Acht
Die Stadt um ihn herum brummte. Das auf beruhigende Weise vertraute Geräusch besänftigte sein erregtes Gemüt. Weil er zu ungeduldig war, um auf ein Stocken des fließenden Verkehrs zu warten, sprang Carlyle vor einen kleinen roten Lieferwagen und ignorierte geflissentlich die übertriebenen Handbewegungen des Fahrers, während er Long Acre entlanglief. Als er Seven Dials erreichte, einen Minikreisverkehr mit einer Säule in der Mitte, die sechs Sonnenuhren trug – die siebte war die Säule selbst, die ihren Schatten auf den Boden warf –, schlug er die Richtung zum nördlichen Ende der Mercer Street ein, unweit der Shaftesbury Avenue.
Auf der Westseite der Straße stand ein kleiner Block mit Sozialwohnungen, der als Phoenix House bekannt war. Das Gebäude, das in den Fünfzigerjahren mit dem billigsten verfügbaren Beton gebaut worden war, wäre vermutlich stabiler gewesen, wenn man es mit Pappe errichtet hätte. Immerhin machte es einen sauberen Eindruck und roch nicht allzu schlecht, jedenfalls von außen. Carlyle klingelte, wartete ein paar Sekunden, hörte, wie die Tür entsperrt wurde, und ging hinein.
Auf dem obersten Stock des Phoenix House lag das Apartment Nummer acht. Inzwischen wurde es seit mehr als einem Jahr von einer jungen Frau aus Birmingham namens Sam Laidlaw als Stoßbude benutzt. Das Apartment war winzig, alles in allem nicht mehr als fünfundvierzig Quadratmeter, aber es hatte eine kleine Dachterrasse, die Laidlaws Kunden im Sommer eine Frischluft-Variante in Aussicht stellte.
Laidlaws Dienstmädchen Amelia Jacobs war eine Prostituierte im Ruhestand, die Carlyle seit mehr als zwanzig Jahren kannte. Sie war eine zuverlässige Ansprechperson, die sich im Lauf der Jahre eine gesunde Bilanz in seinem Gefälligkeitsbuch erarbeitet hatte. Als sie ihn ein paar Wochen zuvor darum gebeten hatte, eine Abhebung vornehmen zu dürfen, was ausgesprochen selten vorkam, wusste Carlyle, dass er ihr einen Besuch würde abstatten müssen. Da er es schon ein paar Mal aufgeschoben hatte, fühlte er sich jetzt verpflichtet, sich blicken zu lassen.
Jacobs war vielleicht nicht ganz die klassische Hure mit dem goldenen Herzen, aber sie war trotzdem eine beeindruckende Figur. Sie war eine unscheinbar aussehende Schwarze Mitte bis Ende dreißig, ungefähr einen Meter dreiundsechzig groß, trug einen Kurzhaarschnitt und hatte harte Augen, die einen nie direkt ansahen. Falls man ihr auf der Straße begegnete, könnte man Amelia problemlos für eine Lehrerin oder vielleicht sogar eine Anwältin halten. Die Wirklichkeit sah anders aus, aber Carlyle wusste, dass Amelia trotzdem einigen Respekt verdiente. In erster Linie war sie eine Überlebenskünstlerin. Hier in der Gegend erzählte man sich, dass sie einmal mit gewissem Erfolg versucht habe, den Penis eines unausstehlichen Freiers abzubeißen. Carlyle kannte eine Krankenschwester, die im University College London Hospital an der Gower Street arbeitete und behauptete, im Dienst gewesen zu sein, als der fragliche Typ in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Er hatte Amelia einmal nach dem Vorfall gefragt – sie hatte nur gelächelt und trocken gesagt: »Ein paar Sekunden später, und er hätte sein Ding nie wiedergesehen.«
Zum Glück für Freier auf Besuch und Polizisten mittleren Alters hatte man das oberste Stockwerk nach nur drei Treppenfluchten erreicht. Es gab einen Aufzug, aber der funktionierte selten. Auch wenn er es mal tat, nahm Carlyle lieber die Treppe, als das Risiko einzugehen, dass er darin stecken blieb.
