Neunzehn

»Schau dir das mal an – es ist wirklich komisch«, sagte Dominic Silver.

Carlyle grunzte unverbindlich, während er an einem Caffè Latte nuckelte, der für seinen Geschmack viel zu kalt war. Er bat immer darum, ihn »extra heiß« zu servieren, und die brasilianische, indische, ukrainische, was auch immer Bedienung hinter der Theke nickte fröhlich und servierte ihm anschließend etwas, das kaum lauwarm war. Es trieb ihn zum Wahnsinn. Oft brachte er ihn zurück und beklagte sich; brachte sie dazu, ihm einen neuen zu machen. Einmal hatte er ein solches Theater gemacht, dass der Geschäftsführer ihm auf die Straße nachkam und ihm drohte, ihm ein paar Tritte zu versetzen. Es war ein großartiges Beispiel für den klassischen britischen Kundendienst in höchster Vollendung. Carlyle hätte ihn am liebsten auf der Stelle festgenommen, wenn er nicht schon zu spät für einen Gerichtstermin gewesen wäre.

Heute Morgen weigerte er sich allerdings, sich über seinen Kaffee aufzuregen. Stattdessen wollte er einfach so viel Koffein wie möglich in seinen Organismus bekommen, ob kalt oder nicht, um den Umstand auszugleichen, dass er nicht mehr zugedeckt in seinem Bett lag. Zwanzig Meter entfernt kreischte Alice vor Vergnügen, während zwei Jungen sie um einen Baum verfolgten. Als sie von ihnen gefangen wurde, kreischte sie noch mehr. Carlyle spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, während er ihr zuschaute. Wie verdrießlich er auch gewesen sein mochte, weil er hier um zehn Uhr am Sonntagmorgen mitten im Regent’s Park stand – dies wurde mehr als hundertfach durch sein Vergnügen aufgewogen, dass er Zeuge werden durfte, mit welcher Freude seine Tochter an einem frischen Sommertag, an dem die Welt voller Verheißung schien, Fangen spielte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie viel sie als Einzelkind versäumte. Dabei war es nicht so, als könnten sie daran im Moment viel ändern.

Die beiden Jungen, Tom und Oliver Silver, waren ein Jahr älter und eins jünger als Alice. Sie waren die jüngsten von fünf Kindern, die Dominic Silver und Eva Hollander gemeinsam hatten. Dass Dominic und Eva es geschafft hatten, fünf Kinder zu produzieren, machte Carlyles Bedenken, dass Alice keine Geschwister hatte, nur noch größer. Die pragmatische Helen schlug vor, sie sollten einfach dankbar dafür sein, dass Alice zwei gebrauchsfertige Spielkameraden hätte.

Seine Frau hatte diese Verabredung zum Spielen schon vor einigen Tagen mit Eva arrangiert, Carlyle aber erst am Vorabend davon erzählt – damit er sich keine Ausrede zurechtlegen konnte, weshalb er nicht mitkommen könnte. Er fragte sich, ob es Dominic genauso ergangen war. Leute in Dominics Branche waren nicht dafür bekannt, dass sie morgens früh aus dem Bett kamen, aber Dominic war ein großer Familienmensch, und deshalb vermutete Carlyle, dass er es ähnlich gelassen nahm, hier zu sein. Die Frauen lagen wahrscheinlich beide immer noch im Bett und genossen es auszuschlafen, aber ihre Männer hatten begriffen, dass man es akzeptieren musste, von seiner besseren Hälfte häufiger ausmanövriert zu werden.

Die beiden Männer waren glücklich damit, die Kinder sich austoben zu lassen, nahmen auf einer Bank Platz und betrachteten die Aussicht, die sich ihnen nach Westen über die Spielplätze bis zur Londoner Zentralmoschee bot, in ungezwungenem Schweigen. Sie kannten sich so gut, dass sie es nicht nötig hatten, Small Talk zu machen. Ihre Beziehung reichte zurück bis zu ihrer Polizeiausbildung am Hendon College in den frühen Achtzigerjahren.

