Sechsundzwanzig
Das St. Thomas Hospital lag plump und bedrohlich am südlichen Themseufer und bot eine schöne Aussicht auf den Palace of Westminster. Vom dritten Stock schaute Carlyle über den Fluss auf das Parlamentsgebäude. Es war dunkel geworden, und aus fast jedem Fenster fiel heller Lichtschein. Zweifellos war der Laden voll von Parlamentsmitgliedern, die ihre Abrechnungen manipulierten, ihre Praktikantinnen vögelten und sich auf ihre ausgedehnten Sommerferien vorbereiteten, dachte er. Kein Wunder, dass das Land so schlecht regiert wurde – die einzigen offensichtlichen Qualifikationen, die man für das Amt eines Abgeordneten brauchte, waren ein ausgeprägtes Ego und Habsucht.
Was Sandra Groves betraf, so würde sie diese Aussicht noch eine Weile nicht genießen können. Sie lag in einem Bett am Fenster in einem Zimmer, das sie mit zwei anderen Patienten teilte, war mit Drogen vollgepumpt und schlief tief und fest. Vor ein paar Stunden hatte man sie aus der Intensivstation hierher verlegt, und sie war immer noch in einem sehr geschwächten Zustand. Neben einem zertrümmerten Bein und einer gebrochenen Hüfte hatte sie zwei angeknackste Rippen und eine Fraktur am Handgelenk. Obwohl sie nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, machten sich die Ärzte noch Sorgen wegen der Gehirnerschütterung, die sie davongetragen hatte, und wegen innerer Blutungen.
Carlyle stand draußen im Gang und schaute die schlafende Frau an. Sie sah wirklich alles andere als gut aus mit den Schläuchen, die aus ihrer Nase und ihrem linken Arm kamen, und dem Verband um ihren Kopf.
Vor einer Reihe von Apparaten saß ein junger Mann an ihrem Bett, in dem Carlyle Stuart Joyce erkannte, den Freund, der an der Auseinandersetzung im Bus beteiligt gewesen war. Joyce hielt die Hand der jungen Frau, und er saß mit dem Rücken zu Carlyle, als dieser jetzt das Zimmer betrat. Die beiden anderen Patienten, die hofften, er wäre gekommen, um sie zu besuchen, sahen ihn erwartungsvoll an, als er hereinkam, aber er ignorierte sie beflissen.
Als er an das Fußende des Betts trat, schaute der junge Mann endlich zu ihm hoch. Carlyle war überrascht, dass er zusammenzuckte.
»Sie!«, zischte Joyce und warf einen raschen Blick auf den Alarmknopf neben dem Bett. Er erhob sich halb. »Was machen Sie denn hier?«
Carlyle war sich bewusst, dass die Stationsschwester in der Nähe herumhing und ihn beim leisesten Anzeichen von Ärger rauswerfen würde, und hielt eine Hand hoch. »Schnell zwei Dinge vorab«, sagte er ruhig, aber entschieden, wobei er den jungen Mann nicht aus den Augen ließ. »Zunächst einmal habe ich Ihre Freundin nicht überfahren.«
Joyce schaute ihn misstrauisch an, nahm aber wieder Platz.
»Einerseits habe ich keinen Führerschein«, erklärte Carlyle. »Und andererseits habe ich ein völlig ausreichendes Alibi, das die in dem Fall ermittelnden Beamten überprüft haben.« Dass dies stimmte, wusste er, weil seine Frau sich bitter bei ihm darüber beklagt hatte, dass seine »Kollegen« ihren Arbeitstag mächtig durcheinandergebracht hätten. Helen war tatsächlich sehr verärgert gewesen, weil sie der Polizei bei ihren Nachforschungen hatte helfen müssen. Carlyle war unmissverständlich klargemacht worden, dass er bei seiner Rückkehr nach Hause eine ausführliche Erklärung würde abgeben müssen, was zum Teufel da genau los gewesen sei.
