Vier

Der Inspector saß vor dem Il Buffone und genoss den milden Sonnenschein am Morgen. Das kleine italienische Café im Stil der Fünfzigerjahre lag direkt gegenüber seiner Wohnung an der Macklin Street auf der Ecke Drury Lane im nordöstlichen Teil von Covent Garden. Drinnen gab es gerade genug Platz für die Theke und zwei ramponierte Nischen, die jeweils vier Personen Platz boten oder sechs, wenn sie eng aneinanderrückten. Wenn man sich für einen Platz im Lokal entschied, riskierte man, dass sich jemand zu einem setzte, während man draußen eher allein gelassen wurde. Außerdem waren die Auspuffdämpfe umsonst.

Obwohl er nichts für Gesellschaft beim Frühstück übrighatte, zog Carlyle es vor, drinnen zu essen, wo er unter dem Plakat der Juventus-Mannschaft sitzen konnte, die 1984 die Meisterschaft gewonnen hatte. Das Plakat war eingerissen und verblasst, rollte sich an den Rändern nach innen und wurde mit Klebeband zusammengehalten. Marcello hatte es mehrmals zu ersetzen versucht, zuletzt mit der italienischen Weltmeisterschafts-Mannschaft von 2006. Allerdings hatten die Proteste von Carlyle und einigen anderen Stammgästen jedes Mal dazu geführt, dass er das Team von Trapattoni und Platini wieder an seinem rechtmäßigen Platz installieren musste.

Heute jedoch war Carlyle zur morgendlichen Hauptgeschäftszeit eingetroffen, und beide Nischen im Innern waren voll. Als er den Kopf zur Tür hereinstreckte, konnte er niemanden entdecken, der den Eindruck machte, er werde gleich aufbrechen. Er warf Marcello, dem Inhaber, einen flehenden Blick zu, der nur nickte und sagte: »Ich bringe ihn raus.«

Der Inspector hatte sich kaum hingesetzt, als Marcello an seinem Tisch erschien und einen doppelten Macchiato zusammen mit einer äußerst eindrucksvoll aussehenden Rosinenschnecke vor ihm abstellte, die eindeutig gegessen werden wollte. Carlyle sah auf das Hefeteilchen hinunter und spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Dann schaute er Marcello mit einem Gesichtsausdruck an, der demütige Dankbarkeit vermitteln sollte.

»Ich dachte mir, dass dir das gefällt.« Marcello grinste und befand sich schon wieder auf dem Rückweg. »Siehst du? Heute kann nichts mehr schiefgehen.«

Carlyle nahm einen Schluck Macchiato in den Mund, ließ sich von ihm die Kehle verbrühen und leerte die Tasse, bevor er zu einem Messer griff und die Schnecke sorgfältig in vier Teile zerlegte. Er nahm das größte Stück, schloss die Augen und dachte an den unmittelbar bevorstehenden Zuckerrausch.

»Hey!«

Das erste Stück Rosinenschnecke schwebte vor seinem Mund, als er den schrillen Ton einer Hupe hörte, gefolgt von kreischenden Bremsen. Eine Frau fing an zu schreien. Als er aufschaute, sah er einen alten Mann in einem cremefarbenen Regenmantel vor einem weißen Obst-und-Gemüse-
Lieferwagen auf dem Boden liegen. Der Mann lag weniger als zwanzig Meter entfernt auf dem Zebrastreifen vor dem Pub The Sun. Carlyle warf einen traurigen Blick auf das Stück Rosinenschnecke und legte es wieder auf den Teller. Er ignorierte sein Magenknurren, stand auf und schlenderte zu dem Unfallort, wobei er Marcello – der sich überhaupt nicht für das sich vor seiner Tür abspielende Minidrama zu interessieren schien – durch Handzeichen signalisierte, dass er noch einen Kaffee brauchen würde.

