Vierundzwanzig
Nach weiteren zwanzig Minuten verabschiedeten sich Chan und Brown. Carlyle hatte erklärt, dass er erstens nicht Auto fahren und zweitens seine Frau ihm ein Alibi für die Zeit geben könne, zu der Sandra Groves von einem Auto angefahren worden sei. Die beiden schienen sich auf keine Weise sonderlich angesprochen zu fühlen von dem, was er zu sagen hatte, und ließen ihn, nachdem sie den üblichen Text gemurmelt hatten von wegen, sie kämen nach Anstellen weiterer Nachforschungen zurück, allein im Besprechungszimmer sitzen, wo er sich fragte, was er als Nächstes tun solle.
Als Erstes checkte er seine Mailbox. Wie erwartet war es Dominic Silver: »John, ich bin’s. Ich dachte, du wolltest ganz bestimmt rangehen? Egal, ruf mich jedenfalls nicht zurück. Heute Nachmittag hab ich viel zu tun. Ich versuch’s heute Abend noch mal.«
Carlyle brauchte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, warum er Dominic überhaupt angerufen hatte, obwohl es kaum eine Stunde her war. Als er sich erinnerte, kam es ihm nicht mehr so wichtig vor. Er stand auf, warf die leere Saftflasche in einen Mülleimer in einer Ecke des Zimmers. Dann faltete er die Zeitung auseinander und legte sie auf den Tisch. Als er die ganze Schlagzeile sah, verzog er das Gesicht.
Fernsehmoderatorin tot vor ihrer Wohnung
aufgefunden
Mit einem Gefühl von Übelkeit las er weiter.
Die führende Londoner Fernsehmoderatorin Rosanna Snowdon wurde heute Morgen tot vor ihrer Wohnung in Fulham aufgefunden. Sie war die Treppe hinuntergefallen, und man nimmt an, dass sie sich den Hals gebrochen und außerdem Verletzungen an Armen und am Kopf davongetragen hat. Die Polizei weigerte sich, eine Stellungnahme abzugeben, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann laut unseren Gewährsleuten ein Verbrechen nicht ausgeschlossen werden.
Unter einem Foto von Reith Mansions, dem Apartmentblock, in dem Rosanna gewohnt hatte, bestand der Rest des Artikels aus Füllmaterial über ihre Karriere und ihr Privatleben. Als Carlyle an ihr Treffen denken musste, las er den Artikel ein zweites Mal. Falls sie die Treppe runtergefallen war, handelte es sich vielleicht um einen Unfall. Aber wenn die Polizei etwas anderes für möglich hielt, musste sie schon ernsthafte Zweifel haben.
Der Stalker, über den sich Rosanna solche Sorgen gemacht hatte, wurde in dem Blatt nicht erwähnt. Carlyle versuchte vergeblich, sich an den Namen des Mannes zu erinnern. Vielleicht hatte er etwas damit zu tun? Er legte die Zeitung weg.
Hätte er ihre Sorgen ernster nehmen sollen?
Hätte er das hier verhindern können?
Wie üblich gab es eine Menge Fragen und keine Antworten.
»John«, flüsterte er sich zu, als er das Zimmer verließ, »das sieht wirklich nicht so aus, als würde es ein toller Tag.«
Carlyle kam zu dem Schluss, dass es unter den gegebenen Umständen nicht unklug wäre, wenn er sich bedeckt hielte, zumindest eine Zeit lang. Das hieß, dass er für den Rest des Nachmittags sein Diensthandy abschaltete und die Station verließ. Er hatte sich überlegt, dass er sich am besten zu dem einzigen Ort aufmachte, wo er mit Sicherheit nicht gestört würde. Also schnappte er sich die Schlüssel zu der Wohnung der Mills von seinem Schreibtisch und verließ die Station.