»Also«, fuhr er so besänftigend fort, wie es ihm möglich war, »Sie haben von mir nichts zu befürchten.«
Der junge Mann schwieg immer noch. Hinter ihm piepte ein Apparat. Carlyle bedachte das Gerät mit einem fachmännischen Blick. Da er aber die falsche Art Fachmann war, wusste er nicht, ob das Piepen etwas Wichtiges zu bedeuten hatte oder nicht. Falls ja, würde wahrscheinlich ein Spitzenteam medizinischer Fachleute hereingestürmt kommen und irgendwelche Maßnahmen ergreifen. Der Apparat piepte ein letztes Mal und blieb dann still. Die Frau im Bett hatte nicht aufgehört zu atmen, und deshalb nahm Carlyle an, dass alles okay war. Er wandte sich wieder ihrem Freund zu. Da jedoch sein Gedankengang unterbrochen war, hatte er Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern, was er als Zweites hatte sagen wollen. Einen Moment lang hatte er einen Filmriss, dann fügten sich die Teile wieder zusammen. »Und zweitens bin ich hier, um zu helfen, wenn ich kann«, sagte er. »Ich bin bestimmt nicht hier, um Ihnen noch mehr Ärger zu machen.«
»Wie in dem Bus?«, fragte der junge Mann mit weinerlicher Stimme.
Carlyle spürte einen Anflug von Verlegenheit. »Was im Bus passiert ist, ist geschehen und vorbei. Dies hier«, er wies mit dem Kopf auf Sandra Groves, »ist sehr viel ernster.«
Der junge Mann zuckte mit den Achseln. »Ich habe den anderen Polizisten alles erzählt, was ich weiß.«
»Und das ist praktisch nichts.« Carlyle hatte den vorläufigen Bericht gelesen. Groves war auf der Moreland Street in der Nähe der City University von einem gestohlenen Peugeot über den Haufen gefahren worden, der später hinter dem Bahnhof King’s Cross stehen gelassen worden war. Ein Taxi wäre fast mit dem Peugeot zusammengestoßen, aber der Fahrer des Taxis hatte nicht mit angesehen, wie Groves umgefahren worden war, und er konnte auch keine aussagekräftige Beschreibung des Peugeotfahrers beisteuern. Es gab keine weiteren Zeugen. Die einzige verfügbare Aufnahme einer Überwachungskamera zeigte, dass der Wagen beschleunigte, während er auf Groves zufuhr, was als Beweis dafür angesehen werden konnte, dass es sich um keinen Unfall handelte, aber auch darauf war der Fahrer nicht zu erkennen. Der Peugeot war zu einem nahe gelegenen Polizeidepot gebracht worden, wo ihn ein Team von Technikern kurz untersucht hatte. Am Kühlergrill stellten sie Spuren vom Blut der verletzten Frau sicher. Innerhalb des Wagens fanden sich verschiedene Sätze von Fingerabdrücken – die mit keinem in der nationalen Datenbank übereinstimmten.
Dieser junge Mann, der offenbar zur Zeit des Vorfalls allein zu Hause war, hatte kein Alibi, aber für Carlyle schied er als Verdächtiger aus – er schien ein zu großer Schlappschwanz zu sein. Und außerdem war bei einem Mord im Familienkreis selten ein gestohlener Wagen im Spiel; es war so viel einfacher, dem anstößigen Partner einfach die Bratpfanne über den Schädel zu ziehen.
»Ich stelle mir nur die Frage«, fuhr Carlyle fort, »warum ihr das irgendjemand antun wollte.«
»Was kümmert Sie das denn?«
»Ich hab nicht gesagt, dass es mich kümmert.« Carlyle lächelte fies, um den Jungen ein wenig unter Druck zu setzen. Wenn der kleine Weltverbesserer an das faschistische Bullen-Klischee glauben wollte, sollte das Carlyle recht sein. »Es ist nur so … nun ja, es ist nur so, dass der Fall zu meiner Kenntnis gelangt ist.« Als er auf dem Weg zum Krankenhaus darüber nachgedacht hatte, war das die beste Erklärung gewesen, die ihm eingefallen war.