Drury Lane war eine relativ wenig verstopfte einspurige Einbahnstraße, die von Süden nach Norden verlief. Man konnte die ganze Strecke von der Aldwych bis zur High Holborn auf ihr zurücklegen, während man die verkehrsreicheren Straßen in der Nähe vermied. Um ein bisschen schneller zu der Ampel am nördlichen Ende zu kommen, traten alle möglichen Fahrer gerne das Gaspedal bis zum Anschlag durch und rasten so schnell wie möglich die Straße entlang. Das ganze Manöver war völlig sinnlos, weil die durchschnittliche Geschwindigkeit in der Londoner Innenstadt die Zehn-Meilen-Schwelle selten überschritt, im Wesentlichen die gleiche Geschwindigkeit, wie sie die Pferdekutschen mehr als ein Jahrhundert zuvor erreicht hatten. Carlyle, der keinen Wagen besaß, konnte nicht verstehen, warum die meisten Fahrer zweihundert Meter lang Gas gaben, nur um länger an der nächsten Ampel zu stehen. Vielleicht war es eine genetische Sache; wahrscheinlicher handelte es sich bei diesen Fahrern einfach um Idioten. So oder so war es ein Wunder, dass es nicht mehr Unfälle gab.

In diesem Fall waren die Vorderreifen des Lieferwagens auf dem Zebrastreifen stehen geblieben, aber es war nicht klar, ob er den alten Mann tatsächlich erwischt hatte. Der Fahrer des Wagens lehnte sich aus dem Fenster und machte der Passantin Vorhaltungen, die inzwischen aufgehört hatte zu schreien.

»Das ist ein Zebrastreifen!«, rief die Frau, die Carlyles Ankunft offenbar nicht bemerkt hatte.

»Der dämliche alte Arsch ist einfach auf die Straße marschiert«, gab der Fahrer, der so aussah, als wollte er aus dem Fenster greifen und sie an der Gurgel packen, mit drohendem Unterton zurück. Er ließ den Motor aufheulen, konnte aber nicht weiterfahren, weil der Mann noch ausgestreckt vor ihm lag. Mittlerweile hatte ein Taxi hinter dem Lieferwagen angehalten, und dessen Fahrer drückte ausgiebig auf die Hupe, falls irgendjemand übersehen hatte, dass er da war.

»Wenn Sie nicht so schnell gefahren wären«, erwiderte die Frau, »wäre das hier nicht passiert.«

»Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, du blöde Ziege«, fauchte der Mann, dessen Aufmerksamkeit jetzt von Carlyle in Anspruch genommen wurde, der sein Kennzeichen notierte.

»Hey! Du Arschgesicht!« Der Fahrer streckte den Kopf noch weiter aus dem Fenster des Lieferwagens. »Was glaubst du, was du da machst?« Schweißtropfen sammelten sich auf seinem rasierten Schädel. Er trug das Auswärtstrikot der Tottenham Hotspurs für die nächste Saison, mit einer attraktiven mokkabraunen Zahl im Retrolook. Carlyle dachte einen Moment daran, ihn allein deshalb zu verhaften. Stattdessen zeigte er dem Fahrer seinen Ausweis und sagte ihm, er solle seinen Motor ausstellen. Das veranlasste den Taxifahrer hinter ihm dazu, noch einmal lange auf seine Hupe zu drücken. Carlyle beachtete ihn nicht. Der Verkehr staute sich schon zurück bis zur Great Queen Street und darüber hinaus, aber das war nicht sein Problem. Die konnten warten. Er drehte sich zu dem alten Mann um und half ihm auf die Beine.

»Alles in Ordnung mit dir, Harry?«, fragte Carlyle.

Harry Ripley klopfte sich den Staub ab und fummelte an einem Knopf seines Mantels herum. Er lächelte traurig wie ein Mann, der mit nichts anderem rechnete, als dann und wann auf allen vieren mitten auf der Straße zu landen. »Hallo, Inspector.«

»Hat er Sie angefahren?«

Der alte Mann starrte auf den Asphalt. »Nein. Mir fehlt nichts.«

»War es seine Schuld?«

»Ich würde sagen fifty-fifty.«

Carlyle wies mit dem Kopf in Richtung des Cafés. »Ich trinke gerade einen Kaffee im Il Buffone. Gehen Sie doch schon mal rüber und setzen sich an meinen Tisch.«

Der alte Mann nickte und schlurfte zurück auf den Bürgersteig, bevor er sich langsam zu Carlyles Tisch aufmachte. Der Fahrer nahm das zum Zeichen, seinen Motor wieder anzulassen.