Nachdem er die Treppe hochgelaufen war, fühlte er sich nur ein bisschen außer Atem.
Amelia empfing ihn an der Tür. »Danke, dass Sie gekommen sind, Inspector«, sagte sie und lächelte.
»Kein Problem«, antwortete Carlyle, der versuchte, sein Keuchen unter Kontrolle zu bekommen. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«
Sie machte eine unverbindliche Handbewegung. »Kommen Sie herein.«
Ein paar Minuten später saß er auf einem orangefarbenen Sofa in einem düsteren Wohnzimmer, das mit Sicherheit deprimierend genug war, der Begierde eines jeden einen Dämpfer zu verpassen. Er hielt einen gefährlich aussehenden Becher Kaffee in der Hand, auf dessen Oberfläche ein hauchdünner Film glänzte, einem Spülwasser ähnlich. Sam Laidlaw saß ihm in einem Sessel gegenüber und starrte wie das ungezogene Schulmädchen zu Boden, das sie im Grunde genommen war. Sie war zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig, verhielt sich aber wie ein Teenager. Ihr platinblondes Haar passte zu ihrer ungesunden Haut. Es war an den Wurzeln herausgewachsen und musste dringend nachgefärbt werden. In einem schmuddeligen weißen T-Shirt, einer grauen Jogginghose und ohne Make-up sah sie echt scheiße aus. Es wäre so, als würde man eine Leiche ficken, dachte Carlyle. Andererseits, wenn man großzügig sein wollte, es war noch relativ früh. Für sie hatte die Arbeitswoche noch nicht begonnen.
Amelia erklärte Carlyle die Lage. Das Problem war ihm bekannt. Es ging um Michael Hagger, ein lokaler Minigangster, der sich zum Unternehmer gewandelt hatte, gelegentlicher Zuhälter und Vater von Sam Laidlaws vierjährigem Sohn Jake. Jacobs zufolge drohte Hagger damit, im Verlauf eines länger andauernden Streits um Geld den Jungen seiner Mutter wegzunehmen.
»Wo ist der Junge jetzt?«, fragte Carlyle, der sich plötzlich Sorgen machte, dass er diese Situation zu lange ignoriert haben könnte.
»Er ist zum Spielen verabredet«, erwiderte Amelia. »Und mittlerweile ist er auch im Kindergarten. Seit Ostern haben wir einen Platz in Coram’s Field. Drei Tage in der Woche.«
»Das ist gut«, sagte Carlyle lahm. Wenigstens kümmerte man sich einen Teil der Zeit vernünftig um den Jungen. Das Coram’s Field Play Centre lag fünfzehn Minuten die Straße hoch, auf dem Weg nach King’s Cross. Es wurde von der Bezirksverwaltung Camden betrieben, und die Kindergärtnerinnen dort leisteten hervorragende Arbeit mit einem breiten Spektrum von Kindern verschiedener Herkunft. Seine Tochter Alice hatte den Kindergarten zwei Jahre besucht, bevor sie auf die Schule ging, und ihre Mutter stattete ihm immer noch ab und zu einen Besuch ab, um Bücher, die sie nicht mehr brauchten, für die Bibliothek abzugeben. Er würde Helen von Jake erzählen und sie bitten, diskrete Erkundigungen einzuziehen.
