Fünfzehn
Carlyle und Joe gingen auf der Endell Street in nördlicher Richtung und genossen den warmen Sonnenschein. Es war ein schleppender Vormittag im Kampf gegen das Verbrechen in der Hauptstadt gewesen, und die Atmosphäre in der Polizeistation Charing Cross war einschläfernd. Trotz seiner guten Vorsätze hatte Carlyle den Bericht über den Fall Mills noch nicht fertig geschrieben. Das lag zum Teil an seiner Lethargie, zum Teil an seiner – von beiden Elternteilen ererbten – Entschlossenheit, jedem geschenkten Gaul, der ihm über den Weg lief, sehr sorgfältig ins Maul zu schauen. Nachdem die letzten Spuren des Ehegatten-Mörders Henry draußen vom Asphalt gewaschen worden waren, war der Fall Mills jetzt eindeutig abgeschlossen. Er hatte sich selbst gelöst. Das war eine feine Sache, was Carlyle so gut wie jeder andere wusste. Zwei unnatürliche Todesfälle, die sich erklären ließen, waren ein nettes kleines Geschenk für die Statistiker und die Leistungstabellen. Jetzt musste er es nur noch in leicht heruntergeschraubte Prosa einwickeln und Carole Simpson überreichen, und dann wären alle glücklich. Falls etwas anderes durch die Tür gekommen wäre und seine Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte, wer weiß, vielleicht hätte er das getan. Aber abgesehen von Mills hatte er im Augenblick nur mit einem Fall von häuslicher Gewalt, bei dem die Frau ihren Mann verprügelte, und einer Serie von Taschendiebstählen in der Umgebung des Cambridge Circus zu tun. Nicht genug, um einen erwachsenen Mann auszulasten.
Weil er absolut keine Lust hatte, sich um diese anderen Fälle zu kümmern, zögerte Carlyle, jetzt schon einen Schlussstrich unter den Fall Mills zu ziehen. Joe war nicht Feuer und Flamme, als Carlyle ihm erzählte, dass er beschlossen habe, die Wohnung der Mills’ noch mal unter die Lupe zu nehmen. Allerdings ließ er sich von der Aussicht überzeugen, unterwegs einen kleinen Imbiss zu sich nehmen zu können. Als sie das Ende der Endell Street erreichten, kam der übliche Verkehrsstau in Sicht. Das war die Stelle, wo High Holborn, St Giles High Street, Bloomsbury Street und Shaftesbury Avenue zusammenkamen. Fahrzeuge, deren Lenker wussten, wo sie hinwollten, vermischt mit Fahrzeugen, deren Lenker sich in dem gewundenen Einbahnstraßensystem von Covent Garden verfahren hatten. Verkehrskollaps war hier normal, und die beiden Polizisten wurden von einer vertrauten Kakofonie aus Hupen und Schreien begrüßt, als sie näher kamen. Carlyle nahm eine schnelle Berechnung im Kopf vor; sie würden fünf Straßen und vierzehn Fahrspuren überqueren müssen, um Ridgemount Mansions zu erreichen, die kaum vierhundert Meter entfernt lagen. Nicht zum ersten Mal fluchte er über den ineffektiven Bürgermeister der Stadt. Obwohl er ein- oder zweimal im Monat ostentativ mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr, war Christian Holyrod von einer kriminellen Nachgiebigkeit, wenn es um die Staugebühr ging, die von einem seiner Vorgänger eingeführt worden war, der damit erreichen wollte, dass die Leute ihre Autos stehen ließen und den öffentlichen Nahverkehr nutzten. Carlyle, der mitten in London wohnte, war der festen Überzeugung, es sollte fünfzig oder sogar hundert Pfund am Tag kosten, wenn man mit dem Auto in das Zentrum von London fahren wollte. Zum Teufel noch mal, wenn man die Dinge ernsthaft verbessern wollte, warum verbot man dann nicht Privatwagen überhaupt? Oder ließ nur Elektrofahrzeuge zu?
Die derzeitige Gebühr von zehn Pfund war eine totale Lachnummer, dachte Carlyle. Der Verkehr war schlimmer denn je. Alles, was man in der Zwischenzeit hörte, war der endlose Klagegesang bequemer reicher Leute, die der Ansicht waren, es wäre ihr unveräußerliches Menschenrecht, die Londoner Innenstadt mit ihren monströsen, die Straßen unsicher machenden Spritschleudern mit Vierradantrieb zu verstopfen, die im Volksmund als »Chelsea-Traktoren« bekannt waren. Das waren die Leute, die Holyrod zum Bürgermeister gewählt hatten, also würde die Gebühr in absehbarer Zeit nicht auf ein vernünftiges Niveau angehoben werden.