»Was ist mit den anderen Polizisten?«, wollte Joyce wissen.
»Das hier ist immer noch ihr Fall«, erwiderte Carlyle. »Aber ich stelle derzeit in einem anderen Fall Ermittlungen an und frage mich, ob es da vielleicht eine Verbindung gibt.«
»Und was wollen Sie jetzt von mir?«, fragte Joyce, der eindeutig nicht überzeugt war, dass er dieses Gespräch führen sollte.
»Sagen Sie mir, in welche Sachen ihr verwickelt wart?«
»Wir waren in gar nichts verwickelt«, sagte Joyce defensiv.
»Ihr seid politisch engagiert«, fuhr Carlyle ruhig fort. »Ihr habt euch für irgendwas eingesetzt … Für was?« Er dachte an den Verkehrsstau. »Diese Reklame auf der Seite von dem Bus.«
»Religiöse Überzeugung.«
Was ist mit der Überzeugung von Atheisten?, dachte Carlyle, aber er biss sich auf die Zunge. »Stimmt, ich erinnere mich. Das ist in gewisser Weise politisch, nehme ich an.«
»Das ist kein Verbrechen.«
»Das habe ich auch nicht behauptet.« Carlyle musste an sich halten, um nicht aus der Haut zu fahren. »Erzählen Sie mir, welche Dinge wichtig für Sie sind. Erzählen Sie, welche Aktionen Sie unterstützt haben.«
Der junge Mann schaute auf die Frau im Bett. Dann wurde ihm klar, dass er nicht viel anderes zu tun hatte, und er setzte zu einem Monolog an, den er mit Sicherheit schon viele Male gehalten hatte: »Wir lassen uns von der Bibel inspirieren und von der kirchlichen Soziallehre …«
Von welcher Kirche?, fragte sich Carlyle. Das ist das Problem mit den Kirchen; sie glauben alle, sie wären »die« Kirche. Seine Verärgerung wuchs, aber er hielt den Mund.
»Wir wollen Menschen helfen, die arm sind, an den Rand gedrängt oder unterdrückt werden«, führte der Junge weiter aus, »und Unrecht und Armut bekämpfen. Es muss eine globale Gemeinschaft geben, die die Rechte und die Würde jedes Einzelnen respektiert. Der Diskriminierung muss ein Ende gemacht werden.«
Viel Glück, mein Lieber, dachte Carlyle. Er wusste nicht, was das alles damit zu tun hatte, dass die Mätzchen von Clive, dem verstörten Busfahrer, gefilmt wurden und der Verkehrsstau auf der St Giles High Street noch verschlimmert werden musste.
»Die Geschenke der Schöpfung sollten allen zuteilwerden. Um das zu erreichen, brauchen wir soziale Gerechtigkeit, die vom christlichen Glauben und den Wertsetzungen des Evangeliums untermauert wird.«
Carlyle schaffte es nicht, ein Gähnen zu unterdrücken.
»Langweile ich Sie?«, fragte der Junge scharf.
Natürlich langweilst du mich zu Tode, dachte Carlyle. »Nein, nein«, murmelte er und gähnte erneut. »Tut mir leid, es ist nur ein sehr langer Tag gewesen.«
Der Junge schaute ihn zweifelnd an.
