Zweiunddreißig

»Dein toter Freund ist hier.«

Carlyle hatte sich beim Mittagessen im Il Buffone Zeit gelassen, als ihn ein Anruf von Dave Prentice erreichte, der wieder an seinen normalen Platz hinter dem Empfangstisch in der Polizeistation Charing Cross zurückgekehrt war.

»Keine Angst«, sagte Prentice und lachte, »es sieht so aus, als wollte er sich zu einer netten langen Ruhepause niederlassen. Falls er sich nicht in die Hose macht, lasse ich ihn in Frieden.«

»Danke, Dave. Ich bin in etwa zehn Minuten da.« Der Inspector kehrte wieder zu der Story mit der Überschrift GESCHLECHTSWECHSEL: POLIZEISKANDAL zurück, die er in der Zeitung von diesem Morgen gelesen hatte. Es ging um die finanzielle Unterstützung der National Trans Police Association mit Steuergeldern, ein Verband, der Polizeibeamten mit »Problemen der Geschlechtsidentität« half. Car-
lyle hatte noch nie davon gehört. Irgendein kommentierungssüchtiger Parlamentarier, von dem er auch noch nie gehört hatte, beklagte sich: »Mir ist es egal, ob ein Polizeibeamter schwul, hetero, transsexuell oder sonst was ist. Ich will nur, dass er Verbrecher schnappt.« Viel Glück damit, dachte Carlyle amüsiert, während er Marcello die Zeitung zurückgab und sein Mittagessen bezahlte.

Draußen war ein wunderschöner Nachmittag, und er ließ sich Zeit damit, zurück zu seinem Arbeitsplatz zu schlendern. Als er sich der Jubilee Hall näherte, spürte er Gewissensbisse: Es war fast eine Woche her, seit er das Fitnessstudio besucht hatte, und das war in seinem Alter nicht genug. An Dennis Felix’ altem Stammplatz kam er an einem Straßenmusikanten vorbei, der etwa einem Dutzend gelangweilt aussehender Touristen eine schreckliche Interpretation von Abbas »Fernando« vorspielte. Er überlegte kurz, was mit dem armen Kerl und seinen anthraxinfizierten Bongos wohl geschehen war. In dem Imbisswagen überreichte ein Junge einem erwartungsvollen Kind ein Eis. Von Kylie – dem einzigen Menschen auf dem Planeten, der sich Dennis’ Tod zu Herzen zu nehmen schien – war nichts zu sehen. Das ist so ein Laden, dachte Carlyle. Die Leute kommen und gehen.

Als er in die Station kam, fand er Walter Poonoosamy alias »Dog« in seiner üblichen Haltung vor, zusammengesackt in einer Ecke des Warteraums und laut schnarchend. Er war prächtig gekleidet in einer Hose im Schottenmuster und einem ziemlich neu wirkenden Prodigy-T-Shirt – das Letztere zweifellos im Oxfam-Laden an der Drury Lane geklaut, vermutete Carlyle – und wiegte eine fast leere Wodkaflasche in den Armen, als wäre sie ein Baby. Ausnahmsweise schien er nicht allzu schlimm zu riechen, obwohl er noch ein gutes Stück von einem angenehmen Geruch entfernt war. Aus einem angemessenen Abstand weckte ihn Carlyle durch einen Stups. Langsam öffnete Dog die Augen. Er richtete sich leicht auf und starrte den Inspector an. Ein Flackern des Wiedererkennens kroch über seine Miene, bevor er wieder die Augen schloss. Das Schnarchen begann sofort wieder und war womöglich noch lauter, als es vorher gewesen war.

Diesmal gab Carlyle ihm einen kurzen Faustschlag auf die Schulter.

