Einundzwanzig

Rosanna Snowdon saß auf dem Beifahrersitz des BMW und verfluchte den nächtlichen Stoßverkehr. Sie hoffte, der Stau würde sich auflösen, damit sie es bis nach Hause schaffte, bevor sie sich übergeben musste. Die Flasche Rioja aus dem Supermarkt, nachdem sie die letzte Ausgabe von London Crime im Kasten hatte, war keine gute Idee gewesen – auf die beiden doppelten Wodka, die sie vor Aufzeichnung ihrer Sendung getrunken hatte, um sich zu entspannen. Sie hatte sich geschworen, beim Alkohol etwas Zurückhaltung zu üben, aber der Plan war den Bach runtergegangen, als der Chef ihres Chefs sie zum soundsovielten Mal anzumachen versuchte. Alkohol war ein entscheidender Bestandteil ihrer Bewältigungsstrategie, wenn es darum ging, die unerwünschten Aufmerksamkeiten von dicken Fernsehbonzen im virilen Klimakterium abzuwehren, etwas, worin Rosanna jede Menge Erfahrung gesammelt hatte.

Dass das Management den talentierten Nachwuchs »betreute«, hatte in der BBC eine lange Tradition. Es war etwas, dem sie sich immer robust widersetzt hatte, selbst wenn ihre Möchtegern-Liebhaber sich erhebliche Mühe gaben. Ian Dale, der Chefredakteur der Abteilung Factual Programming, London, verfolgte seinen »kleinen Star« mittlerweile fast seit einem Jahr. Wenn Rosanna auch nicht direkt in einer Position war, in der sie ihm sagen konnte, er solle sich verpissen, so tat sie andererseits nichts, was ihn hätte ermutigen können. Jetzt hatte er ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren. Das hätte ein großes Warnsignal sein sollen, aber sie war betrunken und müde und hatte keinen Bock, auf ein Taxi zu warten, was zu dieser nachtschlafenden Zeit Stunden dauern konnte. Es war schon fast Mitternacht, und sie musste morgen früh um acht wieder im Studio sein. Jedenfalls war sie, ob betrunken oder nicht, überzeugt, dass sie mit Dale fertig-
werden konnte. Wenn alle Stricke rissen, gab es noch ihre Trumpfkarte, die Handynummer seiner Frau Erica, die sie sich klugerweise von Dales Sekretärin besorgt hatte, als klar wurde, dass er auf lange Sicht ein Ärgernis bleiben würde. Die Nummer war in ihr eigenes Telefon programmiert. Falls er zu weit ging, konnte sie einfach Mrs Dale anrufen, ihrem Mann das Handy geben und ihm die Erklärung überlassen.

Endlich hatte es der BMW über die letzten Verkehrsampeln geschafft und bog in die Gladstone Terrace ein. Vor ihrem Mietshaus fuhr Dale in eine Nur für Motorräder gekennzeichnete Parkbucht und schob den Schalthebel in den Leerlauf. »Gold« von Spandau Ballet begann im Autoradio. Rosanna wusste nicht, ob sie es rechtzeitig in ihr Apartment schaffen würde; falls nicht, konnte sie in die Büsche auf beiden Seiten der Haustür ausweichen. Das wäre nicht das erste Mal, dachte sie reumütig.

»Das war sehr nett, Ian, vielen Dank.« Noch bevor der Wagen zum Stillstand gekommen war, versuchte sie, den Sitzgurt zu lösen und die Flucht zu ergreifen. In ihrem beschwipsten Zustand erwies sich dieses Vorhaben allerdings als schwierig.

Dale merkte, welche Probleme sie hatte, und grinste lüstern. »Komm, lass mich helfen.«

Er legte ihr eine Hand aufs Knie und griff mit der anderen nach dem Schloss des Sitzgurts, wobei er unterwegs ihre linke Brust betatschte.

»Ian!« Es kam weniger als Schrei, eher als Quieken heraus. Mit einem Klick kam der Gurt frei, und er hing praktisch auf ihr drauf. Sie konnte seinen Schweiß riechen und sein Keuchen hören. Sie versuchte, energisch zu klingen: »Runter von mir.«

Er grunzte nur und begrapschte sie weiter, versuchte, ihr seine Zunge in den Mund zu stecken. Er lag jetzt praktisch über ihr und war zu schwer, als dass sie ihn hätte herunterstoßen können. Das Gefühl von Übelkeit war überwältigend. Eine Hand wurde ihr zwischen die Beine geschoben. Von neuem Kampfgeist erfüllt, stach sie ihm mit dem Daumen ihrer rechten Hand voller Absicht ins linke Auge.