Carlyle stellte sich erneut vor den Lieferwagen und hielt die Hand hoch, als wäre er Verkehrspolizist. »Nicht so schnell, Freundchen. Immer mit der Ruhe.«

Die Autoschlange war jetzt gut zweistellig, und die Kakofonie der Beschwerden wurde zahlreicher. Die Frau, die sich mit dem Fahrer gestritten hatte, drückte sich noch auf dem Bürgersteig vor dem Sun herum, als sei sie unschlüssig, ob sie noch bleiben oder gehen solle. Carlyle wandte sich ihr zu und lächelte, was nur dafür zu sorgen schien, dass sie sich noch unbehaglicher fühlte. »Keine Sorge. Es ist jetzt okay, ich kriege das geregelt.«

»Brauchen Sie keine Zeugenaussage oder so?«, fragte die Frau.

Nein, brauche ich nicht, verdammt noch mal, dachte Carlyle. Der Papierkram würde ihm den Rest geben; sein Tag wäre vorbei, bevor er richtig begonnen hätte. Wie kam es nur, dass Bürger nur dann helfen wollten, wenn es nicht nötig war? »Nein, ist gut.« Er versuchte, dankbar zu klingen. »Ich werde damit schon fertig. Vielen Dank, dass Sie stehen geblieben sind.«

»Sind Sie sicher?«

»Nun ja …« Carlyle schaute hinab auf seine Schuhe und versuchte, nicht zu lächeln. Sind Sie sicher? Wie oft war ihm im Lauf der Jahre diese Frage gestellt worden? Er war Polizist. Natürlich war er sicher. »Ich bin sicher.«

»Nun, falls Sie Ihre Meinung ändern«, sagte die Frau, »ich arbeite in dem Waschsalon am anderen Ende der Betterton Street.« Sie zeigte über ihre Schulter. »Dort bin ich erreichbar.«

»Das weiß ich«, sagte Carlyle, und das stimmte auch. Als die Waschmaschine der Carlyles früher im Jahr den Geist aufgegeben hatte, war er ein Stammkunde gewesen. »Danke.«

Zögernd wandte sich die Frau ab und ging, was Carlyle die Möglichkeit einräumte, sich wieder dem Fahrer des Lieferwagens zuzuwenden. Er ging zu der Fahrertür. »Name?«

Der Mann hätte nicht gequälter aussehen können, wenn jemand im Begriff gewesen wäre, ihm einen glühend heißen Schürhaken in den Arsch zu stecken. »Smith.«

Carlyle zog eine Augenbraue hoch.

»Nein, ehrlich«, sagte der Mann und zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans, »ich heiße Smith. Dennis Smith.« Er fischte seinen Führerschein heraus und streckte ihn aus dem Fenster.

Carlyle nahm den Führerschein nicht zur Kenntnis und beugte sich näher zum Fenster. »Okay, Dennis, Sie scheinen hier sowohl gegen verschiedene Verkehrsvorschriften verstoßen als auch sich auf eine Weise benommen zu haben, die leicht zu einer Verletzung des Landfriedens hätte führen können.« Das war natürlich Quatsch, sorgte aber dafür, dass Dennis ihm aufmerksam zuhörte. »Und das, bevor wir über irgendwelche Verletzungen des Unfallopfers reden. Oder darüber, dass Sie mich als ›Arschgesicht‹ bezeichnet haben.«

»Aber«, beklagte sich Smith, »Sie haben ihn doch gerade zum Kaffeetrinken weggeschickt. Er ist gar nicht verletzt. Und es war sowieso seine Schuld.«

Carlyle ließ seinen Blick durch das Innere des Lieferwagens schweifen. »Sind Sie häufiger hier?«

Smith rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Manchmal.«

»Nun ja, ich bin die ganze Zeit hier, und ich will keinen Rennfahrerscheiß von …«, er zog den Kopf zurück, um den Firmennamen auf der Seite des Lieferwagens zu lesen, »… Fred’s Fabulous Fruit ’n’ Veg mehr erleben.«