»Autsch!« Dog setzte sich augenblicklich aufrecht hin und rieb sich den Arm. »Warum haben Sie das gemacht?«

»Aufgewacht, alte Schlafmütze.« Carlyle wedelte mit einer Hand vor dem Gesicht des Trunkenbolds, um dafür zu sorgen, dass er ihm aufmerksam zuhörte. »Hätten Sie gern eine Tasse Tee?«

Eine Art Grinsen erschien auf Dogs Gesicht. »Das wäre schön.«

Carlyle hockte sich hin, fischte zwei Pfundmünzen aus der Tasche und hielt sie hoch, damit Dog sie inspizieren konnte. Mehr als genug für eine Tasse Tee. Noch besser: genug für eine Dose Special Brew vom Kiosk um die Ecke – falls der Inhaber zu einem bisschen Feilschen aufgelegt war. »Sehen Sie sich zuerst etwas für mich an, dann gebe ich Ihnen das Geld.«

Dog gab ein Grunzen von sich, das Carlyle als Zustimmung interpretierte. Er zog rasch ein zusammengefaltetes Stück DIN-A4-Papier aus der Innentasche seines Jacketts. Darauf war ein ziemlich altes und körniges Bild von Matias Gori gedruckt, das ihm von Orbs Büro per E-Mail geschickt worden war. Es war kein tolles Bild, aber die Hauptsache war, dass Gori seinen Bart noch hatte. »War das der Mann, den Sie auf der Rückseite von Ridgemount Mansions gesehen haben?«, fragte er. »Der Kerl, der Ihnen den verdächtigen Geldschein gegeben hat?«

Dog schaute sich das Bild ein paar Sekunden an, und seine Augen wurden leicht glasig, als er seine übliche Nachahmung eines Mannes zum Besten gab, der sich um äußerste Konzentration bemüht.

»War das der Mann, der Ihnen den Tausend-Peso-Schein gegeben hat?«

Gespielte Konzentration machte auf Dogs Gesicht aufrichtiger Verwirrung Platz. »Hä?«

»Der Mann, der Ihnen das Geld gegeben hat, das nicht funktionierte.«

Wieder huschte ein Flackern des Wiedererkennens über Dogs Gesicht. »Vielleicht.«

Komm schon, dachte Carlyle, dem seine Frustration zu schaffen machte. Komm schon, du blöder Mistkerl, denk nach – nur dieses eine Mal. Er versuchte, dem Säufer das Bild zu geben, aber der wollte es nicht nehmen. »Walter …«

»Entschuldigung.« Die Stimme der Frau, die schüchtern und höflich war, kam von irgendwo hinter ihm. »Sind Sie Inspector Carlyle?«

Carlyle schaute nicht hoch. »Einen Moment noch«, erwiderte er unhöflich, während er immer noch das Bild vor Dog schwenkte.

Die Frau näherte sich. »Mir wurde gesagt, dass Sie mich sehen möchten.« Nicht mehr so schüchtern angesichts seiner Unhöflichkeit.

»Ich sagte, einen Moment noch.«

Eine Hand tauchte auf und nahm dem Inspector das Bild aus der Hand. »Ich kenne diesen Mann.«

Carlyle versuchte, seine Verärgerung in Schach zu halten, stand auf und sah sich einer rothaarigen Frau in den Dreißigern gegenüber, die einen müden Eindruck machte. »Ja?«

Die Frau, die mindestens ein paar Kilo Untergewicht hatte, war mit einer weißen Bluse und einem knielangen marineblauen Rock konservativ gekleidet. Sie hielt ihm eine Hand hin, und er schüttelte sie. »Ich heiße Monica Hartson.«

Er schaute sie verständnislos an.

»Die Töchter des Dismas«, fügte sie hinzu. »Ich bin eine Freundin von Agatha Mills und Sandra Groves.«

»Ah.«

Sie gab ihm das Bild zurück. »Eine von denen, die versuchen, Matias Gori endlich seiner gerechten Strafe zuzuführen.«

»Hmm.« Carlyle ließ die zwei Pfundmünzen in Dogs Hand fallen. »Wie sind Sie an meinen Namen gekommen?«

»Nach der Episode im Bus«, erläuterte Hartson, »sind Sie in der Gruppe wohlbekannt.«

Endlich berühmt, dachte Carlyle.