Als er das Apartment jedoch betrat, merkte er, dass es eine schlechte Idee gewesen war zurückzukommen. Die Wohnung war seit vierzehn Tagen nicht gelüftet worden. Die Hitze war drückend, und die Luft war zum Schneiden. Carlyle schloss die Eingangstür hinter sich und ging schnell durch den Flur in die Küche. Er stellte fest, dass seit den ersten Ermittlungen nichts verändert worden war. Ein Stuhl lag umgekippt neben dem Küchentisch, und das Blut von Agatha Mills verkrustete immer noch den Boden. Carlyle fragte sich, wie lange die Wohnung wohl in diesem Zustand bleiben würde. Aus juristischen Gründen konnte es Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis sie verkauft würde und andere Leute einziehen könnten. Ihm kam der Gedanke, dass diese Wohnung für Helen, Alice und ihn wie geschaffen wäre, aber sie war eindeutig mehrere Nummern zu groß für sie – wahrscheinlich rund eine Million Nummern. Er fragte sich, wem sie jetzt eigentlich gehörte – ob das Ehepaar Mills sie irgendwem in ihrem Testament vermacht hatten oder ob sie einfach an die Regierung zurückfiele, damit sie dazu beitragen könne, die Staatsverschuldung zu reduzieren. Gott weiß, die Staatsfinanzen brauchten alle Hilfe, die sie kriegen konnten.
Er ging zum Küchenfenster hinüber, öffnete den Riegel und trat auf die Feuertreppe hinaus, wo er am Morgen nach Agatha Mills’ Tod Sylvester Bassett beim Rauchen einer Zigarette angetroffen hatte. Carlyle setzte sich auf den kleinen Absatz unter der Fensterbank, legte den Kopf gegen das Metallgeländer der Feuertreppe und schloss die Augen. In der kühlen Stille verbrachte er etwa eine Minute damit, sich die Ereignisse des Tages wieder zu vergegenwärtigen. Ohne zu bestimmten Ergebnissen zu gelangen, griff er in die Innentasche seines Jacketts und zog eine Liste der chilenischen Gäste heraus, die vor einer Woche zum Empfang des Bürgermeisters in der City Hall gekommen waren.
Wie versprochen war die Liste am Tag nach dem Empfang aus dem Büro des Botschafters bei ihm eingetroffen. Zwei Tage danach hatte Carlyle sie in seine Jackentasche gesteckt und dort im Grunde vergessen. Da er im Augenblick nichts Besseres zu tun hatte, begann er, die Reihen von Namen und Organisationen zu überfliegen, die ihm alle nichts sagten. Nach einer kurzen Weile wurden seine Augen glasig. Er steckte die Liste wieder ein und saß einfach da und starrte in die dunklen Fenster der leeren Wohnungen auf der gegenüberliegenden Seite.
Nach einer Weile musste er an Rosanna Snowdon denken. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten: Hatte er sie im Stich gelassen? Er hatte wirklich keinen Schimmer. War er für ihren Tod verantwortlich? Mit Sicherheit nicht. Der Scheißkerl, der sie umgebracht hatte, war für ihren Tod verantwortlich. Er hatte lange zuvor begriffen, dass er nicht zu der Sorte Mann gehörte, die anderer Leute Schuld anprobierten.
Längeres Nachdenken blieb ihm erspart, weil das Handy in der Brusttasche seines Jacketts vibrierte. Er runzelte die Stirn, weil er überzeugt war, es ausgeschaltet zu haben, bevor ihm klar wurde, dass es sich bei dem schnurrenden Gerät um sein privates Handy handelte. Missmutig überprüfte er die Nummer des Anrufers – Dominic Silver.
»Hallo?«, schnarrte er.
»Du weißt also doch noch, wie man ans Telefon geht«, sagte Dominic und gluckste leise.
»Ich dachte, du hättest so viel zu tun«, sagte Carlyle, der an die letzte Nachricht Dominics denken musste.