Erst nachdem sie sich durch zwei Fahrspuren stehenden Verkehrs geschlängelt hatten, begriff Carlyle, dass dieser besondere Stau vor allem von einem Bus verursacht worden war, der an der Ecke Bloomsbury und St Giles High Street in einem schrägen Winkel über drei Fahrspuren zum Stehen gebracht worden war. Während er in der Mitte der Shaftesbury Avenue stand, brauchte er noch eine Weile länger, bis ihm klar wurde, dass der Bus auch auf der falschen Route unterwegs war. Der rote Doppeldeckerbus Plaxton President, der aus Leyton im Osten kam, fuhr normalerweise über den Bloomsbury Way und die New Oxford Street, bevor er am Oxford Circus die Endstation erreichte. Aus irgendeinem Grund hatte er seine Route verlassen und war einen Block weit südlicher, als er sein sollte.
Verwundert machte Carlyle zwei Schritte und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf das Fahrzeug, das keine zehn Meter vor ihm stand. Der Bus zeigte nicht an, dass er außer Betrieb war, und er konnte sehen, dass noch ein paar Passagiere an Bord waren. Auch machte der Fahrer nicht den Eindruck, verletzt oder in irgendeiner Hinsicht arbeitsunfähig zu sein. Vielmehr saß er wie ein Idiot auf seinem Platz und sah zu, wie sich das Chaos um ihn herum ausbreitete, offensichtlich ohne die beiden Touristen zur Kenntnis zu nehmen, die direkt vor dem Bus standen und ihn mit der Videokamera filmten.
Der Lärmpegel stieg allmählich an, während mehr und mehr Fahrer ihrem Unmut Luft machten. Es kam Carlyle so vor, als sei die Temperatur während der letzten zwei Minuten um zehn Grad angestiegen, und von den Auspuffdämpfen wurde ihm schlecht. Er konnte schmecken, wie sich die Luftverschmutzung hinten in seiner Kehle sammelte. Ein vertrautes Knirschen am oberen Ende seiner Wirbelsäule, wo sie mit seinem Schädel zusammentraf, bedeutete, dass schwere Kopfschmerzen im Anzug waren. Am liebsten wäre er jetzt durch den restlichen Verkehr gehüpft und hätte alle ihrem Schicksal überlassen.
»Wir finden besser raus, worum es hier geht«, rief er Joe zu.
Sie arbeiteten sich bis zu dem Bus vor, und Carlyle klopfte gegen die Tür, die vorn dem Fahrer gegenüberlag. Der Mann war in den Zwanzigern und hatte eine ungesund aussehende, schmutzig weiße Gesichtsfarbe, furchtbare Haut und einen Topfschnitt. Er starrte sie an und schaute dann wieder weg. Die Fahrgäste auf den hinteren Bänken saßen da und starrten ausdruckslos aus den Fenstern. An die Wechselfälle des öffentlichen Nahverkehrs in London gewöhnt, ließen sie sich offenbar von den Ereignissen nicht beeindrucken.
Carlyle ging zur Vorderseite des Busses und presste seinen Ausweis unmittelbar vor dem Gesicht des Fahrers gegen das Fenster. »Wir sind von der Polizei!«, rief er. »Öffnen Sie die Tür.«
Der Fahrer blinzelte ein paar Mal, sagte aber nichts. Stattdessen saß er da mit den Händen auf dem Lenkrad und rührte sich nicht. Vielleicht ist er auf Drogen, dachte Carlyle. Seine Stimmung verschlechterte sich zusehends. Er konnte spüren, dass sich hinter ihm eine kleine Menschenmenge sammelte, und er musste den Bus von der Stelle kriegen.
»Dieser Typ ist scharf darauf, in einer Zelle zu landen«, sagte Joe und seufzte.
Der Inspector schlug mit der Faust gegen das Fenster. »Mach die Scheißtür auf!«
Joe legte ihm die Hand auf die Schulter. »Warte mal kurz.«
Carlyle folgte seinem Sergeant zurück zur Seite des Busses. Er sah zu, wie Joe nach unten griff und eine kleine Tafel links neben der Tür öffnete. Drinnen war ein grüner Knopf von der Größe einer kleinen Münze, mit der Erklärung darüber in kleiner Schrift: NOTFALL TÜRÖFFNER. Joe drückte auf den Knopf, und die Tür öffnete sich zischend.