»Ich habe eine Nachricht bekommen, wonach ich mit Ihnen reden sollte.«

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.« Carlyle machte einen Schritt zurück und sah zu, wie der Stadtstreicher sich aufrappelte und zur Tür schlurfte. »Nicht schlecht für einen Toten«, sagte er und grinste.

»Was?« Hartson warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Nichts. Gehen wir zum Plaudern nach oben.«

Ausnahmsweise funktionierte die Klimaanlage. Das Konferenzzimmer im vierten Stock war ausgesprochen kühl, genau so, wie er es mochte. Hartson lehnte eine Tasse Kaffee ab, holte eine kleine Flasche Wasser aus ihrer Schultertasche und nippte geziert daran.

Carlyle spielte mit seiner Espressotasse, nahm aber keinen Schluck. »Also«, sagte er beiläufig, »erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

Darüber dachte sie einen Augenblick nach, bevor sie ihn verlegen ansah. »Wo soll ich anfangen?«

»Woher kennen Sie Matias Gori?«, fragte er.

»Ich kenne ihn nicht«, sagte sie bedächtig, »aber ich weiß über ihn Bescheid.«

Großartig, dachte Carlyle, eine pedantische Fanatikerin, genau das, was ich brauche. »Okay, warum sind Sie an ihm interessiert?«

Noch einmal dachte sie darüber nach, wo sie anfangen sollte. Normalerweise, dachte Carlyle, bedeutet das, sie bereiten sich darauf vor, dich zu belügen. Aber im Fall von Monica Hartson war er überzeugt, dass sie nur versuchte, genau zu sein. »Wir haben eine Kampagne …«

»Die Töchter des Dismas?«

»Ja. Wir haben gegen die Verwendung von Söldnern in Ländern wie dem Irak protestiert.« Sie wühlte in ihrer Tasche herum und zog zwei Broschüren heraus, die sie über den Tisch schob.

Carlyle ließ sie dort liegen. »Erzählen Sie es mir zuerst in Ihren eigenen Worten.«

»Nun ja, wir haben diese Kampagne … wir konzentrieren uns besonders auf Söldner, die von britischen Steuergeldern finanziert werden.«

»LA… soundso …«

»LAHC, ja.« Sie schien sich ein wenig zu entspannen, beseelt von der Hoffnung, dass der Polizist zumindest ein bisschen informiert sein könnte. »Die Initialen stammen von Luis Alberto Hurtado Cruchaga. Pater Hurtado war ein Jesuit, der vor ein paar Jahren vom Papst heiliggesprochen wurde.«

»Dann haben diese Leute«, sagte Carlyle, der es sich nicht verkneifen konnte, sie ein wenig aufzuziehen, »einen religiösen Hintergrund, genau wie Sie?«

»Nicht richtig«, sagte sie gleichmütig, ohne anzubeißen. »LAHC hat nichts mit der Kirche zu tun, und sie haben definitiv nichts mit Sozialreformen zu tun. Es ist ein in den USA registriertes Unternehmen, aber sie gehört im Wesentlichen einer Gruppe reicher Chilenen mit Verbindungen zum Militär und wird von ihnen auch betrieben. Sie stellen frühere Kommandosoldaten und andere Spezialeinsatzkräfte ein und nehmen britische Hilfsgelder, um ihre Löhne zu bezahlen.«

»Und so sind Sie auf Gori gestoßen?«

»Ja. Gori gehörte zu den chilenischen Spezialeinsatzkräften, zur dreizehnten Kommandogruppe, die als Skorpione bekannt sind. Sein Onkel ist außerdem der Gründer der LAHC. Nach den Skorpionen wurde Matias«, sie hob die Finger in die Luft, um Anführungszeichen anzudeuten, »›Diplomat‹. Aber ihn verbinden sehr enge Bande mit den Söldnern, weil er mit einigen von ihnen zusammen in der Armee gedient hat.«

