Einunddreißig

Carole Simpson saß trübsinnig an ihrem Küchentisch in Highgate und hielt ein großes Glas Langoa Barton 2001 in der Hand, während sie darauf wartete, dass ihr sündteurer Anwalt anrief. Als das Telefon schließlich klingelte, stürzte sie sich auf das vor ihr liegende Mobilteil.

»Hallo?«

»Carole, hier ist John Lucas. Ich komme gerade aus der Polizeistation Kentish Town.«

»Ja.« Sie konnte Verkehrslärm im Hintergrund hören. Vermutlich ging der Anwalt an der Straße entlang und hielt nach einem Taxi Ausschau. Da wünsche ich ihm viel Glück, dachte Simpson. Kentish Town war eines der Stadtviertel, in denen es kürzlich zu Straßenkrawallen gekommen war, die sich in der Stadt ausgebreitet hatten, bevor Scotland Yard hatte reagieren können. Selbst zur besten Zeit war es keine Gegend, in der ein Mann in einem Anzug nachts allein unterwegs sein sollte. Sie hoffte, dass Lucas ein Taxi fand, bevor er überfallen wurde.

Wie um ihre Befürchtungen zu beschwichtigen, hörte sie Lucas plötzlich brüllen: »Taxi!«

Sie wartete, während er einstieg und dem Fahrer sagte, er solle zu einem Restaurant im West End fahren, bevor sie ihr Gespräch wieder aufnahm. »Sie waren lange in der Station«, sagte sie; sie wusste, was das bedeutete, und wartete auf die endgültige Bestätigung ihres Verdachts, wie vollständig ihr bisheriges Leben den Bach runtergegangen war.

»Ja«, sagte der Anwalt, der sich mittlerweile deutlich vergnügter anhörte, nachdem er im Rückraum eines schwarzen Taxis sicher untergebracht war. »Und zwar mehr als acht Stunden.«

Simpson stellte die Berechnung im Kopf an. Ach, du lieber Gott, dachte sie verdrießlich, das sind mehr als sechs Riesen. Sie überlegte, wie viel Geld sie in ihrer Handtasche hatte. Fünfzig Pfund? Alle ihre Bankkonten waren eingefroren worden. Würden sie das Geld auftreiben können, um die Anwaltskosten zu bezahlen?

»Er hat gestanden, Carole. Er hat zugegeben, seine Investoren betrogen zu haben.«

»Haben Sie ihm geraten, das zu tun?«, fragte sie ungläubig.

»Nein, nein«, sagte der Anwalt entsetzt. »Natürlich nicht. Ich bin mir zu diesem Zeitpunkt nicht mal völlig sicher, was für ein Verbrechen er genau eingestanden hat. Er hatte vor, den Fonds aufzulösen, und das ist eigentlich nichts, was man von jemand unter diesen Umständen erwarten würde.«

»Was meinen Sie mit ›unter diesen Umständen‹?«, fragte sie scharf.

»Nun ja …« Lucas wählte seine Worte mit Sorgfalt. »Bei einem sogenannten Ponzi- oder Pyramidensystem laufen die Dinge so lange gut, bis zu viele Leute versuchen, ihr Geld zur gleichen Zeit rauszuziehen, und dann bricht alles zusammen. Hier sieht es so aus, als habe Joshua sich bemüht, ihnen ihr Geld zurückzugeben – oder wenigstens einen Teil.«

»Macht ihn das denn nicht unschuldig?« Sie benutzte das Wort in seiner engsten legalen Bedeutung.

»Wenn er die Verluste ausgewiesen hätte«, fuhr Lucas fort, der nicht weiter auf ihre Frage einging, »hätte er darauf hoffen können, sie auf alle zu verteilen, anstatt die Letzten von den Hunden beißen zu lassen und sie finanziell zu ruinieren. Falls das seine Absicht gewesen ist, wäre ihm klar gewesen, dass es immer noch großen Ärger gegeben hätte, aber man hätte die ganze Geschichte noch als Missgeschick darstellen können, nicht als tatsächlichen Betrug.«

Das machte seinen verdammten Brief noch dümmer, dachte Simpson.

»Im Moment«, erklärte Lucas, »muss all das noch gründlich erörtert werden. Wir wissen natürlich nicht, was die Behörden schon in der Hand haben, um eine Anklage auf die Beine zu stellen. Angesichts unseres derzeitigen Informationsstands habe ich ihm geraten, nichts zu sagen. Er hat sich dafür entschieden, dem keine Beachtung zu schenken.«

»Dann waren Sie ja nicht sehr hilfreich, oder?«, sagte Simpson bitter.