»Aber …«

»Kein Aber. Sollte ich diesen Lieferwagen mit mehr als zwanzig Stundenmeilen durch die Drury Lane fahren sehen, werden Sie eingelocht, und ich werde dafür sorgen, dass Ihr Boss davon erfährt. Und jetzt verpissen Sie sich und fahren vorsichtig. Versuchen Sie, heute keine Rentner mehr umzunieten.«

Mit finsterem Blick rammte Smith den ersten Gang hinein und ließ den Motor aufheulen, während er wegfuhr. Während Carlyle auf den Bürgersteig zurücktrat, hörte er das Gejohle der anderen Fahrer, die zu Geiseln dieses Zwischenfalls geworden waren. Während er zurück zu dem Café ging, erblickte er ein paar unmissverständliche Handzeichen, die sich im Fenster der Wettbüros William Hill spiegelten, beschloss aber, sie zu ignorieren. Als er an seinem Tisch ankam, erschien Marcello mit Carlyles zweitem Macchiato und einem Becher Tee für Harry Ripley. Ohne ein Wort zu sagen, setzte Carlyle sich hin, leerte die Tasse und verzehrte systematisch die Viertel seiner Rosinenschnecke, eins nach dem anderen.

Harry wohnte drei Stockwerke unter den Carlyles im Winter Garden House. Er war viele Jahre lang ein enger Freund der Carlyles gewesen und kannte Helen seit ihrer Geburt. Harry, der jetzt Ende siebzig war, hatte 1952 als Teil des Regiments der Royal Fusiliers der City of London in Korea gedient, wofür er Korea-Medaillen sowohl des Vereinigten Königreichs als auch der Vereinten Nationen erhalten hatte. Obwohl Carlyle keine Ahnung hatte, was Harry in Korea gemacht hatte, war er bei mehreren Gelegenheiten angesichts beider Ehrenzeichen voll der Bewunderung gewesen. Harry hatte seinen zwanzig Dienstjahren beim Militär weitere zwanzig als Briefträger folgen lassen, die er im Postamt Mount Pleasant an der Farringdon Road in der Nähe von King’s Cross stationiert war. Er war mittlerweile seit fast fünfzehn Jahren pensioniert und seit mehr als einem Jahrzehnt verwitwet. Er hatte keine Kinder und, soweit Carlyle wusste, keine anderen Angehörigen. Alles, was er jetzt noch wollte, war zu sterben, »solange ich meine Gesundheit habe«, wie er es formulierte. Sein viele Male bei einem Pint Chiswick Bitter in The Sun geäußerter Traum war es, tot umzufallen, während er zusah, wie Arsenal die Premier League gewann – auf diese Weise war er zu dem Spitznamen »Herzinfarkt-Harry« gekommen.

Carlyle bekämpfte den machtvollen Drang, noch eine Rosinenschnecke zu verputzen. »Was war das für eine Geschichte, Harry?«, fragte er.

Der alte Mann schlürfte seinen Tee und schaute in die Ferne. »Der Kerl hätte anhalten müssen. Er ist zu schnell gewesen.«

»Sie sollten dankbar sein, dass er nicht noch schneller war.« Carlyle seufzte. »Außerdem war der Typ ein Spurs-Anhänger. Sie hätten wissen müssen, dass er Sie nicht treffen würde.«

Harry kicherte vor sich hin.

»Das ist nicht witzig, Kumpel. Haben Sie schon mal so was probiert?«

»Nein.«

»Na ja, machen Sie es nicht wieder, sonst bringe ich Sie um.«

Harry schaute ihn seelenvoll an. »Das war ein Unfall.«

»Quatsch, Harry, das haben Sie mit Absicht gemacht. Sie haben diesem Kerl einen Höllenschrecken eingejagt, auch wenn er ein Vollidiot war. So was können Sie einfach nicht machen.« Er schaute nach oben in einen blauen Himmel. Es war schon über zwanzig Grad; überhaupt kein Londoner Wetter. Heute Mittag würde eine absolute Affenhitze herrschen. »Und was sollte das mit dem Regenmantel?«