»Ich hatte … und habe noch immer viel zu tun, aber du klangst beunruhigt.«
»Das bin ich auch.«
»Das dachte ich mir«, sagte Dominic, der eine geradezu unvernünftige Vernünftigkeit verströmte. »Wie kann ich also behilflich sein?«
Carlyle brauchte einen Moment, um sich auf das fragliche Problem zu besinnen. »Michael Hagger.«
»Ja«, sagte Dominic fröhlich, »was ist mit ihm?«
»Er hat mich besucht.«
»Hat er das wirklich gemacht?« Dominics Tonfall blieb entschieden fröhlich, aber Carlyle konnte jetzt eine gewisse Vorsicht darunter heraushören. »Hat er den Jungen mitgebracht?«
»Nein, aber er hat gesagt, dass es ihm gut geht.«
»Das ist doch wenigstens etwas, nehme ich an.«
»Hagger hat auch gesagt, dass er ihn bald zurückbringen würde.«
Dazu sagte Dominic nichts.
»Und er hat auch gesagt«, fuhr Carlyle fort, »dass ich dir sagen soll, du solltest ihn in Ruhe lassen.«
Dominic lachte. »Und was hast du gesagt?«
»Was konnte ich denn sagen?«, erwiderte Carlyle mit mehr als nur einem Anflug von Verärgerung in der Stimme. »Ich hatte doch keinen blassen Schimmer, wovon er redete.«
»Wo ist er jetzt?«
»Woher soll ich das wissen?«, blaffte Carlyle.
»Du hast ihn wieder gehen lassen?«
»Dominic, was hätte ich machen sollen?«, fragte Carlyle. »Wir wissen nicht, wo der Junge ist, oder auch nur, warum er festgehalten wird.« Womit er den Umstand überspielte, dass Hagger ihn locker hätte niederschlagen können, falls er dämlich genug gewesen wäre, ihn verhaften zu wollen.
»Du alter Pragmatiker«, scherzte Silver. »Dann wollen wir mal hoffen, niemand bekommt raus, dass du den meistgesuchten Mann Londons einfach so hast entkommen lassen.«
»Wird kaum passieren«, murmelte Carlyle.
»Nein, aber du kannst verstehen, wie es aussehen würde …«
Carlyle spürte einen Anflug von Zorn. »Willst du mir drohen?«
»Nein, nein«, sagte Dominic schnell. »Wie kommst du denn darauf?«
Carlyle grunzte.
»Sei nicht blöd«, fuhr Dominic fort. »Ich will dir nur den Rat geben, dass du damit hausieren gehst.«
»Ich bin doch nicht bescheuert.«
»Gut so.«
»Dann lass mal hören«, sagte Carlyle, »was hier eigentlich los ist.« Die Antwort ließ auf sich warten, und der Inspector konnte fast das Summen hören, das vom Gehirn seines Freundes ausging, während er die Informationen redigierte, die er gleich preisgeben würde.
Schließlich sprach Dominic: »Wie du weißt, hat Hagger manchmal für Jerome Sullivan gearbeitet.«
»Für wen?«
»Du weißt schon – der Typ auf dem Video, das ich dir gezeigt habe; das Genie, das sich erschossen hat und vom Dach seines Hauses gefallen ist. Der Film auf dem Handy, wo du Hagger im Hintergrund entdeckt hast.«
»Ja, ja«, sagte Carlyle, dem die Richtung nicht gefiel, die das Gespräch einschlug.
»Nun ja, es hat den Anschein, als ob Hagger und Jeromes anderer schwachköpfiger Kumpel Eric Christian versucht haben, seit dem Abgang ihres glorreichen Führers den Betrieb am Laufen zu halten. Aber sie sind eindeutig damit überfordert. Einer meiner … Partner hat mich gebeten, die Sache zu regeln.«
»Gebeten?«
»Angewiesen.«
Carlyle seufzte. Normalerweise wollte er so wenig wie möglich über die Funktionsweise von Dominic Silvers Berufsleben erfahren, aber hier musste er wissen, in welche Machenschaften er verwickelt wurde. »Ich dachte, solche Sachen machst du nicht«, bemerkte er.