Er nahm sofort beide Hände vors Gesicht und ließ sich zurück auf den Fahrersitz fallen. »Teufel! Mein Auge! Ich kann nichts mehr sehen.«

Rosanna brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie keinen Gurt mehr trug. Aber dann spürte sie in dem Moment, als sie die Tür öffnen wollte, einen furchtbaren Schmerz in der Bauchgegend. Sie drehte sich wieder zu Ian Dale um und konnte den Ausdruck des Entsetzens in seinem heilen Auge erkennen, als sie zu kotzen begann. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, dass sich ein gewaltiger Strom von Erbrochenem auf sein Hemd ergoss und dann in seinem Schoß sammelte. Schließlich verebbte der Brechreiz. Rosanna ließ sich einen Augenblick Zeit, um sich davon zu überzeugen, dass nichts mehr nachkommen würde, bevor sie ein paar tiefe Atemzüge durch den Mund nahm. Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche, tupfte sich geziert den Mund ab, bevor sie es zu einer Kugel zusammenrollte, die sie in den Haufen Erbrochenes warf. »Puuh!« Sie grinste, während sie sich eine Träne aus dem Auge wischte. »Jetzt geht es mir deutlich besser.«

Ian Dale hatte ein Auge immer noch zugekniffen. Das andere quoll entsetzt hervor. Es machte den Eindruck, als wolle er anfangen zu weinen. Der Innenraum des Wagens sah absolut schrecklich aus, und der Geruch war echt widerwärtig.

Rosanna öffnete die Beifahrertür und stellte die Füße auf den Bürgersteig. »Das hier ist das Auto von deiner Frau, nicht wahr?«, fragte sie, wobei sie sich umdrehte, um sich noch einmal anzuschauen, was sie angerichtet hatte. »Es sieht so aus, als würdest du in einen gewissen Erklärungsnotstand geraten, wenn du zu Hause ankommst.«

»Kann ich wenigstens reinkommen und mich etwas sauber machen?«, jammerte er.

»Machst du Witze?«, fragte Rosanna, die sich aus ihrem Sitz herauswand. »Nachdem du gerade versucht hast, mich zu vergewaltigen?«

»Was?« Diesmal gab er einen Schluchzer von sich. »Es war keine Vergewaltigung.«

»Nein, aber es hätte durchaus eine sein können«, sagte Rosanna. Sie fühlte sich jetzt nüchtern, und, was noch besser war, sie hatte die Situation im Griff. »Dann sagen wir, wir sind quitt. Solltest du aber noch hier stehen, wenn ich oben bin, rufe ich die Polizei an. Und dann rufe ich Erica an.«

»Aber …« Dales Einsprüche blieben ihm im Hals stecken.

»Ich bin überzeugt, dass Mrs Dale von dem Sexualtrieb, den du in deinem Alter immer noch an den Tag legst, sehr beeindruckt wäre.«

Bei der Erwähnung seiner Frau legte Dale endlich den Gang ein und löste die Handbremse.

»Gut gemacht, Ian«, sagte Rosanna und richtete sich auf. »Du bist ein braver Junge. Und vergiss nicht, du kommst tatsächlich sehr leicht davon. Einen schönen Abend noch, und wir sehen uns morgen.« Sie knallte die Tür fest zu, nahm die Schultern nach hinten und ging so gerade sie konnte auf die Haustür zu.

Die Fenster des rostigen alten Peugeot 307 waren ganz nach unten gedreht worden, aber der Geruch in dem Wagen war immer noch ekelerregend. Es war so, als hätte sich jemand übergeben und sich anschließend in einem Nest aus Fast-Food-Verpackungen zusammengerollt und wäre unter einem der Vordersitze gestorben. Selbst mit seinen Latexhandschuhen zögerte der Mann, irgendetwas anzufassen. Er hatte bereits beschlossen zu duschen, wenn er in seine Wohnung zurückkäme – zweimal.

Er streckte den Kopf aus dem Fahrerfenster, um kalte Luft einzuatmen, und zündete sich noch eine Zigarette an, wobei er darauf achtete, den Stummel der vorhergehenden in seine Jackentasche zu stecken. Als der Rauch in seine Lunge drang, fühlte er sich zumindest ein bisschen besser. Er wartete inzwischen mehr als zwei Stunden vor der heruntergekommenen Studentenkneipe in North London. Jedes Mal, wenn ein Grüppchen Gäste herauskam, ging seine Hand zum Zündschloss, um den Wagen anzulassen. Aber bislang war seine Zielperson nicht erschienen.