Laidlaw blieb stumm. Sie hatte den Blick so weit vom Boden erhoben, dass sie konzentriert auf einen Bildschirm in der Ecke starren konnte. Carlyle nahm den Stapel DVDs auf dem Boden neben dem Fernseher unter die Lupe. Die Zeichentrickfilme Postbote Pat und Duck Dodgers schauten unter einem Haufen typischer Pornostreifen hervor. Carlyle musste einen Brechreiz unterdrücken. Von allem anderen abgesehen war er ein großer Fan von Duck Dodgers, Daffy Ducks Persona als Weltraumheld im 24½. Jahrhundert, weil er viele Folgen zusammen mit Alice gesehen hatte, als sie kleiner war. Jetzt hätte er am liebsten losgebrüllt. Er beruhigte sich ein wenig und dachte daran, dass er wirklich das Jugendamt würde anrufen müssen.
»Was kann ich für euch tun?«, fragte er.
»Reden Sie mit Hagger«, erwiderte Amelia. »Machen Sie ihm klar, dass Sie ihn im Auge haben.«
Als ob das etwas ausmachen würde.
»Okay«, sagte Carlyle und seufzte. »Wo kann ich ihn finden?«
Die junge Frau sagte wieder nichts.
»An den üblichen Orten«, sagte Amelia.
Das engte die Suche ein, dachte Carlyle. »Ich fange im Intrepid Fox an«, sagte er zu niemand Bestimmtem, womit er den Namen eines Pubs in Soho ins Spiel brachte, wo Hagger sich gerne aufhielt.
Es klingelte an der Tür. Ohne ein Wort zu sagen, stand die junge Frau auf und schlurfte aus dem Zimmer.
»Das dürfte der Halb-einser sein.« Amelia gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, dass er sich auf die Socken machen solle. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Er ist zu früh. Der geile kleine Sack denkt offenbar, er kriegt auf diese Weise eine Verlängerung.«
»Wenn du in der Stimmung bist«, sagte Carlyle und grinste breit, »bist du in der Stimmung.«
»Könnte sein«, sagte Amelia und richtete den Blick an die Decke. Sie begleitete ihn zur Tür. »Vielen Dank, Mr Carlyle.«
»Ich sage Ihnen Bescheid, wie ich vorankomme«, erwiderte er, während er ihr glücklich den vollen Becher Kaffee zurückgab.
»Das ist nett.«
»Aber ich muss mit dem Jugendamt über Jake sprechen.«
Sie machte Anstalten, ihm zu widersprechen, ließ es dann aber bleiben.
Er milderte den Schlag ab. »Nur damit es noch jemanden gibt, der ihn im Auge behält.«
Amelias Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Jake wird von Herzen geliebt, Inspector.«
»Vielleicht wird er das.« Carlyle zuckte mit den Achseln. »Aber das ist nicht immer genug. Das Mädchen ist zu jung.«
»Sam tut ihr Bestes.«
»Der Junge ist schon vier. Wenn sich die Situation hier nicht ändert, und zwar schnell, dann ist sein Leben versaut.«
»Was kann sie denn sonst tun?«
»Sie kann Sozialhilfe beantragen«, zischte Carlyle, »wie alle anderen auch.«
»Was? Und von einhundertzwanzig Pfund pro Woche leben?«
»Es gibt Schlimmeres, als arm zu sein. Sie muss etwas aus sich machen.«
»Ich weiß.«
»Um des Jungen willen.«
»Ja.«
»Das ist Ihre Seite der Abmachung.«
Die Frau nickte. »Ich verstehe.«
»Dann habe ich Ihr Wort.« Carlyle lächelte mit so viel Begeisterung, wie er aufbringen konnte. »Sie können damit rechnen, dass ich Sie beim Wort nehme.«