Harry zuckte mit den Achseln. »Man weiß nie, wann es regnen wird.«

Carlyle schaute auf seine Uhr. Er sollte sich jetzt wirklich auf den Weg zur Station machen. »Verdammt noch mal, es soll heute dreißig Grad werden, der heißeste Tag des Jahres. Und hören Sie mit diesem morbiden Scheiß auf. Ihnen fehlt nicht das Geringste. Ich gebe den Löffel wahrscheinlich vor Ihnen ab. Tatsächlich wette ich mit Ihnen um zwanzig Pfund, dass Sie hundert Jahre werden, ohne das geringste Problem. Das Telegramm von der Königin ist Ihnen sicher.« Ob sie das mit den Telegrammen immer noch machten, fragte sich Carlyle. Er hoffte es. Harry war so sehr Royalist, wie er selbst Republikaner war, und wenn der Gedanke an eine »Gut gemacht«-Botschaft aus dem Buckingham Palace ihn nicht aufmuntern konnte, dann würde ihn nichts aufmuntern.

Irgendwie schaffte Harry es, ein noch niedergeschlageneres Gesicht zu machen. »Das kommt nicht einfach so, wissen Sie.«

»Was?«

»Das Telegramm von Ihrer Majestät.«

»Ach?« Carlyle merkte, dass er diesen Weg besser nicht eingeschlagen hätte.

»Jemand muss sie darum bitten.«

Der verdrießliche alte Tropf sorgte dafür, dass sich der Inspector wie der größte Optimist der Welt vorkam. Er holte tief Luft und setzte alles daran, weiterhin einen fröhlichen Eindruck zu machen. »Wenigstens stellen sie Ihnen nichts für diese besondere Ehre in Rechnung«, sagte er und fragte sich, ob das stimmte.

»Und man muss beweisen, wie alt man ist.«

»Dann geben Sie Helen eine Kopie von Ihrer verdammten Geburtsurkunde«, blaffte Carlyle, der mit seiner Geduld am Ende war. »Die wird sie an die da oben schicken, wenn es so weit ist.«

»Dann wird sie tot sein.«

»Wer?«, fragte Carlyle, der nicht wusste, ob er sich Sorgen machen sollte. »Helen?«

»Nein«, sagte Harry, »die Queen. Sie ist älter als ich, wissen Sie.«

Carlyle war verärgert und erleichtert zugleich. »Egal. Jedenfalls ist alles okay mit Ihnen.«

»Hören Sie mal, Inspector«, sagte Harry, und er klang leicht gereizt, »versuchen Sie nicht, mir was vorzumachen. Ich hatte ein anständiges Leben, und ich muss es nicht unnötig in die Länge ziehen. ›Hör zum richtigen Zeitpunkt auf‹, sagte mein alter Dad immer, und er hatte recht. Ich will nicht zu spät aussteigen und in einem schrecklichen Pflegeheim dahinvegetieren. Oder auf einer Rolltrage in einem Krankenhausflur verhungern. Ich hab keine Angehörigen mehr, und es sollte meine Entscheidung sein. Man nennt es Sterbehilfe. Das ist derzeit der letzte Schrei. Neulich haben sie abends in der Glotze einen Typ beim Sterben gezeigt.«

Carlyle grunzte. Er wusste von der Sendung, auf die Harry sich bezog. Der Gedanke daran ließ seine Übelkeit aufflammen wie ein Magengeschwür, und gleichzeitig deprimierte er ihn zutiefst. Als Helen darauf bestanden hatte, die Sendung zu sehen, war er mit einem Buch ins Bett gegangen. Selbst jetzt schüttelte es ihn, so makaber fand er die ganze Angelegenheit. »Der Kerl in der Glotze hatte eine unheilbare Krankheit. Und er hat drei Riesen dafür ausgegeben, um in die Schweiz zu fahren, wo es in einer Klinik in den Alpen erledigt wurde.« Er schaute Harry direkt an. »Und wieder nach Hause zu kommen und begraben zu werden, kostet mindestens noch mal sieben Riesen. Haben Sie zehn Riesen?«

»Nein.«

»Na, dann können Sie einfach nicht sterben, oder?« Carlyle grinste.