Sie warf Carlyle einen Blick zu, der ihr ein Zeichen gab fortzufahren. »Er hat sie sogar auf Missionen begleitet. Eine dieser Missionen zu einer Stadt namens Ishaqi nördlich von Bagdad endete mit der Massakrierung von mehr als fünfzig Männern, Frauen und Kindern. Zeugenberichten zufolge hat Matias Gori ein Dutzend von ihnen eigenhändig umgebracht. Als wir herausfanden, dass er in London arbeitete, haben wir versucht, ihn verhaften zu lassen, damit ihm entweder hier oder im Irak oder vielleicht auf dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag der Prozess gemacht würde.«

Carlyle nahm einen kleinen Schluck von seinem Espresso. »Und?«

Hartson sah wütend aus. »Unsere Anwälte sagen, wir bräuchten mehr Beweise. Deshalb haben wir versucht, ihn direkt zur Rede zu stellen.«

Oh, oh, dachte Carlyle, das Women’s Institute nimmt es mit Rambo auf. Ausgezeichnete Idee. »Wann war das?«

»Am Anfang dieses Monats hat es eine Demonstration gegeben. Wir sind zu der Botschaft marschiert und haben dem Botschafter eine Petition überreicht, in der wir darum bitten, dass Gori zum Zweck einer Vernehmung der Polizei ausgeliefert wird.«

»Und was hat der Botschafter gesagt?«

»Wir warten noch auf eine Antwort.«

»Und inzwischen sind zwei von Ihnen tot.«

Sie schaute ihn verständnislos an.

Mist, dachte Carlyle, jetzt ist es zu spät, der bitteren Pille einen Zuckerguss zu verpassen. »Agatha und Sandra wurden beide ermordet, wussten Sie das nicht?«

Die Tränen sammelten sich bereits in ihren Augen, während sie noch die schockierenden Neuigkeiten verarbeitete. Carlyle machte keinen Versuch, sie zu trösten, aber er gab ihr Zeit, sich wieder zu fassen, bevor er mit einer kurzen Zusammenfassung der wichtigen Details begann.

Als er fertig war, hatte Hartson weitgehend ihre Ruhe wiedergewonnen. »Ich war eine Weile verreist«, erklärte sie. »Ich bin erst gestern wieder zurück nach London gekommen.«

Das könnte der Grund dafür sein, dass Sie noch am Leben sind, dachte Carlyle.

»Glauben Sie«, fragte sie mit ein wenig zitternder Stimme, »dass Gori sie getötet hat?«

»Vielleicht«, sagte Carlyle. »Ich glaube schon.«

Monica schaute ihn aufmerksam an. »Können Sie es beweisen?«

Er lächelte grimmig. »Das ist nicht die Frage.«

»Oh«, sagte sie leicht schwankend. »Was denn?«

»Die Frage ist – muss ich es beweisen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstehe.«

»Gut.«

»Wird er hinter mir her sein?«

Ja. »Vielleicht.«

Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar und zitterte. »Werde ich sicher sein?«

Vielleicht. »Ja.«

»Werden Sie mich beschützen?«

Versprich nichts, was du nicht halten kannst, sagte er sich. »Ich werde ihn aufhalten.«

»Was sollte ich tun?«

»Gibt es einen Ort, wo Sie sich eine kurze Weile aufhalten können?«, fragte er. »Abgelegen, vorzugsweise irgendwo außerhalb von London.«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich habe ein paar Freunde in Glasgow.«

»Gut, dann werden wir es so machen.« Carlyle programmierte ihre Handynummer in sein privates Mobiltelefon und notierte sich dann die Details der Leute, bei denen sie wohnen würde. »Ich werde Sie einmal am Tag anrufen. Falls sich Ihre Voicemail einschaltet, hinterlasse ich eine Nachricht.«

Sie gingen schweigend zu den Aufzügen zurück. Unten schüttelte Carlyle ihr neben dem Empfangstresen wieder die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