Auf dem Weg nach unten kam Carlyle an einem schüchtern aussehenden Mann von mehr als fünfzig Jahren vorbei, der sich die Treppe hochschleppte, während er die Augen fest auf die Stufen vor sich gerichtet hielt. Draußen fühlte es sich in der Sonne noch heißer an als zuvor, als wäre die Temperatur um weitere fünf bis zehn Grad gestiegen. Die Luft wurde drückend, und es hatte den Anschein, als kämen die vorhergesagten Gewitter allmählich näher. Er hatte bohrende Kopfschmerzen von zu viel Koffein, und sein Verlangen danach, was im Revier auf ihn wartete, war auf so gut wie nichts gesunken. Da er unbedingt Flüssigkeit zu sich nehmen musste, ging er um die Ecke in die Earlham Street und kaufte sich in der Big Banana Juice Bar neben dem Cambridge Circus eine Flasche Wasser und einen Mango-Smoothie. Er trat vom Bürgersteig herunter zwischen zwei geparkte Autos und trank zuerst das Wasser und dann den Smoothie. Der Fopp-Musikladen in der Shaftesbury Avenue auf der anderen Straßenseite machte Reklame für The Clash von The Clash. Er wusste nicht, was er von dem grellen, pinkfarbenen Cover halten sollte, und er würde keine dreißig Mäuse für ein Buch ausgeben, aber er hatte Lust, einen Blick hineinzuwerfen. Für Carlyle waren The Clash immer noch die größte Rockband aller Zeiten. Er hatte sie ein paar Mal vor ihrem verfrühten Rücktritt gesehen, und er wollte ein bisschen in Erinnerungen an diese Tage seiner Jugend schwelgen.
Er warf seine leeren Flaschen in einen Abfallkorb, überquerte die Straße und ging in den Laden, wobei er die übliche Mischung aus Vergnügen und Schuldgefühlen empfand, weil er sich vor der Arbeit drückte, auch wenn es nur für kurze Zeit war.
Als er schließlich wieder in der Polizeistation Charing Cross eintraf, trödelte Carlyle an seinem Schreibtisch herum, weil er es immer noch nicht eilig hatte, in das Vernehmungszimmer zu gehen. Wenn Mills an seiner chilenischen Geschichte festhielte, würde es wahrscheinlich ein quälend langer Nachmittag werden. Carlyle hatte im Lauf der Jahre mit mehr Fällen häuslicher Gewalt zu tun gehabt, als ihm statistisch zustand, und es war immer ein Kampf, bei dem Stunden damit verbracht wurden, auf den Busch zu klopfen, nur damit man die förmliche Bestätigung für etwas bekam, was man bereits wusste. Die endlose Fähigkeit der Leute, sich selbst etwas vorzumachen, hörte niemals auf, ihn zu überraschen. Andererseits logen Zahlen nicht. Carlyle glaubte fest an Statistiken, und die Statistiken besagten, dass die meisten Opfer von Leuten getötet wurden, die sie kannten. Das war natürlich eine Binsenweisheit: Normalerweise sind die einzigen Menschen, die man so sehr verärgern kann, dass sie einen am liebsten umbringen möchten, die nächsten Verwandten. Carlyle konnte sich an mehrere Gelegenheiten erinnern, bei denen er in ernsten Schwierigkeiten gesteckt hätte, wenn Helen in dem Moment eine Pfanne in der Hand gehabt hätte – oder umgekehrt. Das war nur eine Realität des täglichen Lebens … und Sterbens.
Auf seinem Weg ins Untergeschoss kam er am Empfangstresen vorbei und musterte die übliche zusammengewürfelte Mischung von Bittstellern, die darauf warteten, auf die eine oder andere Art enttäuscht zu werden. Er nickte Sergeant Dave Prentice zu, der auf dem Ende eines Bleistifts herumkaute, während er irgendein Formular betrachtete, das vor ihm lag.
»Dave.«
Der diensthabende Sergeant zog den Stift aus dem Mund und schaute hoch. »John.« Er hatte den erschöpften Blick eines Mannes, der zu viel Zeit an der Front verbracht und versucht hatte, sich die Öffentlichkeit vom Leibe zu halten. Carlyle wusste wie jeder andere in der Station, dass er die Tage bis zu seinem sehnlich erwarteten Ruhestand in Theydon Bois zählte, einem Vorort am östlichen Ende der Central Line.