»Mache ich auch nicht«, sagte Dominic. »Ich versuche nur, eine befriedigende Lösung für dieses Chaos in die Wege zu leiten.«
»Jake inklusive?«
»Jake inklusive.«
Carlyle trat von einem Fuß auf den andern. »Soll das heißen, dass noch mehr Leute von Häusern runterfallen?«
»Hoffentlich nicht«, war alles, was Dominic dazu sagen wollte.
»Und an welcher Stelle passt der Junge in dieses Chaos rein?«, fragte Carlyle.
»Hagger hat ihn als Sicherheit für eine Verbindlichkeit aufgeboten, die Jerome eingegangen ist.«
»Als Sicherheit?« Carlyle schnaubte. »Wie viel kann der Junge wert sein?«
Wieder entstand eine Pause. »Eine ganze Menge, wenn du die falschen Leute kennst.«
Carlyle spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. »Wie viel?«
»Keine Ahnung.«
»Wer ist der Gläubiger?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Dann spekulier doch mal.«
»Nein, das tu ich nicht. Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.«
»Wie lange haben wir Zeit?«
»Keine Ahnung.«
»Was passiert, wenn Hagger das Geld nicht auftreibt?«
»Dann wird der Junge versteigert«, sagte Dominic nüchtern, als wäre das sonnenklar.
»Komm schon«, insistierte Carlyle, »red nicht solchen Schwachsinn.«
»Ich rede keinen Schwachsinn«, konterte Dominic. »Ich sage dir nur, wie es ist. Erschieß nicht den verdammten Boten. Ich versuche lediglich, dir zu helfen.«
»Herr im Himmel«, sagte Carlyle müde. »Was treibst du nur, dass du in eine solche Scheiße hineingezogen wirst?«
»Ich versuche, sie aus der Welt zu schaffen«, sagte Dominic gereizt.
Carlyle hustete einen Schleimpfropfen hoch und spuckte ihn von der Feuertreppe aus in die Gasse hinunter. Sein Mund war trocken, und er fühlte sich schauderhaft. Was für ein degenerierter Dreckskerl würde sein eigenes Kind verkaufen? Von Dominic nicht zu reden: Wie schaffte er es, in eine solche Situation verwickelt zu werden?
»John, ich muss jetzt los …«
»Okay.« Carlyle riss sich zusammen. »Alles, was ich will, ist der Junge. Was du auch tun musst, um ihn zurückzubekommen, ich werde mir alle Mühe geben, dafür zu sorgen, dass etwaige strafrechtliche Konsequenzen ausgeräumt werden.«
»Das weiß ich zu schätzen«, sagte Dominic.
»Sorg einfach dafür, dass er unbeschädigt zurückkommt, verdammt noch mal …«
»Keine Angst, ich kümmere mich darum, dass Jake nichts zustößt, selbst wenn ich für ihn aus meiner eigenen Tasche zahlen muss.«
»Da tust du gut dran.«
»Wofür hältst du mich eigentlich?«
Du erwartest nicht wirklich, dass ich dir diese Frage beantworte, oder?, dachte Carlyle. »Wo ist er jetzt?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Kannst du nicht oder willst du nicht?«
»Ich kann nicht, weil ich keinen Schimmer habe. Hör mal, abwarten und Tee trinken ist die Devise – diese Sache ist bald geklärt.«
»Hab ich eine andere Wahl?«, sagte Carlyle verärgert.