Der Anwalt beschloss, die spitze Bemerkung zu ignorieren. Das hatte er schon oft erlebt. Eine seiner großen Stärken, so sah er es gerne, war seine Fähigkeit, sich von Mandanten nicht aufbringen zu lassen, die in aller Regel unter großem Druck standen. »Das ist immer das Privileg des Mandanten«, sagte er milde. »Es könnte sich am Ende sogar als positiv erweisen.«

»Wie denn das?«, fragte sie, ohne es recht glauben zu wollen.

»Na ja«, sagte der Anwalt, »auf diese Weise können wir einen Prozess vermeiden und ein niedrigeres Strafmaß aushandeln.«

»Das war’s dann also?«, sagte sie, wobei sie versuchte, nicht loszuheulen.

»Meine Güte, nein«, sagte Lucas, der sich um einen väterlichen Tonfall bemühte, auch wenn er mindestens fünf oder sechs Jahre jünger war als die Frau, die am anderen Ende der Leitung darum kämpfte, nicht die Fassung zu verlieren. »Ganz und gar nicht. Was Joshua auch gesagt haben mag, wir befinden uns immer noch in einem sehr frühen Stadium.«

»Was geschieht denn als Nächstes?«

»Er wird der Abteilung Wirtschaftskriminalität der Polizei der City of London überstellt werden. Zu gegebener Zeit wird man ihm vermutlich unter dem Fraud Act von 2006 den Prozess machen wollen. Ich vermute, dass sie ihn beschuldigen werden, entweder falsche Angaben gemacht, wichtige Informationen zurückgehalten oder seine Stellung missbraucht zu haben. Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Es gibt immer noch verschiedene andere mögliche Ergebnisse, und wir wollen das optimale für Joshua – und für Sie – herausholen.«

»Sollte ich ihn besuchen?«

»Noch nicht«, sagte der Anwalt entschieden. »Abgesehen von allem anderen werden sie ihn wahrscheinlich ein bisschen herumschieben, je nachdem, wo freie Zellen verfügbar sind. Sie wissen ja, wie es ist.«

»Ja«, sagte sie eisig, »das weiß ich.«

»Sie wollen nicht überhastet zu einer sinnlosen Suche quer durch London aufbrechen, besonders wenn Ihnen die Medien auf den Fersen sind.«

»Nein, da haben Sie recht.« Simpson dachte daran, einen Schluck Wein zu trinken, und entschied sich dagegen. Sie stellte das Glas wieder auf den Tisch und kam zur Sache. »Muss er ins Gefängnis?«

Mit Sicherheit, dachte Lucas. Und das für eine geraume Weile. Es hatte nie eine schlechtere Zeit dafür gegeben, sich als Wirtschaftsbetrüger erwischen zu lassen. Jetzt fehlte nur noch, dass die amerikanischen Behörden eingeschaltet würden, und der blöde Trottel hätte das große Los gezogen. Diese Arschlöcher würden dich fröhlich für immer einlochen und noch hundert Jahre drauflegen, nur damit sie sich besser fühlten. »Das ist durchaus möglich«, erwiderte er vorsichtig, »vielleicht sogar wahrscheinlich. Aber darüber sollten Sie sich im Moment keine Sorgen machen.«

»Nein? Worüber sollte ich mir denn Sorgen machen?«

»Wir müssen uns morgen früh zusammensetzen. In der Zwischenzeit sollten Sie anfangen, über die praktischen Details nachzudenken.«

»Als da wären?«

»Nun ja, denken Sie an die guten Nachrichten in dieser Sache – die sehr guten Nachrichten –, die da lauten, dass es keinen Hinweis darauf gibt, Sie hätten irgendwas damit zu tun gehabt.«

»Hatte ich auch nicht.« Simpson nahm das Weinglas in die Hand, und dieses Mal trank sie es zur Hälfte leer.

»Nein«, sagte der Anwalt hastig, »natürlich nicht. Aber Sie wissen ja, wie es in diesen Situationen ist.«

Simpson trank den restlichen Wein in dem Glas aus und widerstand der Versuchung, das leere Glas an der Wand zu zerschmettern. »Nein, eigentlich weiß ich das nicht«, sagte sie gereizt, und all ihr Verlangen, vernünftig und realistisch zu sein, schmolz dahin.