Dominic war ein waschechter, hundertprozentiger Cockney. Er kam aus East London und war ein Fan von West Ham United. Carlyle kam aus West London und unterstützte Fulham. Als sie das College verließen, wurden beide sofort zur Bekämpfung des bitteren Bergarbeiterstreiks abkommandiert. Sie hatten eine Menge Zeit damit verbracht, an der Streikpostenkette wie verrückt Speed einzuwerfen, das sie Dominics griffbereitem Vorrat an Amphetaminen verdankten. Sie waren beide Außenseiter gewesen, Provokateure, hatten unbequeme Fragen gestellt. Sie waren reizbare Mistkerle – aber zuverlässige reizbare Mistkerle, immer bereit, mehr als ihren Anteil an der Drecksarbeit zu tun, und mehr als glücklich, Überstunden zu machen. Das waren in ihrem Fall so viele Gemeinsamkeiten, dass sie während der Vierzehn-Stunden-Schichten fern von zu Hause zu guten Freunden wurden.

Sobald der Streik vorüber war, hatte Dom nicht mehr viel für das relativ geruhsame Leben eines Streifenpolizisten übrig. In ihm nagte ein Unternehmergeist, und am Ende hatte er einfach zu viel Elan, um bei der Polizei zu bleiben. Innerhalb eines Jahres nach dem Ende des Streiks verließ er die Metropolitan Police und machte sich selbstständig. In den ersten Tagen hatte er Carlyle einmal gefragt, ob er sich nicht mit ihm zusammentun wolle. Aber damals konnte Carlyle sich so wenig wie heute vorstellen, für einen Drogenhändler zu arbeiten. Selbst wenn er eher zwiespältig darüber dachte, was Dominic beruflich machte, wollte er bestimmt nicht darin verwickelt werden.

Im Lauf der folgenden Jahre hatten sich ihre Wege oft gekreuzt, manchmal zufällig, manchmal indem der eine an den anderen herangetreten war. Das war nicht sonderlich überraschend: Sie hatten viele gemeinsame Interessen angesichts der Art und Weise, wie Dominic Silver seinen Lebensunterhalt verdiente. Fast drei Jahrzehnte später war Carlyle ein unauffälliger Berufspolizist, während Dominic Silver innerhalb bestimmter Abteilungen der Metropolitan Police eine Art Großstadtlegende geworden war. Als Sohn und Neffe zweier Polizeibeamter war er der klassische Fall eines braven Jungen, der eine Wendung zum Bösen genommen hatte, aber mit einer Ehrlichkeit und einem Stil, der sogar vom kompromisslosesten Copper noch ein wenig Wohlwollen erfuhr. Selbst jetzt gab es in den Augen vieler Polizeibeamter immer noch einen Teil von Dom, der »einer von uns« blieb.

Andererseits gab es auch einen großen Teil von Dominic Silver, der sein Leben in Uniform längst hinter sich gelassen hatte. Inzwischen war Silver auf seinem beruflichen Höhepunkt angelangt und vielleicht in der dritten oder vierten Reihe der Drogenbarone von ganz London. Das war kein schlechter Platz, relativ gemütlich, weil er die Probleme vermied, mit denen sich jene über ihm auf der Leiter wie auch jene unter ihm konfrontiert sahen. Sein Unternehmen schlug jährlich vielleicht Millionenbeträge im einstelligen Bereich um, und sein Kundenkreis umfasste einige zweitrangige Prominente und neuere Eintragungen im Who’s who. Trotz der Rezession hatte er sogar zwei Firmenkunden, die immer noch auf Rechnung kauften.

Dominic hatte sein Unternehmen langsam aufgebaut, Schritt für Schritt, dabei immer Konflikte vermieden und Probleme nach Möglichkeit gelöst, ohne Gewalt anzuwenden. Während aus Jahren Jahrzehnte wurden, wuchs sein Ansehen. In einer Branche, wo es selten vorkam, dass jemand drei Jahre überlebte, kam es einem größeren Wunder gleich, wenn jemand beinahe drei Jahrzehnte überlebt hatte. Er war nie irgendeiner Straftat wegen verhaftet, geschweige denn verurteilt worden. Er war nicht durchgeknallt und ließ sich seinen Erfolg oder das sogenannte »leichte« Geld nicht zu Kopf steigen. Und er versuchte sich auch nicht an all dem fiesen, mit Drogen in Beziehung stehenden Mist, insbesondere Prostitution, moderner Sklaverei und Menschenschmuggel.