»Keine Angst, ich melde mich bald wieder. Ich werde dafür sorgen, dass du den Tipp bekommst und nicht dieser Idiot Cutler.«
Mit dieser sanften Ermahnung Carlyles, dass er nicht der einzige Polizist in der Stadt sei, beendete Dominic das Gespräch. Der Inspector steckte das Handy wieder in die Tasche und kratzte sich am Ohr. Er ging ans Fenster zurück und versuchte, es wieder zu öffnen, aber es steckte fest. Fluchend stieß er mit beiden Händen gleichzeitig gegen den Rahmen, aber auch das war nicht von Erfolg gekrönt. Als er hineinlugte, konnte er sehen, dass der Riegel offenbar von selbst wieder zugeschnappt war, nachdem er auf die Treppe hinausgetreten war. Sein erster Gedanke war, das Fenster einzuschlagen, doch dann wurde ihm klar, dass er einfach die Feuertreppe nach unten gehen und so die Straße erreichen konnte. Er dachte darüber einen Augenblick nach. Selbst wenn das Fenster verschlossen gewesen war, als sie Agatha Mills vorfanden – und das würde er mit Bassett klären müssen –, hätte trotzdem jemand die Wohnung und das Gebäude auf die gleiche Weise verlassen können. Vielleicht hätte er auch auf diese Weise hereinkommen können. Während diese Möglichkeiten in seinem Kopf herumspukten, machte Carlyle sich vorsichtig an den Abstieg in die Gasse.
Als Carlyle das Ende der Feuertreppe erreichte, öffnete er ein Metalltor und trat hinaus in einen kurzen, mit Abfalltonnen und Müllsäcken angefüllten Durchgang, der auf die Great Russell Street führte. Mit dem vertrauten Gestank von faulenden Lebensmitteln und Urin in der Nase beschleunigte er seinen Schritt und hielt den Atem an. Er war noch ungefähr drei Meter von der Straße entfernt, als sich ein großer schwarzer Sack vor ihm zu bewegen begann. Da er annahm, es handele sich um eine Ratte, ging Carlyle weiter. Allerdings war an ein Weitergehen nicht mehr zu denken, als der Müllsack sich vor ihm erhob, gähnte und einen gigantischen Rülpser ausstieß. Carlyle konnte nicht länger den Atem anhalten, sodass er gezwungen war, ein Gemisch aus Curry, Eiern und Special Brew einzuatmen, von dem ihm die Augen tränten. Er machte einen Schritt zurück und sah zu, wie sich der Penner endgültig wach schüttelte. Der Kerl war für den Winter angezogen und trug mindestens drei Schichten Kleidung unter einem schweren schwarzen Wollmantel. Er trug eine graue Hose, die so aussah, als wäre sie in diesem Jahrhundert noch nicht gereinigt worden, und ziemlich teuer aussehende, aber stark ausgetretene braune Schuhe. Eine blaue Chelsea-Mütze rundete den Gesamteindruck auf passende Weise ab.
Mit Verspätung bemerkte der Mann, dass er nicht allein zu Hause war, und musterte Carlyle von oben bis unten. Er verbrachte ein paar Augenblicke damit, sich einen Reim auf den Polizisten zu machen, wobei seine Augen immer größer wurden, als hätte er noch nie einen anderen Menschen gesehen. Schließlich öffnete er den Mund. Und ein paar Sekunden später krabbelten ein paar Worte hinaus.
»Hamse Geld dabei?«
Carlyle brauchte einen Moment, bis er begriff, wer da in Überlebensgröße und übler riechend denn je vor ihm stand. »Dog?«, sagte er verwirrt. »Ich dachte, Sie wären tot.«
Walter Poonoosamy dachte eine Weile nach, während er sich in der Gasse umschaute. »Vielleicht bin ich es auch«, sagte er und schniefte.
Indem er sich einen Schritt von dem Abfallhaufen entfernte, aus dem er aufgetaucht war, blockierte er Carlyles Fluchtweg aus der Gasse noch mehr. Der Geruch wurde eher schlimmer, und der Inspector wollte sich unbedingt auf den Weg machen. »Nun ja«, murmelte er mit so viel falscher Jovialität, wie er aufbringen konnte, »es ist schön zu sehen, dass Sie noch unter uns sind. Ich bin überzeugt, dass wir Sie bald wieder in der Station sehen werden.«
Der Stadtstreicher grunzte und schaute nach unten auf den Müllhaufen, dem er entstiegen war. Vorsichtig stieß er mit seinem Fuß gegen einen der Säcke, falls es da noch einen Leckerbissen gäbe, den er übersehen hatte. Carlyle interpretierte das als Zeichen für seinen Abgang und schob sich an ihm vorbei in Richtung Straße.
