Neun

Als er am Barbican Centre eintraf, sah die Umgebung der Schule wie eine Szene aus einem direkt für den Heimvideomarkt produzierten Polizeifilm aus. Der gesamte Komplex war mit gelbem Band abgesichert worden. Außerhalb des Bands standen Touristen und Büroangestellte herum, hin- und hergerissen von einer Mischung aus Sorge und Neugier, während sie sich den nachdrücklichen Versuchen von etwa einem Dutzend uniformierter Polizisten widersetzten, die sie zum Weitergehen veranlassen wollten. Als Carlyle sich dem Eingang Silk Street näherte, zählte er mehr als ein Dutzend Polizeifahrzeuge, einschließlich zweier großer Transporter des Bombenentschärfungskommandos. Er fragte sich, wie lange sie brauchen würden, das ganze Gebäude zu durchsuchen – mindestens einige Stunden. Heute gäbe es mit Sicherheit keinen Unterricht mehr. Er wählte die Nummer von Alice auf seinem Handy und fluchte, als ihm mitgeteilt wurde, dass das Netzwerk überlastet sei.

»Verdammt!«

Sofort drückte der die Wiederwahltaste. Und bekam dieselbe Nachricht.

»Scheißtelefon!«

Und noch einmal.

Und noch einmal.

Beim fünften oder sechsten Versuch kam er durch. Nach knapp zwei Klingeltönen schaltete sich ihre Mailbox-Ansage ein: »Hallo! Hier ist Alice. Sprich mir eine Nachricht auf Band, und ich rufe zurück. Tschüs!«

»Alice«, sagte er so ruhig er konnte, »hier spricht Dad. Ruf mich an, wenn du das hier abhörst.«

Mit dem Telefon in der Hand ging er zu einem Sergeant, der an dem Absperrband stand. Als er ihm seinen Ausweis zeigte, nickte ihm der Polizist zu, der ihn offenbar wiedererkannte.

»Wo sind die Schulkinder?«, fragte Carlyle.

»Zu den RV-Punkten gegangen, Sir«, sagte der Sergeant routiniert.

»Und wo sind die RV-Punkte?«

»Äh …« Der Beamte zuckte mit den Achseln.

Carlyle war kurz davor, ihn zu ohrfeigen, als sie von einer Frau mittleren Alters mit einem Klemmbrett unterbrochen wurden. »Welche Klasse?«, fragte sie Carlyle barsch.

»Äh …« Jetzt war Carlyle an der Reihe, seine Unkenntnis zu offenbaren.

Die Frau verbarg ihre gerunzelte Stirn hinter ihrem Klemmbrett. »Lehrer?«

»Ein Mann, glaube ich«, war alles, was Carlyle beisteuern konnte.

Diesmal unternahm die Frau keinen Versuch, ihre Verachtung seiner Unkenntnis zu verbergen.

Mit einer Engelsgeduld gewährte sie ihm eine letzte Chance. »Ober- oder Unterstufe?«

»Unterstufe«, sagte Carlyle entschlossen. Er wusste, dass er mit dieser Antwort mindestens eine fünfzigprozentige Chance hatte, recht zu haben.

»Sie werden zum Monkwell Square gegangen sein.«

Carlyle schaute sie ausdruckslos an.

»Es ist direkt neben der Ironmongers’ Hall«, sagte der Sergeant hilfreich. »Gehen Sie in Richtung St. Paul’s – es liegt direkt vor London Wall. Sie sollten nicht mehr als fünf Minuten brauchen, höchstens.«

»Danke«, erwiderte Carlyle mürrisch. Er machte auf dem Absatz kehrt und trabte an den Gaffern und den aufs Geratewohl geparkten Polizeiautos vorbei.

Er brauchte nur zwei Minuten, um den Square zu finden. Der Platz war voller Mädchen in Uniform, die in kleinen Gruppen miteinander plauderten, auf dem Rasen herumlungerten und im Allgemeinen einen ziemlich zufriedenen Eindruck machten, weil ihnen ein freier Nachmittag bevorstand. Eine ganze Menge von ihnen rauchte, und er war schockiert, als er ein Mädchen sah, das noch jünger als Alice zu sein schien und ab und zu an einer Zigarette zog, während es unter einem Baum saß. Wie würde er reagieren, wenn er seine Tochter beim Rauchen erwischte? Das würde er dann entscheiden, wenn er vor ihr stände.

Erst mal musste er sie finden. Er brauchte noch ein paar Minuten, bis er jemanden auftrieb, der wie ein Lehrer aussah – ein großer Mann in einem Anzug, der ebenfalls ein Klemmbrett schwang. Carlyle, der sorgfältig darauf achtete, nicht auf eine der Schülerinnen zu treten, ging zu ihm und stellte sich vor.