Das nächste Gähnen konnte der Inspector unterdrücken – aller guten Dinge waren drei. »Die Kirche – die Aktion gegen Ungerechtigkeit – leisten Sie auch irgendeine Arbeit in Lateinamerika?«
»Natürlich. Wir engagieren uns überall, wo Unrecht und Armut herrschen.«
»Irgendwas speziell in Chile?«
Der Junge musterte ihn. »Warum?«
Beantworte einfach die verdammte Frage. »Tun Sie mir den Gefallen.«
»Vielleicht«, sagte Joyce. »Das müsste ich überprüfen.«
»Diese Organisation, die Sandra erwähnte – die Töchter von irgendwem –, ist das die, mit deren Hilfe sie all das erreichen?«
»Die Töchter des Dismas ist eine der Organisationen, die bei dieser Aktion beteiligt ist, ja«, erwiderte Joyce. »Aber offensichtlich ist sie nur für Frauen gedacht, und deshalb kann ich wirklich nicht sehr viel dazu beitragen.«
»Wie viele Mitglieder hat sie?«
»Eine ganze Menge.«
Das glaub ich dir gern, dachte Carlyle. »Was soll das heißen? Dutzende? Hunderte? Tausende?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
Wahrscheinlich weniger als zehn, dachte Carlyle abschätzig. Er machte weiter. »Was sind die Mitglieder für Frauen?«
»Alle möglichen, junge Aktivistinnen wie Sandra bis hin zu Oldies – Frauen, die sich an Greenham Common erinnern, solche Sachen.«
Oldies, dachte Carlyle. Das würde Helen gefallen. Seine Frau war in den frühen Achtzigerjahren mehrere Male in Greenham, dem Friedenscamp der Frauen in Berkshire, gewesen und hatte gegen die amerikanischen Marschflugkörper protestiert, die dort aufgestellt wurden. Carlyle hatte lange nicht mehr daran gedacht. Die Demonstrationen hatten zu einer Zeit stattgefunden, bevor sie sich kannten, sogar bevor er zur Polizei gegangen war – was auch gar nicht so schlecht war, weil sie sich sonst unter ganz anderen Umständen hätten kennenlernen können. CND – die Campaign for Nuclear Disarmament, die Kampagne für nukleare Abrüstung – war damals eine große Sache gewesen, als die Russen der Feind Nummer eins waren und noch niemand vom muslimischen Fundamentalismus gehört hatte. Carlyle wusste nicht mal, ob es die CND noch gab.
Hatten diese Demonstranten bei all ihrem zeitlichen und physischen Aufwand, bei all ihrem Engagement irgendetwas Nennenswertes erreicht? Nicht, soweit er sich erinnern konnte. Die Situation war jetzt keinen Deut besser als damals. Das Land war pleite, und trotzdem gaben die Politiker weiterhin Milliarden für unglaublich teure Waffensysteme aus. Waren sie immer noch auf die Russen gerichtet? Wer wusste das?
Er überlegte, ob er sich traute, Helen danach zu fragen. Im Rückblick waren ihre Gefühle so gemischt wie die der meisten Menschen mittleren Alters, wenn es um ihren jugendlichen Idealismus ging. Sich an den Händen fassen und Lieder singen – es kam einem jetzt alles so naiv vor; es war halt eins von den Dingen, die man tat, wenn man noch nicht richtig verstand, wie die Welt funktionierte. Trotzdem erfüllte ihn die Vorstellung, dass Menschen die gleichen Schlachten fast dreißig Jahre später schlugen, mit Trauer. Er sah den jungen Mann direkt an. »Haben Sie mal von einer Frau namens Agatha Mills gehört?«
Joyce schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, nein.«
Carlyle musterte ihn eingehend, weil er nicht wusste, ob der Junge die Wahrheit sagte. Sandra Groves stieß einen leisen Seufzer aus, veränderte ihre Lage im Bett und begann, leise zu schnarchen.
Joyce schaute sie an, bis er sich überzeugt hatte, dass sie immer noch fest schlief. »Ich bin normalerweise nur mit Sandra mitgekommen, wenn sie allein war«, berichtete er Carlyle, »wie an dem Tag in dem Bus. Wenn sie mit ihren ›Schwestern‹ unterwegs war, mochte sie nicht, dass ich dabei war. Die Töchter des Dismas sollte eine Organisation sein, die Frauen vorbehalten bleibt.«
»Ach ja«, murmelte Carlyle vor sich hin. »Die Schwesternschaft in Aktion.«
Joyce schaute ihn komisch an. »Was?«
»Nichts«, sagte er rasch. »Wo würde ich eine Mitgliederliste finden?«
»Nirgendwo«, sagte Joyce. »Wir sind gesetzestreue Bürger. Wir müssen uns nicht von der Polizei schikanieren lassen.«
Schikane?, dachte Carlyle müde. Du hast ja von Tuten und Blasen keine Ahnung, du Mittelschichtstropf. »Okay«, sagte er, »falls ich rauskriegen wollte, ob meine Mrs Mills zu Sandras Gruppe gehört hat, wie würde ich das am besten machen?«
»Falls wir das nachprüfen, und sie war Mitglied, müsste sie damit einverstanden sein, dass wir die Information weitergeben.«
»Sie wird Ihnen ihr Einverständnis nicht geben können.«
»Warum nicht?«
»Sie ist tot.«
Joyce sah verwirrt aus. »Tot?«
»Sie wurde ermordet«, sagte Carlyle, ohne weitere Details beizusteuern.