Mit anderen Worten, er war kein Durchschnittsverbrecher.

Entscheidend für seinen Erfolg war eine sehr pragmatische Einstellung zum Geld. Dominic hatte es nie deutlich gesagt, aber Carlyle war sich dunkel der Tatsache bewusst, dass er einen hohen Anteil seiner Einnahmen im Austausch für Schutz an seine Hauptlieferanten abtrat. »Ich bin einerseits freiberuflich, andererseits nicht«, hatte er Carlyle mal erzählt, »einerseits unabhängig, andererseits nicht. Im Grunde genommen lagern sie diesen Teil ihrer Unternehmungen an mich aus. Es ist wie bei allem anderen auch – wenn ich schneller und billiger bin und weniger Ärger mache, kriege ich den Job.«

Da Carlyle selbst ebenfalls pragmatisch war und seine Grenzen kannte, war er sich bewusst, dass sie viel miteinander gemeinsam hatten. Es gab viele Dinge an Dominic Silver, die er regelrecht schätzte. Im Lauf der Jahre hatte Dominic seine Lausbubenmanier abgelegt und war ernsthafter geworden. Er hatte am Queen Mary College einen Abschluss in Betriebswirtschaft und Unternehmensführung gemacht und sah mit seinem grau werdenden schulterlangen Haar und seiner randlosen Brille wie ein Schriftsteller oder Akademiker oder vielleicht der Keyboardspieler in einer Kuschelrockband wie Genesis aus. Für jemanden mit einem Nettovermögen von an die fünfzig Millionen pflegte Dominic einen sehr anspruchslosen Lebensstil. Er stand nicht auf Klunker und verhielt sich sehr unauffällig. Er nahm keine Drogen. Er rauchte nicht und trank nur selten Alkohol. Er ging regelmäßig ins Fitnesscenter und hielt sich in Form – obwohl er knapp einen Meter achtzig war, wog er kaum mehr als siebzig Kilo.

Kurz gesagt, ihre Beziehung war beständig und herzlich. Sie war nicht kompliziert, aber sie war auch nicht sehr transparent. Keiner von beiden hätte sie unbedingt aufbauen wollen, wenn sie nicht bereits bestanden hätte, aber sie konnten sowohl ihre Vorteile wie auch ihre Schattenseiten sehen. Natürlich konnte Carlyle nie gegen ihn ermitteln, selbst wenn er es gewollt hätte: Er wäre kompromittiert durch die Gefälligkeiten, die Dominic ihm in der Vergangenheit erwiesen hatte. Aber er war zuversichtlich, dass er in der Beziehung nicht allein stand: Seit Jahren ging das Gerücht, dass Silver weiter oben in der Nahrungskette – sowohl innerhalb von Scotland Yard als auch außerhalb – ernsthafte Beschützer hatte. Außerdem hatte er einen engen inneren Kreis von Beratern, zu dem Carlyle als Teil einer unausgesprochenen Gegenleistung für Dominics Hilfe, wann immer er sie brauchte, von Zeit zu Zeit hinzugezogen wurde.

Carlyle hatte ein äußerst zwiespältiges Gefühl angesichts ihrer Beziehung. Falls jemand beschloss, dies gegen ihn einzusetzen, wusste er, was das für seine berufliche und familiäre Zukunft bedeuten konnte. Das bereitete ihm ein gewisses Kopfzerbrechen, aber in Wirklichkeit verhielt es sich so, dass es zu spät war, um deshalb irgendetwas zu unternehmen.