»Warum hast du das nicht als Allererstes gemacht?«, fragte Carlyle scharf.
Joe lächelte nur und trat mit einer leichten Verbeugung einen Schritt zurück, um seinem Chef den Vortritt zu lassen.
»Schick die Gaffer zum Teufel«, blaffte Carlyle, »und lass ein paar Uniformierte kommen.« Er sprang auf den Bus und klatschte mit der flachen Hand gegen die Plexiglasscheibe, die den Fahrer von seinen Fahrgästen abschirmte. »Was zum Teufel ist los?«, fragte er. »Haben Sie sich verfahren?«
Der Fahrer schaute geradeaus, ignorierte Carlyle und blieb stumm.
»Ist das Ihr Bus?«
Endlich drehte sich der Mann um und schaute Carlyle an. Er nahm den rechten Aufschlag seines Jacketts zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt dem Polizisten sein Namensschild hin. »Jawohl«, sagte er mit zittriger Stimme, »das ist mein Bus. Und das hier ist ein Protest. Wie sieht es denn aus?«
»Es sieht aus wie ein beschissener Parkversuch«, sagte Carlyle, der sich ein wenig entspannte. Wenigstens schien der Trottel bei klarem Verstand zu sein. »Wie heißen Sie?«
»Clive.«
»Und wogegen genau protestieren Sie, Clive?«
»Gegen die Reklame.«
Carlyle begriff nicht. »Welche Reklame?«
»Die Reklame auf dieser Seite vom Bus«, sagte Clive eingeschnappt, als wenn das sonnenklar wäre.
Carlyle runzelte die Stirn. Er drehte sich um, verließ den Bus und starrte zu dem Werbeposter hoch, das waagerecht zwischen der oberen und der unteren Fensterreihe verlief.
In geschmacklosen rosafarbenen Großbuchstaben stand dort: ES GIBT WAHRSCHEINLICH KEINEN GOTT. ALSO HÖR AUF, DIR SORGEN ZU MACHEN, UND GENIESS DEIN LEBEN.
Carlyle blinzelte, schaute ein zweites Mal hin und begann zu lachen. Er bestieg den Bus erneut und sagte zu dem Fahrer: »Was stimmt damit nicht?«
»Es verletzt meine religiösen Glaubensvorstellungen.« Clive sah tatsächlich gekränkt aus.
»Und wie sehen die genau aus?«, fragte Carlyle, der es nicht schaffte, den Ton aus seiner Stimme zu verbannen, der so viel sagte wie: Als ob mir das nicht scheißegal wäre …
»Ich bin Mitglied der East London Tabernacle Missionary Baptist Church«, sagte Clive feierlich. »Habe seit fast sechs Jahren keinen Sonntag verpasst.«
»Sehr eindrucksvoll«, sagte Carlyle. Er wusste nicht viel über Religion, und sie interessierte ihn noch weniger. Soweit es ihn betraf, konnten Menschen glauben, was sie wollten, solange sie kein großes Trara darum machten und sich an die Gesetze hielten. »Und jetzt, wo wir das klargestellt haben, ist es Zeit, den Bus wegzufahren.«
»Nein.«
Scheiße, dachte Carlyle, jetzt ist Schluss mit lustig. »Fahr den Bus weg, oder ich nehme dich fest.«
Clive sah ihn an wie ein kleiner Hund, den man getreten hatte, aber er sagte nichts.
»Dann kommst du ins Gefängnis. Das heißt, du wirst lange Zeit nicht mehr in deine … Missionary sonst wie Kirche kommen.«
Zum ersten Mal trat ein Ausdruck des Unbehagens auf Clives Gesicht.
»Im Gefängnis gibt es nur Atheisten, musst du wissen«, fuhr Carlyle fort. »Die ficken dich jede Nacht in den Arsch. Davor wird Gott dich nicht bewahren.«
Clives Unterlippe zitterte, aber er blieb immer noch stumm.
Du bist ja ein toller Psychologe, dachte Carlyle. Er machte einen halben Schritt nach vorn und schlug so fest gegen das Plexiglas, dass ihm die Hand wehtat. »Warte, bis ich dich da rauskriege, du kleiner Scheißkerl. Fahr den Scheißbus weg!«
»Nein«, erwiderte der Fahrer schmallippig.