»Irgendwas Interessantes heute?«
»Eigentlich nicht.« Prentice wies mit einer Kopfbewegung zu einem kränklich aussehenden Mann, der in Kakihose und weißem Hemd auf einer der Bänke saß. »Der Typ da«, flüsterte er und grinste verstohlen, »behauptet, ein paar Schulmädchen hätten versucht, ihn in der National Gallery zu verprügeln.«
Carlyle schaute sich den Mann an. Es waren keinerlei Zeichen für einen Kampf an ihm zu sehen. »Wo sind die Schulmädchen?«
»Die sind abgehauen.«
»Das leuchtet ein.«
»Aber der Typ besteht darauf, Anzeige zu erstatten …« Prentice seufzte. »Was für ein Blödmann. Der kann eine Weile da sitzen bleiben. Ach egal, hast du von Dog gehört?«
»Nein. Was hat er jetzt schon wieder angestellt?«, fragte Carlyle. Walter Poonoosamy war ein ständiges Ärgernis im Viertel. Seinen Spitznamen verdankte er seiner bevorzugten Masche, mit der er Touristen anhaute, indem er sie um Bargeld zur Unterstützung seines fiktiven Haushunds bat, ein Labrador, der auf den Namen Lucky hörte.
»Man hat ihn gestern Nacht tot auf einer Kirchenbank in der Actors’ Church gefunden«, erklärte Prentice. »Der Pfarrer ist praktisch über ihn gestolpert, als er zumachte. Hat ihm offenbar einen ziemlichen Schreck eingejagt. Man nimmt an, es wäre ein Herzinfarkt gewesen. Er war erst vierundvierzig, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass er wie gut über sechzig aussah.«
»Das mag sein«, pflichtete Carlyle ihm bei. »Aber zumindest hat er die Quote geschlagen.«
Prentice schaute ihn zweifelnd an. »Wie meinst du das?«
»Ich habe irgendwo gelesen, dass die Lebenserwartung von Obdachlosen bei einundvierzig liegt. Wenn Dog es bis vierundvierzig geschafft hat, hat er das mit fast zehn Prozent übertroffen.«
Prentice zuckte mit den Achseln. »Man hat’s nicht leicht, aber leicht hat’s einen.«
»Ja«, sagte Carlyle, »so ist es.«
Oben wartete Joe auf ihn. Er mampfte ein Hühnchen-Sandwich, während er zwei Männern in Anzügen dabei zusah, wie sie den Raum zwischen den Schreibtischen mit Maßbändern aus Metall abmaßen.
Carlyle sah seinen Sergeant fragend an.
»Immobilienmakler«, erklärte Joe leise und steckte sich den Rest des Sandwichs in den Mund.