Der Mann nickte. »John Doherty, stellvertretender Leiter der Unterstufe.« Als Carlyle erklärte, dass er nach seiner Tochter suche, runzelte er die Stirn. »Es ist nicht nötig überzureagieren.«

Überzureagieren?

»Wahrscheinlich ist es nur ein falscher Alarm«, fuhr Doherty fort. Er sah aus, als wäre er Anfang dreißig, aber mit seinem schlaffen strohblonden Haar und seinen jungenhaften Gesichtszügen brachte er es fertig, jünger als einige der Mädchen auszusehen. »Beim Appell haben sich alle gemeldet. Wir haben allen, die normalerweise nicht abgeholt werden, gesagt, dass sie nach Hause gehen können.«

Bevor Carlyle antworten konnte, begann das Telefon in seiner Hand zu vibrieren. Es war eine SMS von Alice: Zu Hause. Alles ok. x

Eine Mischung aus Erleichterung und Frustration ergriff ihn. Er schaute hoch, aber der Lehrer war schon weitergegangen. Ein paar Sekunden stand Carlyle da und kam sich überflüssig vor. Dann rief er seine Frau an und verließ den Square in Richtung Westen.

Die Klingel ertönte, kurz darauf gefolgt von einem leisen Rumpeln aufgeregten Geplappers. Michael Hagger lehnte sich an eine Säule draußen vor dem Eingang zum Kindergarten Coram’s Fields. Während er versuchte, wie die Art Typ auszusehen, der seinen Jungen regelmäßig aus der Kita abholte, sah er zu, wie die Kinder herauszuströmen begannen, wobei sie immer noch glücklich spielten, sich Süßkram in den Mund stopften oder über den Tag plauderten. Hauptsächlich waren es Frauen – richtige Mütter oder Tagesmütter –, die zum Abholen gekommen waren, aber es gab auch den einen oder anderen Vater, der sich die Mühe machte, eine Rolle bei der Heimholung des Nachwuchses zu übernehmen.

Sobald er sicher sein konnte, dass alle Zeichen auf Feierabend standen, drückte Hagger sich an einer Frau vorbei, die sich mit einem Kinderwagen abmühte, und betrat das Gebäude. Er lächelte den jungen Frauen am Empfang zu und ging lässig durch den Flur in Richtung von Jakes Spielzimmer.

Der Junge saß in Jeans, Turnschuhen und einem T-Shirt an einem Tisch und zeichnete mit einem grünen Farbstift auf einem Stück Papier. Er konzentrierte sich so stark, dass seine Zungenspitze in einem Mundwinkel sichtbar wurde. Zum ersten Mal gewann Hagger den Eindruck, dass der Junge gut aussah. Das muss er von mir haben, dachte er. Eine Kindergartenhelferin stand an einem Waschbecken in der gegenüberliegenden Ecke des Raums und räumte eine Ansammlung von Farben und Pinseln weg. Sie hatte ihnen den Rücken zugekehrt und drehte sich nicht um, als er den Raum betrat.

Jake sah ihn und verzog das Gesicht. »Was machst du denn hier?«

Hagger rang sich ein schmales Lächeln ab. »Ich bin hier, um dich abzuholen.«

Jake machte einen verwirrten Eindruck. »Du holst mich nie ab.«

»Nun, heute tu ich’s doch«, erwiderte Hagger.

»Wo ist Mum?«

Hagger streckte die Hand aus und tätschelte ihm den Kopf.

»Ich hole dich heute ab«, wiederholte er. »Ich dachte, das wäre nett.«

Die Kindergartenhelferin war immer noch damit beschäftigt, diverse Farbtuben wieder zuzudrehen.

»Mum holt mich immer ab«, sagte der Junge störrisch. »Oder Amelia.«

Ein echtes Paar nutzloser, fauler Schlampen, befand Hagger. »Sie haben gesagt, dass ich dich heute abholen sollte.«

»Mum sagt, du bist ein kompletter Scheißkerl«, sagte Jake beiläufig, während er den Blick senkte und den Farbstift fester auf das Papier drückte. »Und eine totale Fotze«, fügte er hinzu und wechselte seinen grünen gegen einen roten Farbstift aus.

»Das sagt sie also?« Hagger reagierte gereizt.

»Was ist eine Fotze überhaupt?«

»Nichts.«

Der Junge schaute hoch. »Das ist ein böses Wort, stimmt’s?«

»Sie macht nur Witze.« Hagger grinste nervös. Er warf einen Blick in den hinteren Teil des Raums, aber die Kindergartenhelferin hatte es eindeutig nicht gehört. Sie ließ jetzt Wasser laufen und war dabei, ein paar Töpfe auszuwaschen.