»Ähm.« Joyce sah aus, als wäre ihm ein bisschen schlecht.
»Deshalb frage ich mich«, fuhr Carlyle fort, »ob es irgendeine Verbindung zwischen Agatha Mills und Sandra hier gibt. Vielleicht hat der Mann, der Mrs Mills umgebracht hat, auch versucht, Sandra umzubringen. Falls es tatsächlich eine Verbindung gibt, ist das sehr wichtig für unsere Ermittlungen. Es würde uns helfen, ihn aufzuspüren …«
Er fügte nicht hinzu: … bevor er es noch einmal versucht, weil er den jungen Mann nicht noch mehr auf die Palme bringen wollte.
Joyce saß da und dachte darüber nach. Als die Farbe in seine Wangen zurückkehrte, zog er ein Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans und begann, eine SMS zu schreiben. »Ich will mal sehen, was ich rausfinden kann«, sagte er, wobei er sich aufs Simsen konzentrierte.
»Danke«, sagte Carlyle schlapp. Sein Magen knurrte, und er merkte auf einmal, dass er mächtig Hunger hatte. Ihm fiel ein, dass er im Erdgeschoss eine Cafeteria gesehen hatte, als er hereinkam. Mit etwas Glück wäre sie noch offen. Er wartete, bis Joyce seine Nachricht abgeschickt hatte. »Ich gehe mir einen Kaffee und etwas zum Essen holen. Kann ich Ihnen irgendwas mitbringen?«
Der Junge grunzte. Carlyle interpretierte das als Ja – oder war es vielleicht ein Nein? – und machte sich auf den Weg.
Als er im Erdgeschoss ankam, war das Café geschlossen. Zwangsläufig beklagte sich sein Magen lautstark. Carlyle fluchte halblaut, was ihm einen missbilligenden Blick einer alten Frau eintrug, die mithilfe eines Rollators vorbeischlurfte. Einen Moment lang stand er da und konnte sich nicht entscheiden, was er als Nächstes tun sollte. Dann schritt er zum Haupteingang hinaus und nahm die Westminster Bridge Road auf der Suche nach Proviant.
Ein schmuddeliges Esslokal, das Taxifahrer und andere Angestellte der Schattenwirtschaft beköstigte, gestattete dem Inspector, mit einem Spiegelei-Brötchen, einem Marmelade-Donut und einem doppelten Espresso frische Energie zu tanken. Eine halbe Stunde später schlenderte er wieder ins Krankenhaus, einen kleinen Milchkaffee für Joyce in der Hand. Nachdem er weitere zwei Minuten auf den Fahrstuhl gewartet hatte, kam er auf dem dritten Stock an. Als er Sandra Groves’ Zimmer betrat, sah er, dass Joyce vornüber auf dem Bett zusammengesackt war. Er trat näher und konnte ein kleines Loch erkennen, wo der Junge in den Hinterkopf geschossen worden war. Der Gestank wies darauf hin, dass es zu einer Darmentleerung gekommen war, und zu seinen Füßen hatte sich eine Lache mit Urin gebildet.