»Nun ja«, sagte Lucas, der zusätzliche Reserven an Einfühlungsvermögen und Geduld aufbot, »als seine Frau werden Sie feststellen, dass es immer Geschwätz und Spekulationen geben wird. Aber Sie sind kein Gegenstand von Ermittlungen, und so, wie die Dinge stehen, gibt es keine … direkte Gefährdung Ihres Jobs. In erster Linie müssen Sie allerdings verschiedene Aspekte Ihrer Beziehung mit Ihrem Mann und insbesondere die Verteilung Ihrer jeweiligen Vermögenswerte bedenken.«

Nach einem Tag, an dem sie sich wie betäubt gefühlt hatte, schreckte Simpson plötzlich zurück, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. »Wollen Sie damit sagen, ich soll mich scheiden lassen?«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Lucas ruhig. »Es steht mir nicht zu, einen solchen Rat zu erteilen. Und vergessen Sie nicht, eigentlich bin ich Joshuas Anwalt, nicht Ihrer. Sie sollten sich natürlich einen eigenen Anwalt nehmen. Andererseits gibt es hier, zumindest im Moment, eine große Gemeinsamkeit der Interessen.«

»Im Moment?«

Lucas biss die Zähne zusammen. Simpsons verbaler Tick, alles, was er sagte, zu wiederholen, irritierte ihn zunehmend. Aber er ging ein weiteres Mal darüber hinweg. »Nehmen wir einfach mal an, im Moment, dass die Behörden so viel von Joshuas Vermögenswerten wie möglich sicherstellen wollen. Sie werden ihnen beweisen müssen, dass es sich bei allem, was Sie behalten, nicht um irgendwas handelt, das im Rahmen seiner Projekte erworben wurde.«

»Herrgott noch mal!«, murmelte Simpson, während sie nach der Weinflasche griff und ihr Glas nachfüllte.

»Halten Sie hier!«, wies Lucas den Taxifahrer an. Bevor er ausstieg, sprach er wieder in sein Handy: »Denken Sie daran, Carole, dass Sie in Ihrem eigenen Beruf sehr erfolgreich sind. Und was wichtiger ist, Sie haben Ihre ganze Karriere dem Dienst an der Öffentlichkeit gewidmet. Es sollte nicht schwierig sein nachzuweisen, dass Sie im Lauf mehrerer Jahrzehnte einen angemessenen Bestand rechtmäßig erworbener Vermögenswerte aufgebaut haben. Stellen Sie heute Abend eine Liste zusammen, über die wir uns dann morgen früh in meinem Büro verständigen können.«

»Gut.« Simpson seufzte.

»Sollen wir sagen um elf?«

»Ich werde bei Ihnen sein.«

»Also«, erwiderte der Anwalt, »dann bis morgen.«

Es klickte, und dann war die Leitung tot. Simpson warf das Telefon wieder auf den Tisch. Während der nächsten paar Minuten saß sie schweigend da und ging in Gedanken noch einmal ihr Gespräch durch. Dann holte sie ein paar Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und begann, ein paar Zahlen zu notieren.

Carlyle legte die Biografie des Fußballspielers und -trainers Brian Clough auf den Beistelltisch und schaute hinüber zu Helen, die am anderen Ende des Sofas saß. Das niederschmetternde Gefühl, schon einmal gesehen zu haben, was sich ihm darbot, überwältigte ihn. Seine Frau war immer noch von ihrer Fernsehsendung mit Promigrößen im Dschungel gefesselt, die bereits seit Monaten zu laufen schien. Noch erstaunlicher fand er allerdings, dass der ehemalige Scotland-Yard-Chef Luke Osgood immer noch im Rennen war und offenbar eine Chance hatte zu gewinnen. Osgood hatte es bis unter die letzten drei im Wettbewerb geschafft, zusammen mit einer Stripteasetänzerin – oder besser »Varieté-Künstlerin« – namens Tizzy McDee und einem unscheinbaren Schauspieler aus einer Soap, der Kevin hieß. Carlyle versuchte, den Blick vom Bildschirm abzuwenden, insbesondere wenn Osgood auftauchte, aber die Erscheinung der vollbusigen Tizzy in einem Bikini, der selbst für die junge Alice zu klein gewesen wäre, war vorhersehbar hypnotisch.