»Entschuldigen Sie, bitte?«
Kaum hatte der Inspector die Gasse hinter sich gelassen, hielten ihm zwei chinesische Touristen eine Straßenkarte vor die Nase und fragten ihn sehr höflich – und in jener Art von perfektem Englisch, die in England niemand seit Menschengedenken mehr benutzte – nach dem Weg zum Britischen Museum. Er widerstand der Versuchung, sie in eine völlig falsche Richtung zu schicken, zeigte auf das wuchtige Gebäude direkt auf der anderen Straßenseite und rang sich ein Lächeln ab. Das Paar bedankte sich fröhlich, verließ den Bürgersteig und lief fast direkt vor einen überdimensionierten Reisebus. Nachdem die beiden es schließlich heil über die Straße geschafft hatten, beobachtete Carlyle, wie sie im Folgenden noch die Pflastermaler und die Hotdog-Verkäufer links liegen ließen und das Tor des Museums sicher erreichten. Er wandte sich ab und beschloss, nach Hause zu gehen.
Er hatte allerdings kaum zwanzig Meter zurückgelegt, als ihm eine Idee durch den Kopf schoss. Er machte kehrt und ging zu der Gasse zurück. Als er ankam, war der Stadtstreicher immer noch da und saß gelassen auf einem Haufen Abfallsäcke, als überblicke er sein Reich. In seiner Hand hielt er eine anonym aussehende Flasche, aus der er vorsichtig eine bräunliche Flüssigkeit trank.
Der Penner gab durch nichts zu erkennen, dass er die Rückkehr des Polizisten bemerkt hatte. Carlyle, der wieder den Geruch zu ignorieren versuchte, blieb vor ihm stehen. »Dog«, sagte er, als er annahm, er habe schließlich die Aufmerksamkeit des Penners erlangt, »kommen Sie häufig hierher?«
Walter richtete den Blick nicht nach oben, aber er nahm die Lippen so weit von der Flasche, dass er murmeln konnte: »Manchmal.«
»Nachts?«
Dog nickte und setzte die Flasche wieder an den Mund, um die letzten Tropfen herauszusaugen.
»Waren Sie vor zwei Wochen auch hier?«, fragte Carlyle beharrlich.
Dog kratzte sich hinter dem linken Ohr wie ein Mann, der versucht, mit der Vorstellung von Zeit zu Rande zu kommen. Als er sich jedoch damit überfordert fühlte, bedachte er Carlyle mit einem Blick unendlicher Müdigkeit. »Keine Ahnung.«
»Die letzten Male, als Sie hier waren«, insistierte Carlyle, »haben Sie da sonst noch jemand gesehen?«
Dog imitierte längere Zeit wieder hervorragend einen Mann, der überlegte. »Nein«, sagte er schließlich.
Verdammt!, dachte Carlyle. »Niemand?«
Noch eine Pause.
»Nur den Mann mit dem Bart.«
»Den Mann mit dem Bart?«
Dog warf die Flasche über seine Schulter und stand auf. Er schaute Carlyle an. »Sie brauchen nicht alles zu wiederholen, was ich sage«, brummte er. Er griff in eine Innentasche seines Mantels und zog etwas heraus, was wie ein Stück Fleisch aussah. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ sich den Brocken in den Mund fallen. Carlyle kämpfte den Brechreiz nieder und wartete, bis der Mann das Stück hinuntergeschluckt und einen zufriedenen Rülpser ausgestoßen hatte. Er zwang sich dazu, etwas Geduld an den Tag zu legen. Schließlich hatte er Dog an einem seiner helleren Tage erwischt – vielleicht hatte die Rückkehr von den Toten dazu beigetragen, seine Denkvorgänge zu schärfen –, und ihm war klar, dass er sich darauf einstellen sollte zu warten, bis Dog so weit war.