Der Inspector stöhnte auf. »Herr im Himmel, was für eine verfluchte Scheiße.« Da seine Knie weich wurden, musste er sich zwingen, näher ans Bett zu treten. Während er darauf achtete, nichts durcheinanderzubringen, blickte er in das zerschossene Gesicht von Sandra Groves, das auf einem Kissen voll schwarzer Blutflecken lag. Von mehreren Kugeln getroffen, war sie im Grunde nicht mehr als Mensch erkennbar. Carlyles Blick folgte den Blutspritzern und blieb an einem Klumpen aus Haut und Haaren hängen, der an der Wand über dem Bett klebte. Ihm war schlecht.
»Es tut mir leid«, murmelte er, mehr um seinetwillen als aus einem andern Grund. Er holte ein paar Mal tief Luft, schluckte die säuerliche Flüssigkeit in seiner Kehle hinunter und wartete darauf, dass sein Brechreiz nachließ. Er musterte schnell den restlichen Tatort. Die Apparate, an die Groves immer noch angeschlossen war, standen still neben ihrem Bett, und auf den Bildschirmen war nichts zu sehen. Der Mörder war so vorsichtig gewesen, sie abzustellen, damit sie keine Alarmtöne von sich gaben, wenn Sandras lebenswichtige Organe ihre Funktion einstellten. Eine kleine Selbstladepistole lag neben Joyce’ Kopf auf dem Bett. Carlyle holte sein Handy heraus und rief den wachhabenden Sergeant in Charing Cross an. Diese Angelegenheit würde ihnen nicht zugewiesen, aber wenn Carlyle die Ermittlungen nicht von vornherein in die richtigen Bahnen lenkte, war ihm klar, dass er einen noch größeren Teil der kommenden Nacht hier verbringen würde, als ihm ohnehin bevorstand.
Weil er wahrnahm, dass sich hinter ihm etwas bewegte, wirbelte er herum und sah sich der Stationsschwester gegenüber.
»Was in Gottes Namen …?« Sie versuchte an ihm vorbeizuschauen, woraufhin er sich ein Stück zur Seite schob, um ihr mit diesem halbherzigen Versuch die Sicht zu blockieren.
Abgelenkt wurden sie von dieser Pattsituation durch eine Bewegung in dem Bett, das neben der Tür stand. Ein Kopf tauchte unter der Bettdecke auf, gefolgt von einem knochigen Finger, der auf den Inspector zeigte. »Er war es! Er war es!«, schrie die Patientin durch ihren medikamenteninduzierten Nebel. »Er hat das getan!«
Die Schwester schaute Carlyle argwöhnisch an; sie wusste nicht, ob sie an Ort und Stelle verharren oder weglaufen und Hilfe holen sollte. Sie wippte auf den Fußballen und machte den Eindruck, gleich davonstürzen zu wollen, aber die glasigen, unkoordinierten Augen seiner Anklägerin ließen sie zögern. Die Frau war derart neben der Spur, dass es erstaunlich war, wie sie überhaupt etwas von den Schüssen wahrgenommen haben wollte. Carlyle hob eine Hand hoch und sprach präzise Anweisungen in sein Handy, laut genug, damit die Stationsschwester mitbekam, dass er die Situation unter Kontrolle hatte.
Er beendete das Gespräch und wandte den Blick nicht von der Schwester ab. Sie war eine stämmige, nüchtern wirkende Blondine und vielleicht zehn Jahre jünger als er selbst. Keine schlecht aussehende Frau, aber man sah ihr deutlich an, dass sie auf dem besten Wege war, von dem täglichen Trott langsam zerdrückt zu werden. Auf Aufregungen wie diese hier konnte sie verzichten. »Die Polizei …«, begann Carlyle. »In ein paar Minuten werden noch mehr Polizisten zusammen mit einem Team von Technikern und einem Gerichtsmediziner hier sein – die übliche Bande.«
»Ja«, erwiderte die Schwester; ihre Stimme schwankte nur minimal.
»Sorgen Sie dafür, dass sie direkt in dieses Zimmer gebracht werden.«
Die Frau nickte.
