verpasst?«
»Nein«, sagte Carlyle, der sich auf einen hastigen Rückzug zum Pförtnerhaus vorbereitete. »Vielen Dank für Ihre Zeit. Und richten Sie dem Botschafter meine Grüße aus.«
Aber Gori hatte die Fahrertür bereits zugeschlagen und legte den Gang ein. Während Carlyle beobachtete, wie der Mercedes losfuhr, fing es stärker an zu regnen. Innerhalb von Sekunden war er bis auf die Haut durchnässt. Er gab die Suche nach einem Zufluchtsort auf und ging langsam die Straße entlang.