»Amelia auch.«

»In Wirklichkeit mögen sie mich. Genau wie du, oder?«

Jake schaute immer noch nicht hoch. »Ich will auf Mum warten.«

Hagger hatte diese Reaktion von dem Jungen erwartet. Er wusste, dass er schnell sein musste. Er konnte sich keine Szene leisten. Er ließ eine kleine Tüte Jelly Babies auf den Tisch fallen und flüsterte: »Ich dachte, wir könnten ein Eis essen gehen.«

Der Junge schnappte sich die Süßigkeiten und stand auf. »Okay«, sagte er und riss die Tüte auf. Er schaute hoch zu seinem Vater. »Und dann fahren wir zu Mum?«

»Natürlich.«

Dominic Silver, der glücklich darüber war, endlich allein zu sein, entspannte sich auf einer Couch in seinem Haus an der Meard Street in Soho. Gideon Spanner, der seine Augen und Ohren auf der Straße verkörperte, drehte draußen seine Runden, und deshalb hatte Silver das Haus für sich. Im Zimmer war es still, abgesehen vom Brummen des Verkehrs draußen, das vom gelegentlichen Aufheulen einer Polizeisirene unterbrochen wurde. Er hatte den Fernseher, in dem eine Wiederholung des Boxkampfs zwischen Evander Holyfield und Michael Dokes von 1989 lief, stumm gestellt, um sich auf einen Bericht im Evening Standard zu konzentrieren. Er handelte von der nicht sonderlich interessanten Geschichte zweier Drogenhändler, denen eine Gefängnisstrafe von bis zu siebenundzwanzig Jahren bevorstand, nachdem die Polizei zwei Reisetaschen mit fünfzig Kilogramm Heroin im Kofferraum ihres Wagens gefunden hatte. In dem Bericht wurde behauptet, die »Beute« sei »auf der Straße« fast fünf Millionen Pfund Sterling wert. Ich bin nicht sicher, an welche Straße du denkst, Freund, dachte Dom naserümpfend. Aus dem Stegreif schätzte er, dass jemand, der mit einer solchen Menge dreieinhalb Millionen umsetzte, in dieser angespannten Zeit nicht schlecht abgeschnitten hätte. Immer noch eine ordentliche Summe, aber deutlich unter den Höchstpreisen. Die sich verschärfende Rezession schnitt rigoros in alle möglichen Ermessensausgaben ein; sogar im Drogengeschäft, das sich länger als die meisten anderen besser als die meisten anderen gehalten hatte, spürte man inzwischen ernsthaft die Krise. Schmalhans war jetzt Küchenmeister, selbst wenn es darum ging, sich die Kante zu geben.

Er wandte sich wieder dem Zeitungsartikel zu. Die Dealer behaupteten, sie hätten Werbeprospekte abholen wollen, die sie bei einem Drucker in Auftrag gegeben hatten. Nach ihrer Version der Ereignisse waren die Broschüren zum vereinbarten Zeitpunkt noch nicht fertig gewesen. In der Zwischenzeit waren die Männer gebeten worden, stattdessen die Reisetaschen für ein Honorar von zweihundertfünfzig Pfund auszuliefern. Die Geschworenen hatten weniger als fünfzehn Minuten gebraucht, um die Kretins schuldig zu sprechen. Es war eine Überraschung gewesen, dass ihre Beratung so lange gedauert hatte. Die Polizei musste sich förmlich bepisst haben.

»Ihr Idioten!« Silver studierte die Polizeifotos des Duos, die den Artikel begleiteten, und schüttelte den Kopf. Den Erfolg der Polizei in diesem Fall betrachtete er mit gemischten Gefühlen. Die Drogen hatten einem Rivalen gehört, und wenn der Stoff von jemand anders aus dem Umlauf entfernt wurde, war das immer eine gute Nachricht. Ohne sich übermäßig arrogant zu finden, war Dominic davon überzeugt, dass die natürliche Auslese sich immer zu seinem Vorteil auswirken würde. Gleichzeitig bewies ihm dieser Vorfall jedoch, dass man sein Glück nicht herausfordern durfte. Enttäuschte Kunden würden trotzdem bedient werden wollen, und jede Marktlücke beförderte den allgemeinen Wettbewerb. Es gab eine Menge Leute, die mit Freuden Blut vergießen würden, um einen Anteil zu ergattern. Das nannte man Kapitalismus.

Dominic schlug die Zeitung zu, warf sie auf den Boden und dachte daran, dass die Zeit immer näher rückte, wo er ein für alle Mal Schluss machen sollte. Er schloss die Augen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und alles, was ihn ablenkte, daraus zu verbannen.

Er wusste, dies war eine große Prüfung.

Konnte er eine der grundlegenden Lebensregeln beherzigen?

Konnte er aussteigen, solange er noch vorn lag?