Erfreulicherweise kam es zu einer Werbepause. Helen zog die Fernbedienung unter einem Polster hervor und stellte den Ton aus. »Osgood hat sich wacker geschlagen, um so weit zu kommen«, sagte sie, »aber er wird nicht gewinnen.«

»Dann fällt die Entscheidung also zwischen dem Soap-Star und der Stripperin?«, konnte Carlyle sich nicht verkneifen zu fragen.

»Ja«, antwortete seine Frau mit einem Ernst, der auch bei einer Diskussion der Ergebnisse einer Parlamentswahl angemessen gewesen wäre, »aber der Schauspieler hat die größeren Chancen. Wenn Osgood draußen ist, kann er die schwulen Stimmen mit denen der Hausfrauen verbinden. Es gibt nicht genug Jungs im Teenageralter, die Lust haben, beim Sender anzurufen, um für Tizzy per Telefon abzustimmen.«

»Die haben bereits alle Hände voll, nehme ich an«, scherzte Carlyle.

Helen warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Wenn wir von den Ereignissen im Dschungel absehen«, sagte sie, »habe ich noch andere Neuigkeiten.«

»Ach ja?«, sagte er misstrauisch, weil er mit allem Möglichen rechnete, von einer Geldforderung bis hin zur Ankündigung, dass seine Schwiegermutter ihnen einen Besuch abstatten würde.

»Über Agatha Mills«, sagte Helen, die sich auf dem Sofa nach hinten lehnte und die Knie an die Brust zog.

»Was ist mit ihr?«

»Nun ja … Agatha und Sandra Groves kannten sich.«

Carlyle gähnte. »Das hast du mir schon erzählt.«

Helen überging die Zurechtweisung. »Sie waren beide an einer Kampagne der Töchter des Dismas beteiligt, die sich gegen den Waffenhandel richtete. Ihr besonderes Interesse galt der britischen Militärhilfe für Chile. Offensichtlich wurde sie genutzt, um Söldner im Irak zu finanzieren.«

Carlyle nahm diese neue Information zur Kenntnis. »Stammt das von der Frau, mit der du bereits gesprochen hast?«

»Ja.« Helen warf einen Blick auf den Fernseher, um sich zu vergewissern, dass immer noch Werbefilme liefen und sie nichts von ihrem Dschungelspaß verpasste. »Ich habe heute Morgen wieder mit Clara gesprochen, und sie hat mir noch zwei andere Frauen genannt, die sie kennt. Sie sagen, die beiden wären in dieser Sache ziemlich aktiv gewesen.«

»War sonst noch jemand daran beteiligt?«

»Keine Ahnung«, sagte Helen und zuckte die Achseln.

»Na, dann lässt du das besser deine Freundin mal nachprüfen«, rügte er sie. »Diese beiden waren am Ende tot, was bedeutet, dass alle, die mit ihnen gemeinsame Sache gemacht haben, jetzt in Lebensgefahr schweben könnten. Sie sollten sich schleunigst mit mir in Verbindung setzen.«

»Ich werde die Nachricht weitergeben«, sagte Helen kühl. Sie hob ein paar Papiere auf, die auf dem Boden lagen. »Sie haben eine Gesellschaft namens LAHC ins Visier genommen.«

»Und das bedeutet?«

Helen überflog rasch den Text. »Ich weiß nicht. Sie hat angeblich mit britischem Geld bezahlte Männer und Ausrüstungsgegenstände als sogenannte private Sicherheitswachmänner benutzt. Einige von diesen Wachmännern werden der Menschenrechtsverletzung beschuldigt.«

Carlyle schnaubte. »Ich werde selbst ziemlich regelmäßig beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben.«

»Aber nicht bis hin zum Mord«, sagte Helen. »Das ist nicht zum Lachen.«

»Ich hab doch nur …« Bevor er seinen Satz beenden konnte, ließ sie den Stapel Papiere in seinen Schoß fallen und stellte den Ton des Fernsehers wieder an, weil ihre Sendung weiterlief.