Schließlich wischte Dog sich die Hand am Bauch ab. »Ist hinten die Treppe runtergekommen, genau wie Sie. Ich hab ihn um etwas Geld gebeten. Er hat irgendwas Ausländisches gesagt.«
»Auf Spanisch?«, fragte Carlyle.
»Vielleicht.«
»Wie hat er ausgesehen?«
»Hatte ’nen Bart«, sagte Dog, den Blick wieder auf die Haufen von Müllsäcken gerichtet; seine Gedanken kreisten zweifellos um die Frage, wo er am wahrscheinlichsten noch was zum Trinken auftreiben könnte.
»Okay«, sagte Carlyle, dem klar wurde,
dass der Penner jetzt andere Dinge im Kopf und ihm nichts
Brauchbares mehr zu bieten hatte. »Danke.« Er fischte einen
Zehn-Pfund-
Schein aus der Hosentasche und hielt ihn Dog hin. »Hier, hol dir
’ne Flasche Diamond White oder so.«
Bei der Erwähnung von König Alkohol merkte Dog sofort auf, aber er betrachtete das Geld misstrauisch. »Ob das funktioniert?«
»Das nehme ich an«, sagte Carlyle, »wenn Sie genug davon trinken.«
»Nein«, sagte Dog, der den Geldschein noch immer nicht akzeptierte. »Ob das Geld funktioniert. Das andere wollte er nicht nehmen.«
»Wer wollte es nicht nehmen?«, fragte Carlyle, der automatisch die falsche Frage stellte.
»Der Kerl in dem Zeitungskiosk«, sagte Dog, als wäre das offensichtlich. »Er hat gesagt, mein Geld wäre nicht gut.«
»Welches Geld?«
Dog fing an, in seinen Taschen zu wühlen. »Das Geld, das mir der Mann mit dem Bart gegeben hat.«
Carlyle beobachtete, wie Dog mehrere zerknitterte Stücke Papier aus verschiedenen Taschen zog und sich jedes genau ansah, bevor er es langsam wieder in sein ursprüngliches Versteck versenkte.
Der vierte oder fünfte Fetzen, den Dog hervorzog, sah ein bisschen wie eine alte Pfundnote aus. Er wedelte damit herum. »Das hier.«
»Was halten Sie davon?«, sagte Carlyle, der immer noch seinen Zehner in der Hand hielt. »Ich tausche mit Ihnen. Meiner hier funktioniert.«
»Das will ich ihm auch geraten haben«, sagte Dog, der Carlyle sein Stück Papier im Gegenzug für den Geldschein gab. Nachdem er beide Seiten der Zehn-Pfund-Note sorgfältig inspiziert hatte, kam er zu einer Entscheidung und schlurfte, auf der Suche nach einer passenden Erfrischung, rasch aus der Gasse.
Als Dog verschwunden war, stand Carlyle da und untersuchte das Stück Papier, das er von dem Stadtstreicher bekommen hatte. Es war ein abgegriffener Tausend-Peso-Schein in einer Farbe, die er als Aquamarin beschreiben würde, mit der Aufschrift Banco Central de Chile, die er auf beiden Seiten trug. Außerdem war auf der einen das Bild einer Statue und auf der anderen ein viktorianisch wirkender Herr in Uniform mit einem Schlachtschiff im Hintergrund. Nach vielem Blinzeln konnte Carlyle den Namen des Mannes entziffern: Agustín Arturo Prat Chacón.
Mit einem Lächeln steckte Carlyle sich den Schein in die Hosentasche. Er hatte keine Ahnung, wie viel eintausend Pesos wert waren, aber er wusste, dass dies ein Indiz war, das sich als unbezahlbar für seine Untersuchung erweisen konnte.