Jede Minute, die auf der elektronischen Uhr des Wagens verstrich, verstärkte seinen Verdruss. Er versäumte wegen dieser Sache ein Pokerspiel, und er liebte das Pokern, auch wenn es eine teure Angewohnheit war. Er knirschte mit den Zähnen und dachte daran, wie lächerlich es war, dass er hier sitzen und warten musste. In jedem anständigen Land wäre es möglich, dass er jemanden beauftragte, der direkt in den Cow Pub hineinginge, der Frau zwei Schüsse aus seiner .45er in den Kopf jagte, die Waffe auf den Boden fallen ließe und wieder hinausginge. Keine Fragen, keine Probleme, kein Comeback, und man bekäme auf hundert Dollar noch was raus. Aber das hier war kein anständiges Land, wie er sehr wohl wusste. Das Wetter war scheußlich, Rauchen fast ein Straftatbestand, und Leute in der Öffentlichkeit zu erschießen, galt als »schlechtes Benehmen«.

Der Gedanke ließ ihn auflachen. In schlechtem Benehmen war er gut.

Er schaute auf seine Uhr: zehn vor zwölf. Er gähnte und begann, in der Nase zu bohren.

Als sie schließlich auftauchte, schnippte er gerade einen Popel nach einem vorbeilaufenden Straßenköter.

»Erfreut, Sie zu sehen«, murmelte er.

Endlich hatte er nach all dieser Zeit eine Chance serviert bekommen. Sie war allein, sang leise zu einem Lied auf ihrem iPod und schwankte zu der Musik. Wahrscheinlich betrunken.

Perfekt.

Er startete den Motor und schaute zu, wie sie in einer Entfernung von etwa zwanzig Metern zwischen zwei geparkte Wagen trat. Sie schaute hinter einem kleinen Ford auf die zweispurige Straße und sah, dass aus beiden Richtungen kein Verkehr kam. Sie überquerte die Straße zur Hälfte, bevor sie merkte, dass der Bürgersteig auf der anderen Straßenseite wegen Ausbesserungsarbeiten abgesperrt war. Sie wandte ihm den Rücken zu und ging weiter auf der Straße in Richtung der Ampeln an der nächsten Kreuzung.

Er manövrierte seinen Peugeot vorsichtig aus der Parklücke hinaus auf die Straße. Sie war jetzt dreißig Meter vor ihm, als er mit dem Fuß fest auf das Gaspedal trat. Als sie begriff, was da geschah, war er unmittelbar hinter ihr. Sie drehte sich halb um, und die Ungläubigkeit hatte kaum Zeit, auf ihrer Miene zum Ausdruck zu kommen. Es gab einen befriedigenden dumpfen Aufprall, bevor sie über die Kühlerhaube des Wagens flog und auf die Straße geschleudert wurde.

Ob sie ihn erkannt hatte? Es war unwahrscheinlich, aber er hoffte es. Er wollte, dass sie wusste, warum – warum das hier mit ihr geschah; warum sie hatte sterben müssen. Das sollte der letzte Gedanke sein, der ihr durch den Kopf kroch, während sie sich von dieser Welt verabschiedete.

Er schaute nach hinten und sah, dass die Straße immer noch leer war – keine Zeugen, keine Reaktion, genug Zeit für ihn, zurückzufahren und zu überprüfen, ob er seine Sache anständig erledigt hatte. Aber in diesem Moment wurden seine Gedanken von einer schrillen Hupe unterbrochen. Er rollte, bevor er sich darüber klar wurde, über die Kreuzung, vorbei an einer roten Ampel und hätte fast ein schwarzes Taxi erwischt, das an ihm vorbeibrauste.

»Heilige Muttergottes!«, fluchte er und brachte den Peugeot zum Stehen.

Das Taxi bremste mit quietschenden Reifen auf seiner Linken. Er konnte sehen, wie der Fahrer ausstieg und mit wütendem Blick auf ihn zukam. Der Mann hatte die Frau noch nicht gesehen, aber es kam nicht mehr infrage, dass er zurückfuhr. Das machte nichts: Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass sie immer noch mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt lag. Er hatte sie mit ziemlicher Geschwindigkeit getroffen. Sie würde nicht mehr aufstehen. Er war zuversichtlich, dass sein Job getan war. Ein zweites Mal trat er das Gaspedal durch, ließ die Flüche des Taxifahrers hinter sich ungehört verhallen und fuhr davon in die Nacht.