Der Bikini der Stripperin schien in der Werbepause eher noch geschrumpft zu sein. Dafür waren ihre Nippel in der Zwischenzeit erheblich gewachsen. Durch eine enorme Willensanstrengung schaffte Carlyle es, seinen Blick vom Bildschirm loszureißen und sich die Dokumente anzusehen, die Helen ihm überlassen hatte. Ein großer Teil des Materials war auf Spanisch, aber eine Sache, die er verstehen konnte, war eine Presseerklärung der Töchter des Dismas mit dem Titel ES WIRD ZEIT, GEGEN SÖLDNER IM IRAK VORZUGEHEN. Während er immer wieder auf die Brüste der Stripperin schaute, überflog Carlyle den Text. Agenturen zur Rekrutierung von Söldnern schicken ehemalige Soldaten in den Irak Menschenrechtsverstöße … unzulässige Benutzung von Waffen der Army … Angriff … Mord. Er las weiter: Private Sicherheitsunternehmen in den USA, die auf Wunsch der US-Regierung Sicherheitskräfte rekrutieren, um sie in Kriegsgebiete zu schicken, wo sie strategische Einrichtungen und Militärkonvois beschützen sollen, neigen dazu, Unteraufträge an südamerikanische Firmen wie LAHC Consulting zu vergeben. Inhaber von LAHC ist Gomez Gori, ein pensionierter Admiral der chilenischen Marine, der eine führende Rolle beim Umsturz der demokratisch gewählten chilenischen Regierung 1973 spielte.

Gomez Gori? Schön, schön, schön. In genau diesem Augenblick trat Tizzy McDee allerdings unter die Dusche. Ihr Bikini wurde durchsichtig, und Carlyle war auf einmal zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.

Er brauchte mehrere Minuten, bis er seine Lektüre fortsetzen konnte. Der einzige andere englische Text war ein Zeitungsausschnitt aus dem Vorjahr.

IRAK: Chilenische Söldner in der Schusslinie

Von Daniel Franklin

SANTIAGO, 9. März (CNW) Die 150 ehemaligen Mitglieder des chilenischen Militärs, die im Irak als privates Wachpersonal arbeiten, sind potenzielle Zielpersonen des dortigen Widerstands, wie die grausige Ermordung von drei Sicherheitsmännern vor einer Woche beweist.

Die früheren chilenischen Kommandosoldaten arbeiten Berichten zufolge für die US Central Intelligence Agency (CIA). Sie werden von privaten Militärunternehmen eingestellt, die von den lukrativen Verträgen für die Stabilisierung und den Wiederaufbau des Irak profitieren, für die die Vereinigten Staaten im Monat durchschnittlich vier Milliarden Dollar ausgeben.

Im vergangenen November wurde eine unauffällige Anzeige in der chilenischen Zeitung El Mercurio geschaltet, mit der ehemalige Kommandosoldaten, die der englischen Sprache mächtig waren, aufgefordert wurden, sich für Sicherheitsdienste im Ausland zu melden, für die das verlockende Gehalt von 18 000 Dollar für nur sechs Monate Arbeit in Aussicht gestellt wurde.

Die von LAHC geschaltete Anzeige fand das Interesse von mindestens 400 Marinesoldaten und »Black Berets« – Sondereinsatzkräfte der chilenischen Armee, die in den letzten Jahren frühzeitig in den Ruhestand gegangen sind.

Die Rekrutierungskampagne in Chile beinhaltete eine Vorauswahl von 400 Mann, die anschließend an Militärübungen in San Bernardo südlich von Santiago teilnahmen. Das verärgerte das Verteidigungsministerium, das eine Untersuchung hinsichtlich möglicher Verstöße gegen Chiles Waffenkontrollgesetz anordnete.

LAHC wählte schließlich 150 Männer aus, die sich einer Ausbildung in den Vereinigten Staaten unterzogen, anschließend nach Kuwait und von dort in den Irak geschickt wurden.

Amerikanische Medienorgane haben berichtet, dass die Vereinigten Staaten pensionierte Mitglieder der chilenischen Armee, die unter dem früheren Diktator Augusto Pinochet (1973 – 1990) gedient haben, so wie ehemalige Schergen von Südafrikas Apartheid-Regime übernommen haben, um sie als Söldner in den Irak zu schicken.

Die private Militärindustrie nimmt weltweit immer mehr zu, weil örtliche bewaffnete Konflikte Beschäftigungsmöglichkeiten für ehemalige Militärangehörige darstellen, die auf einmal ohne Job dastanden, insbesondere in Osteu-
ropa nach Beendigung des Kalten Kriegs. Die 150 mittlerweile im Irak stationierten Chilenen gehören ebenfalls zu denjenigen, die durch einen Plan zur Modernisierung der Streitkräfte aus dem aktiven Dienst ausschieden. Derzeitige Armeechefs haben eine diskrete, aber wirkungsvolle Säuberungsaktion durchgeführt und Offiziere und Unteroffiziere zwangspensioniert, die eine Rolle bei den Unterdrückungsmaßnahmen der Diktatur gespielt haben, bei denen rund 3 000 Menschen getötet wurden oder »verschwanden«.