»Was?«, wollte Carlyle wissen. »Verkaufen wir die Station?«
»Wir kaufen sie.«
»Wie bitte?«
»Anscheinend«, sagte Joe, »wurde das Stationsgebäude vor mehreren Jahren als Teil eines gemischten Postens an einen Hedge-Fonds oder so was verkauft, und zwar im Rahmen eines Rückmietverkaufs. Mit der Verkaufssumme wurde ein schwarzes Loch in der Pensionskasse geschlossen. Jedenfalls kaufen wir das Haus jetzt, wo der Immobilienmarkt zusammengebrochen ist, wieder zurück. Der Police Review zufolge macht der Yard einen Gewinn von fünfzig Millionen Pfund.«
Carlyle beobachtete die beiden Männer, wie sie um eine Ecke verschwanden, um andere Dinge zu suchen, die sie vermessen konnten. »Besser als andersrum, nehme ich an. Aber wann sind wir aus Coppers zu Projektentwicklern geworden?« Er kratzte sich den Kopf. »Ist Henry Mills schon im Keller?«
»Ja.« Joe hatte seine Aufmerksamkeit inzwischen einem Schokoladen-Donut zugewandt, der dann in drei schnellen Bissen verschwand. »Er ist im Vernehmungszimmer sechs. Wir könnten anfangen.«
Carlyle, der den Beginn des Verhörs noch hinauszögern wollte, war mehr an Nahrungsaufnahme interessiert. »Ich werde mir was zum Essen holen«, sagte er. »Dann werde ich ein bisschen mit ihm plaudern. Trag in der Zwischenzeit alle Berichte zusammen, damit wir uns heute Nachmittag an die Durchsicht setzen können.«
»Wird gemacht.«
»Schon was von Bassett gehört?«
»Ja«, sagte Joe. »Er hat eine E-Mail mit seinen vorläufigen Ergebnissen geschickt. Nichts, was wir nicht schon wussten. Die Kraft, die zu ihrer Ermordung eingesetzt wurde, war größer, als man von einem alten Mann wie Henry Mills erwarten würde, aber bei dieser Art häuslicher Auseinandersetzungen weiß man ja nie.«
»Ganz recht.«
»Es sieht so aus, als wäre die Bratpfanne die Mordwaffe gewesen. Sie haben Haare und Haut in den Leitungen der Geschirrspülmaschine gefunden.«
»Irgendwelche Fingerabdrücke auf der Maschine?«
»Seine und ihre – ein paar verwischte. Aber keine anderen.«
»Gut. Schön und schnell.«
»Ja, sieht so aus, als hätten wir Bassett an einem guten Tag erwischt.«
»Wir alten Glückspilze. Sonst noch was?«
»Nicht wirklich«, sagte Joe und zuckte die Achseln. »Sie haben noch andere nicht identifizierte Fingerabdrücke in der Küche gefunden, aber das ist alles.«
»Damit war zu rechnen«, sagte Carlyle.
»Ja, aber ein paar von ihnen waren auf dem Fensterrahmen.«
Darüber dachte Carlyle einen Moment nach. »Drinnen oder draußen?«
»Drinnen«, erwiderte Joe. »Ich weiß nicht, ob sie draußen nachgesehen haben.«
»Frag Bassett. Ich frage mich, ob es chilenische Fingerabdrücke waren.«
Joe lachte. »Selbst der gewaltige Sylvester Bassett wird uns das nicht sagen können.«
»Schade. Egal, dann schau mal, was er uns sagen kann.« Noch ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Und sieh nach, ob du irgendwas über Agatha Mills auf Google finden kannst.«
Joe schaute ihn voller Zweifel an.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Carlyle und seufzte, »aber es ist fünf Minuten wert. Nur für alle Fälle. Vielleicht gibt es ja tatsächlich irgendeine chilenische Verbindung.«
Die Falten auf Joes Stirn wurden tiefer.
»Falls wir irgendwas finden, wird uns das helfen zu verstehen, aus welcher Richtung Mr Mills kommt«, insistierte Carlyle. »Uns den Weg an dem Blödsinn vorbei zu zeigen.«
Zwanzig Minuten, ein Käsesandwich und einen doppelten Espresso später saß Carlyle im Vernehmungszimmer sechs an einem Tisch Henry Mills und seiner Anwältin gegenüber, einer unscheinbaren, nervös wirkenden Frau, die mediterran aussah und auch so klang. Ein Polizist stand an der Tür, um dafür zu sorgen, dass die Spielregeln eingehalten wurden. Carlyle war dieser Anwältin noch nie zuvor begegnet, aber er wusste sofort, dass sie ihm keine Schwierigkeiten machen würde. Zumindest nicht bei diesem Fall. Ganz auf diesen Gedanken konzentriert, hatte er ihren Namen schon wieder vergessen, bevor sie ihn fertig buchstabiert hatte.