»Es gibt andere Methoden«, sagte Harry gelassen. »Man muss nicht in die Schweiz fahren. Ist nicht ein Copper in Wales mit einer Flasche Scotch einen Berg hochgegangen und erfroren?«

Daran erinnerte Carlyle sich gut, man hatte tagelang in der Station von nichts anderem geredet. »Ja, dafür ist Wales, glaube ich, gut geeignet. Da gibt’s jede Menge Berge.«

Aus dem blendenden Licht kam die barmherzige Rettung in Form eines Engels. Eine hübsche Blondine in einem sehr kurzen Rock bog von der Drury Lane in die Macklin Street und schlenderte auf der anderen Straßenseite entlang, wobei sie in ihr Handy sprach. Ihre durchtrainierten Beine waren lang und gebräunt, und sie hatte eine Aktenmappe unter einen Arm geklemmt. Carlyle vermutete, dass sie auf dem Weg zu der Modelagentur war, die einen Block weiter auf der Parker Street lag. Wie Keats mal gesagt hatte: Wo Schönheit ist, ist Freude auch für immer. Es war das beste Heilmittel gegen Depressionen, das er kannte.

Harry ertappte ihn, wie er sie anstarrte, und schmunzelte. »Zu jung für mich.«

Carlyle sagte nichts, während die junge Frau eine Kehrtwendung machte und wieder in der Drury Lane verschwand.

»Für Sie ist sie auch zu jung.«

»Harry …«

»Ich habe in der Zeitung davon gelesen«, sagte Harry und kam damit zurück auf sein Thema – kein Gedanke mehr an das gefährliche Spiel, das er mit dem Straßenverkehr gespielt hatte.

»Wovon?«

»Von dem Polizisten, der einen Berg hochgestiegen ist, um sich umzubringen.«

»Ach ja.« Wenn Keats heute noch leben würde, wäre Schönheit eine Freude für etwa zehn Sekunden, dachte Carlyle säuerlich.

»Er hatte ein kompliziertes Liebesleben oder etwas in der Richtung.«

»Das muss verdammt kompliziert gewesen sein.« Carlyle griff in die Innentasche seines Jacketts, um seine Brieftasche herauszuholen. »Wenn er sich deswegen umbringen wollte.« Er stöhnte, als ihm klar wurde, wie wenig Bargeld er dabei-
hatte, kaum genug, um die Rechnung zu bezahlen. »Ich muss jedenfalls wirklich los.«

»Sie haben ihn nicht gekannt, oder?«

»Nein, komischerweise ist er einer von den hundertvierzigtausend Polizisten in diesem Land, die ich nicht persönlich kenne.« Wie durch Zauberei erschien Marcello, um ihre Tassen abzuräumen. Carlyle reichte ihm einen Zehner, signalisierte ihm, dass er kein Wechselgeld haben wolle, und stand auf.

»In den Zeitungen stand, dass er ernste Frauenprobleme hatte.« Harry kämpfte sich aus seinem Stuhl hoch.

»Haben wir die nicht alle?« Carlyle grinste, weil er froh war, dass sich ihr Gespräch endlich um etwas anderes drehte als den Tod.

»Nee«, sagte Harry geistesabwesend. »Er stand nicht unter dem Pantoffel wie Sie. Sein Problem war, dass er zu viele von ihnen gevögelt hat – viel zu viele. Er konnte seinen Schwanz nicht in der Hose behalten.«

Carlyle musterte den frechen alten Knacker. Unter dem Pantoffel? Er überlegte, ob er etwas dazu sagen sollte, ließ es aber bleiben. Er winkte Marcello zum Abschied zu und trat auf die Straße. »Bis bald. Schauen Sie doch mal bei Helen und Alice vorbei – die würden sich schrecklich freuen, Sie zu sehen. In der Zwischenzeit machen Sie keinen Ärger mehr. Das ist ein Befehl.«

»Sonst werde ich verhaftet?«

»Ja.«

Der alte Mann begann zu strahlen. »Ich könnte sterben, solange ich im Polizeigewahrsam bin. Irgendeine Treppe runterfallen.«

Carlyle lachte, während er loszog. »Man kann nie wissen, Harry. Man kann nie wissen.«