Die Story war oben mit einem Foto von drei Soldaten illustriert, die vor einem verbeulten Jeep standen. Es machte den Eindruck, als seien sie irgendwo in einer Wüste, aber der Ort der Aufnahme wurde nicht angegeben. Jeder von ihnen lächelte, während er eine automatische Schusswaffe in der Hand hielt, die wie ein Teil aus einem Terminator-Film wirkte.

Carlyle studierte das Foto sorgfältig. Keiner dieser Männer war Matias Gori, aber jeder von ihnen trug etwas, das wie ein kleines Abzeichen aussah. Es war unmöglich, es genau auszumachen, aber das Emblem konnte den gleichen oder einen ähnlichen Dolch enthalten, den Matias auf dem Friedhof getragen hatte.

»Ich hab’s dir ja gesagt!« Helen stieß triumphierend die Faust in die Luft.

»Was?«

»Er ist draußen.« Sie zeigte auf den Bildschirm.

Carlyle wandte sich wieder dem Fernseher zu. Feuerwerkskörper explodierten, und Luke Osgood, der ein T-Shirt und eine kurze Hose anhatte, ging über eine schwankende Brücke und aus seinem Dschungelcamp hinaus, nachdem man ihn aus der Sendung gewählt hatte.

»Ich hab dir gesagt, er würde nicht gewinnen«, sagte Helen, grinste und stieß ihn leicht mit dem Fuß an. »Hast du keine Lust, mir eine Tasse Tee zu machen?«

Als er ein paar Minuten später mit einer Tasse Pfefferminztee zurückkam, hatte der Promiquatsch aufgehört, und an seine Stelle waren die Spätnachrichten getreten. Carlyle sah mit einem Auge den Schluss einer Story über ein Erdbeben in den Philippinen oder sonst wo und war gerade auf dem Weg ins Bett, als ein Bild von Rosanna Snowdon auf dem Bildschirm erschien.

Er ließ sich wieder neben seine Frau auf das Sofa plumpsen, während die Nachrichtensprecherin mit ernster Stimme den Kommentar dazu lieferte: »Simon Lovell, der beschuldigt wurde, die Fernsehmoderatorin Rosanna Snowdon ermordet zu haben, wurde heute nach einer Voruntersuchung auf freien Fuß gesetzt, bei der der Richter entschied, dass sein Geständnis unter Zwang zustande gekommen sei.«

Dann folgte ein Ausschnitt mit Lovells Anwältin Abigail Slater, die einen unnachgiebigen Eindruck machte: »Mein Mandant ist über die bei der heutigen Verhandlung gefällte Entscheidung erfreut. Die Polizei hat – abgesehen von einem erzwungenen Geständnis, das bei einer ordentlichen Verhandlung keinen Bestand haben würde – keine Indizien, die für Mr Lovells Anwesenheit in der fraglichen Nacht am Schauplatz des angeblichen Verbrechens sprechen. Mr Lovell möchte jetzt nur noch sein normales, ruhiges Leben wiederaufnehmen.«

»Schön wär’s«, murmelte Carlyle.

»Auf welchem Stand befindet sich damit die Untersuchung von Rosannas Tod?«, fragte Helen.

»Auf null, soweit ich weiß …« Carlyle seufzte. »Sonst haben sie nichts in der Hand. Lovell war ihr einziger Verdächtiger.«

»Und warum haben sie dann auf dem armen Kerl herumgehackt?«

»Sie haben nicht auf ihm herumgehackt«, sagte Carlyle gereizt, der aus irgendeinem Grund das Bedürfnis verspürte, den Advocatus Diaboli zu spielen. »Er hat gestanden. Was sollten sie sonst tun?«

»Glaubst du, er war es?«

»Keine Ahnung.«

»Werden sie den Mörder finden?«

Carlyle fand schließlich die Kraft, sich vom Sofa zu erheben und in Richtung Bett loszugehen. »Ich würde nicht darauf wetten«, sagte er und gähnte herzhaft.

»Die arme Frau«, sagte Helen. »Sie hat Besseres verdient.«

»Ja«, stimmte Carlyle zu. »Das hat sie.«