Unter der kalten Beleuchtung in dem
fensterlosen Raum und ohne den tröstenden Beistand des Famous
Grouse machte Mills einen aufgeregten Eindruck. Er war auf dem
besten Weg, trocken zu werden, und er war eindeutig nicht besonders
glücklich darüber. Er ist wahrscheinlich genauso wenig begeistert
von seiner Rechtsvertreterin wie ich, dachte Carlyle. Er legte
einen DIN-A5-Block auf den Tisch,
zog vorsichtig die Kappe von seinem Kuli und schrieb HM, 7/6 oben auf die
Seite. Das Verhör würde aufgezeichnet werden, aber er machte sich
gern seine eigenen Notizen. Mindestens neunundneunzig Prozent von
dem, was von den Bändern tran-
skribiert werden würde, wäre Unsinn – alles Ähms, Ahs und
anwaltliche Ausflüchte –, und er wollte keine Zeit damit
verschwenden, später durch diesen ganzen Morast zu waten.
»Wir haben hier über eine Stunde gewartet«, jammerte die Anwältin.
Du wirst pro Minute bezahlt, dachte Carlyle, also was kümmert es dich? Er versuchte, aufrichtig auszusehen. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er, bevor er das Tonbandgerät einschaltete und die Formalitäten hinter sich brachte. Als das geschehen war, beugte er sich vor und musterte Henry Mills, als wäre die Anwältin gar nicht da. Der Whiskygeruch in seinem Atem hatte sich verflüchtigt, aber er sah unglaublich müde aus, als ob seine neue Umgebung ihm etwas Leben ausgesaugt hätte. Der Raum war warm und stickig. Carlyle fühlte sich sogar nach seinem doppelten Espresso noch ein bisschen schläfrig. »Okay«, fuhr er beiläufig fort, »dann sagen Sie mir in Ihren eigenen Worten, was geschehen ist.«
Mills schaute die Anwältin an, die steif nickte. Er ließ die Hände auf den Tisch sinken, vermied den Blickkontakt und setzte zu dem Monolog an, an dem er, wie Carlyle wusste, seit dem Moment, als er früher an diesem Tag bei der Polizei angerufen hatte, in seinem Kopf herumfeilte. »Ich weiß wirklich nichts. Ich bin gegen halb zehn ins Bett gegangen. Agatha hörte in der Küche eine Sendung im Radio. Ich hab ein bisschen in dem neuen Buch von Roberto Bolaño gelesen – kennen Sie es?«
Roberto wer? Carlyle schüttelte den Kopf.
»Es hat neunhundert Seiten«, fuhr Mills fort, »und ich finde es ein bisschen anstrengend reinzukommen. Nach ein paar Seiten war ich müde, und ich muss das Licht vor zehn Uhr ausgemacht haben.« Er machte eine Pause, um das Gesicht auf eine Weise zu verziehen, die in Carlyles Augen gekünstelt wirkte. »Agatha bleibt oft länger auf als ich, deshalb war daran nichts Ungewöhnliches. Ich bin so um Viertel vor acht wach geworden, und als sie nicht da war, bin ich aufgestanden und hab sie gefunden … tot … und dann hab ich Sie angerufen.« Er schaute hoch und zuckte mit den Achseln. »Das ist alles. Ich weiß nicht, was ich Ihnen anderes sagen soll.«
Carlyle ließ ein paar Sekunden verstreichen. Das einzige Geräusch im Raum war das leise Surren des Tonbandgeräts. Er zählte im Kopf bis dreißig und wartete, um zu sehen, ob Mills sonst noch irgendwas von sich geben würde.
… 27, 28, 29, 30 …
Mills hielt den Blick auf den Tisch gerichtet und sagte nichts. Carlyle beschloss, noch dreißig Sekunden dranzuhängen.