»Ich möchte nicht«, fuhr Carlyle fort, »dass in der Zwischenzeit irgendjemand draußen auf dem Flur vorbeigeht.«
»Ich verstehe«, sagte die Schwester, die jetzt merklich gelassener war. Sie wandte sich halb zum Gehen und blieb wieder stehen. »Was ist mit den beiden anderen?« Sie deutete auf die Betten, die noch im Zimmer standen. Die Frau, die mit dem Finger auf Carlyle gezeigt hatte, war wieder unter ihrer Bettdecke verschwunden, und die andere Patientin schnarchte so glücklich vor sich hin wie zum Zeitpunkt seiner Ankunft. Entweder hatte sie einen ausnehmend gesunden Schlaf, überlegte Carlyle, oder sie bekam ein wirklich ausgezeichnetes Schlafmittel verabreicht.
Er traf eine spontane Entscheidung. »Lassen Sie sie im Moment, wo sie sind. Wir müssen mit ihnen beiden reden. Aber ich werde dafür sorgen, dass sie so bald wie möglich verlegt werden können.«
»Okay.« Sie drehte sich um und verließ schnell das Zimmer.
Als sie gegangen war, wandte sich Carlyle von dem Tatort ab und nahm den Deckel von Joyce’ Kaffee ab. Vorsichtig trank er einen Schluck. Er war höchstens noch lauwarm, aber er war stark und schmeckte gut. Er würde ihn bestimmt nicht wegwerfen. »Spare in der Zeit, dann hast du in der Not«, sagte er zu niemand im Besonderen. »Schließlich wird dies eine lange Nacht werden.«
Im Endeffekt verbrachte Carlyle fast vier Stunden im Krankenhausflur, bevor er nach Hause gehen durfte. Seine neuen Kumpel Nick Chan und Greg Brown waren erst nach zwei Stunden auf der Bildfläche erschienen, und dann hatte es noch eine Stunde gedauert, bis sie bereit waren, mit ihm zu sprechen. Soweit es Carlyle anging, war das okay. Bei dieser Gelegenheit würde er die professionelle Höflichkeit und Hilfsbereitschaft in Person sein müssen. Zunächst einmal war er in einem gewissen Erklärungsnotstand. Chan und Brown konnten ihn ganz schön auflaufen lassen, falls sie wollten. Er konnte an ihr Wohlwollen appellieren, aber Carlyle wusste, dass das keine gute Idee war. Andernfalls konnte er sie nur in seine Überlegungen einweihen, was eine mögliche Verbindung mit der Ermordung von Agatha Mills betraf, und abwarten, ob ihre Vorstellungskraft sich daran entzündete.
»Klingt in meinen Ohren nach einem ziemlichen Blödsinn«, sagte Brown unwillig, nachdem er ihnen seine Sicht der Dinge erläutert hatte.
Carlyle schaute Chan an.
Der schüttelte den Kopf. »›Blödsinn‹ ist die höfliche Art, es zu formulieren.«
Carlyle sah ein, wie angemessen ihre Reaktion war, und zuckte mit den Achseln. »Der verstorbene Mr Joyce hier hat irgendjemandem eine SMS geschickt, bevor ich in das Café ging, weil er überprüfen wollte, ob Mills zu derselben Gruppe gehörte wie seine Freundin. Hat er eine Antwort bekommen?«
»Ich gehe mal nachsehen.« Brown machte sich auf den Weg.
Chan schaute ihm nach und wandte sich an Carlyle. »Die Pistole ist ein israelisches Fabrikat, die Jericho 941, ungefähr fünfzehn Jahre alt. Nicht sehr verbreitet in diesem Land.«
»Überhaupt nicht sehr verbreitet«, stimmte Carlyle zu.
Brown erschien wieder. »Keine Nachrichten für Mr Joyce am heutigen Abend, aber wir können versuchen, den Empfänger der SMS festzustellen, die er verschickt hat.«
»Gut.« Chan wandte sich Carlyle zu. »Inspector«, sagte er, »Sie können jetzt nach Hause gehen. Wir melden uns bei Ihnen.«
»Schön«, sagte Carlyle, als er zu den Fahrstühlen ging. »Sie wissen ja, wo ich zu finden bin.«