»Zum Teufel noch mal, Clive!« Kochend vor Wut drehte Carlyle sich um und lief direkt gegen eine Frau, die eine kleine Videokamera in der Hand hielt. Sie machte einen Schritt rückwärts in Richtung der Treppe zum Oberdeck und hob die Kamera wieder vor ihr Gesicht, deren Linse sie auf Carlyle richtete.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, grollte Carlyle. Er wünschte, er wäre in der Station geblieben. Das Gefühl, dass eine Art kosmischer Verschwörung im Gange sei, die ihm unbedingt den Tag vermasseln wollte, begann, sich in seinem Kopf durchzusetzen. Mit einer gewissen Mühe widerstand er der Versuchung, die Linse mit seiner Hand zu bedecken. Die Frau machte noch einen Schritt nach hinten auf einen schäbig wirkenden Typ zu, und ihm wurde klar, dass sie die beiden »Touristen« waren, die er vorhin draußen vor dem Bus gesehen hatte.
Die Frau ließ die Kamera sinken und hörte auf zu filmen. »Wir sind die Töchter des Dismas. Wir zeichnen diesen Protest für unsere Website auf.«
»Die Töchter von wem?«
»Die Töchter des Dismas«, wiederholte die Frau langsam. »Das ist der feministische Flügel der Tabernacle Church.«
Carlyle zeigte auf den Mann hinter ihr. »Was macht er dann hier?«
»Stuart ist ein Ehrenmitglied der Töchter des Dismas. Er ist mein Freund.«
»Der Glückliche«, höhnte Carlyle, der die Frau von oben bis unten musterte. Sie war dünn, hatte ein teigiges Gesicht, trug ein rotes T-Shirt und eine grüne Cargohose und hätte in jedem Alter zwischen achtzehn und achtunddreißig sein können. Ihm kam der Gedanke, dass sie so aussah wie eine der schmächtigen Heldinnen in einem dieser erbärmlichen Filme von Mike Leigh, in die Helen ihn manchmal schleppte; langweilige Leute, die vor sich hin lamentierten, und das Ganze wurde als »sozialer Realismus« verkauft.
Die Frau nahm seinen sarkastischen Ton nicht zur Kenntnis. »Dismas war der gute Schächer, ein Freund von Jesus.«
»Gut für ihn«, sagte Carlyle, der nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon sie redete. Dismas hätte auch eine Figur aus der Sesamstraße sein können. Oder der neue ungarische Linksverteidiger von Fulham. Er streckte die rechte Hand aus. »Geben Sie mir die Kamera.«
Die Frau hob den Apparat sofort vor ihr Gesicht und begann wieder zu filmen. »Wir haben alles Recht der Welt, hier zu sein. Wollen Sie Clive verhaften?«
Carlyle warf Joe, der an der Tür stand und ein Lachen zu unterdrücken versuchte, einen Blick zu. Anschließend wandte er sich wieder zu der Frau um und sagte so gelassen, wie er nur konnte: »Geben Sie mir die Kamera. Bitte.«
Mit ihrem Freund unmittelbar hinter sich trat die Frau Carlyle gegen das Schienbein.
Unwillkürlich trat Carlyle sie ebenfalls.
»Autsch!«, jammerte sie. »Das hat wehgetan!«
Ohne darauf zu warten, dass sie anfing, von »Polizeibrutalität« zu schreien, schnappte sich Carlyle die Kamera und warf sie rasch Joe zu. »Sie sind festgenommen«, sagte er, drehte sie herum und legte ihr Handschellen an, »und zwar wegen Ruhestörung und Angriffs auf einen Polizeibeamten.« Er zeigte auf den Freund. »Das gilt auch für Sie, Stuart.«
»Boss«, sagte Joe von hinten, »die Uniformierten sind hier.«
»Gut. Sag ihnen, sie sollen die beiden hier und den Fahrer mit zur Station nehmen, damit sie unter Anklage gestellt werden. Und hol jemand her, der diesen verdammten Bus wegfährt.«
»Jawohl, Boss.«
»Was ist mit meiner Kamera?«, quengelte die Frau.
»Das ist ein Beweisstück, meine Liebe«, sagte Joe und lächelte. »Aber machen Sie sich keine Sorgen – wir werden sie pfleglich behandeln.«