… 58, 59, 60 …
Immer noch nichts. Die Anwältin machte mittlerweile den Eindruck, als habe sie alle Zeit der Welt. Schließlich sagte Carlyle: »Wie fühlen Sie sich?« Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er tatsächlich eine derart butterweiche Frage gestellt hatte. Er beachtete den überraschten Gesichtsausdruck der Anwältin nicht und starrte stattdessen Henry Mills mit Nachdruck an.
Von der Frage überrumpelt, dachte Mills eine Minute darüber nach. Carlyle konnte sehen, dass er mit seinen Gedanken rang und versuchte, sich eine ehrliche Antwort zurechtzulegen. Zum ersten Mal spürte er einen Stich Mitgefühl mit dem leicht derangierten Mann vor ihm. Ihm wurde auf einmal bewusst, dass er völlig verzweifelt wäre, wenn jemand Helen den Schädel eingeschlagen hätte – selbst wenn er es selbst gewesen wäre, der ihr den Schädel eingeschlagen hätte. Ein Leben ohne seine Frau, so kam es ihm vor, wäre ein trostloses Leben. Er würde eine Art Zombie werden genau wie der Mann vor ihm.
»Ich weiß nicht«, sagte Mills schließlich. »Wenn man morbid genug ist, um sich diese Dinge vorzustellen, erwartet man vermutlich, dass sie dramatisch sind, herzzerreißend, eine Achterbahn von Gefühlen. In Wirklichkeit ist es ein sehr ermüdender, langweiliger Tag gewesen. Ich hätte mit dem Scotch aufhören sollen, wie Sie mir gesagt haben, Inspector.«
Carlyle deutete eine Verbeugung an.
»Ich weiß, ich sollte so etwas sagen wie: Die Wirklichkeit hat mich noch nicht eingeholt, aber was die ›Wirklichkeit‹ ist, wird sich noch zeigen. Agatha und ich waren fast vierzig Jahre miteinander verheiratet, wir haben keine Kinder, und unser Leben könnte als ziemlich«, er dachte über das richtige Wort nach, »autark betrachtet werden.«
Carlyle nickte, versuchte nachdenklich auszusehen, forderte ihn auf weiterzureden.
»Damit will ich nicht sagen, wir hätten nebeneinanderher gelebt – so war es nicht. Wir hatten ein sehr angenehmes gemeinsames Leben, in dem keiner von uns das Gefühl hatte, Zugeständnisse zu machen.« Tränen traten in seine Augen, und er bemühte sich darum, dass seine Stimme gleichmäßig klang. »Zu sehen, wie sie da auf dem Boden lag – das war sie nicht. Das war nicht real. Das betraf nicht uns.«
Carlyle wartete auf mehr, aber es kam nicht mehr. Er warf einen Blick auf die Anwältin, die über die einleitenden Bemerkungen ihres Mandanten verwirrt schien. War das ein Geständnis oder nicht?
Carlyle schaltete das Tonbandgerät aus und wandte sich wieder an Henry Mills. »Ich möchte, dass Sie eine Pause machen«, sagte er sanft, »und dann können wir es noch mal versuchen. Reden Sie mit Ihrer Anwältin hier. Sie wird wissen, was für Fragen im Einzelnen ich Ihnen stellen werde. Wenn Sie schließlich Ihre vollständige Aussage gemacht haben, wird es eine Weile dauern, bis wir das Beweismaterial gesichtet haben. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt – und das kann alles Mögliche sein –, das zur Lösung Ihres Falls beiträgt, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, es mir zu sagen. Und wenn Sie dann Ihre Geschichte ändern möchten, können wir diese Angelegenheit schnell geregelt kriegen, und Sie können sich ausruhen.«
Er war fast wieder bei seinem Schreibtisch im dritten Stock angelangt, als er spürte, dass sein Handy in der Gesäßtasche seiner Jeans vibrierte. Als er sah, dass es seine Frau war, nahm er das Gespräch an.
»Hallo.«
»John. Du musst zur Schule fahren.« Helens Ton war angespannt. »Es hat eine Bombendrohung gegeben …«