Carlyle sah zu, wie Dominic an seinem Handy herumfummelte. Er fand schließlich den Filmausschnitt, den er suchte, und drückte auf die Abspieltaste. »Am Anfang ist eine Menge Scheiß drauf, aber es lohnt sich, auf das Kabinettstück zu warten.«

»Hmh-mhm.«

Dominic hielt ihm das Telefon hin. »Komm schon, sieh es dir an.«

Während er das Handy in Empfang nahm, sah Carlyle zu, wie Alice, gefolgt von Tom und Oliver, durch irgendein Fußballspiel rannte. Er drehte sich um und schaute auf den Videofilm, der auf dem winzigen Display des Handys ablief, ohne es genau in den Blick zu nehmen. Seiner Ansicht nach waren Handys für Telefongespräche gedacht. Seit wann mussten alle auf einmal ihre eigenen Videofilme machen? Er schaute wieder zu den Kindern hinüber, um sich zu überzeugen, dass sie sich nicht zu weit entfernten. »Was ist das?«, fragte er.

»Das ist ein Typ namens Jerome Sullivan.«

»Wer ist das?«

»Er ist – war – im gleichen Geschäft wie ich. Kein richtiger Konkurrent, aber ich bin ihm ein paar Mal begegnet.«

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Carlyle, der mittlerweile misstrauisch geworden war, weil es um geschäftliche Dinge ging.

»Er hat sich in den Kopf geschossen«, sagte Dominic amüsiert.

»Was?« Carlyle nahm das Handy unter die Lupe. »Er hat sich dabei gefilmt, wie er Selbstmord beging? Ich hätte nicht gedacht, dass Leute in deiner Branche zu Depressionen neigen.«

»Nicht ganz.« Dominic grinste. »Er hat einem Kumpel gegenüber eine Show abziehen wollen und nicht gemerkt, dass noch eine Patrone in der Kammer war.«

Carlyle beobachtete, wie Jerome sich die Pistole an den Kopf setzte. »Darwinismus in Aktion.«

»Das hat ihn allerdings nicht umgebracht«, sagte Dominic fröhlich. »Das Geschoss ist irgendwie von seinem Schädel abgeprallt und hat sein Gehirn verfehlt.«

»Was vermutlich winzig war«, sinnierte Carlyle.

»Bestimmt.« Dominic lachte. »Was ihn tatsächlich umgebracht hat, war der Sturz über dreißig Meter vom Dach seines Hauses.«

»Was für eine erstaunliche Leistung«, sagte Carlyle. Und dann: »Wie bist du an das Video gekommen?«

»Das haben jetzt eine Menge Leute«, sagte Dominic. »Jeromes Bekannte waren der Polizei gegenüber ungewöhnlich kooperativ. Keiner von ihnen wollte beschuldigt werden, ihn umgebracht zu haben.«

»Das ist verständlich.« Als der Videofilm zu Ende war, drückte Carlyle aus Langeweile noch mal auf die Abspieltaste und schaute sich die letzten Augenblicke des Jerome Sullivan wieder von vorn an. Wenn man nicht wusste, was passiert war, wäre man nicht in der Lage zu sagen, ob der Film echt oder gestellt war.

»Sie werden gleich etwas zum Trinken haben wollen«, sagte Dominic plötzlich und wies mit dem Kopf zu den Kindern hinüber, die in ihre Richtung gelaufen kamen.

»Ja«, stimmte Carlyle zu. Aber der Gedanke war schnell beiseitegeschoben, als seine Aufmerksamkeit von etwas anderem in Anspruch genommen wurde. Er hielt den Sullivan-Film noch mal an und ging zurück zum Anfang. Dann ließ er ihn fünf oder sechs Sekunden laufen und fror das Bild in dem Moment ein, wo einer der anderen Männer auf dem Dach in gespielter Kapitulation die Hände in die Luft streckte. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich das Handy näher ans Gesicht, bis es nur noch ungefähr zehn Zentimeter von seiner Nase entfernt war. Die Bildqualität war schlecht, aber wenn man wusste, wen man vor Augen hatte, konnte man das Gesicht des Mannes erkennen.

»Dominic«, fragte er, »was macht Michael Hagger in diesem Film?«