Monica Hartson lächelte ihn matt an. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nach unserem Gespräch besser oder schlechter fühle.«

»Keine Sorge«, sagte er. »Das hier ist fast vorbei. Gori ist ein gezeichneter Mann. In zwei Tagen ist es erledigt. Die Stadt zu verlassen, ist nur eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme.«

»Das hoffe ich.«

»Eine Sache ist mir allerdings noch nicht ganz klar …«

»Ja?«

»Warum muten Sie sich all das hier zu? Warum wollen Sie Gori zur Strecke bringen?«

Hartson schaute ihn eine Weile an, als müsse sie sich klar darüber werden, ob sie ihm die ganze Geschichte erzählen solle. »Ich war dort«, sagte sie schließlich. »Ich hab gesehen, was er getan hat.«

»Was?«

»Wir sind am Tag, nachdem Gori und seine Kameraden dort ihren Auftritt hatten, in Ishaqi angekommen«, sagte sie ruhig. »Ich habe unter einem improvisierten Vordach an der Seite eines der Häuser, die nicht ausgebrannt waren, ein Büro des Roten Kreuzes eingerichtet. Ich stand da und habe einen Mann mit einem schwarzen Turban gesehen, der einen Leinensack mit den sterblichen Überresten seines Sohns in der Hand hielt.« Sie schluckte. »Nur war es gar nicht sein Sohn, sondern irgendwelche Reste, die man dort aufgefunden hatte. Die Dorfältesten hatten bereits alle Leichen und sogar die Gliedmaßen an Trauernde ausgehändigt, die als Erste dort gewesen waren. Irgendjemand oder -etwas zu identifizieren, war fast unmöglich. Sie konnten nur versuchen, jeder Familie etwas zu geben, das annähernd der richtigen Zahl der Leichen entsprach.«

»Herr im Himmel.«

»Als der Mann ankam, waren nur noch ein paar Stücke übrig. Aber er musste etwas haben, das er mit nach Hause nehmen konnte. Er hat einfach aufgesammelt, was er konnte, und es in seinen Sack gesteckt.« Monica schloss die Augen und unterdrückte ein Schluchzen. »Der Mann ging nach Hause, um seiner Frau zu erzählen, dass das ihr Sohn sei, damit die Familie etwas hatte, was sie begraben konnten, während sie ihre Gebete sprachen.«

Carlyle murmelte etwas, von dem er hoffte, dass es teilnahmsvoll klang.

»Danach konnte ich nicht schnell genug nach Hause kommen.«

»Das kann ich verstehen.«

Sie war zu höflich, um ihm zu widersprechen.

»Aber«, sagte der Inspector und seufzte, »es sind viele Menschen umgebracht worden, und es wird zweifellos noch viel mehr geben. Selbst wenn Sie ihn schließlich erwischen, wenn Sie Matias Gori vor Gericht bringen, wird es das wert gewesen sein?«

»Ja.«

»Trotz des Todes Ihrer Freundinnen?«

»Der springende Punkt ist, dass sie nicht hätten sterben müssen, genauso wenig wie die armen Menschen in Ishaqi nicht hätten sterben müssen.« Sie schaute ihn mit einer Grimmigkeit in den Augen an, die vorher nicht da gewesen war. »Wenn dies ein anständiges Land wäre, wäre schon längst etwas gegen Gori unternommen worden. Wir hätten uns gar nicht erst einschalten müssen – falls die Polizei ihren Job anständig gemacht hätte.«

Sie wartete auf eine Antwort, aber Carlyle sagte nichts.

»Aber weil niemand etwas davon wissen wollte«, fuhr Hartson fort, »beschlossen wir, den Kampf aufzunehmen. Alles, was wir tun wollten, war: einen Mann – einen Mörder – zur Rechenschaft zu ziehen. Wir haben gedacht, das sei mit Sicherheit machbar – ein kleiner Sieg für die Anständigkeit. Sie haben recht, viele Leute kommen mit schrecklichen Sachen ungestraft davon, aber das ist kein Grund aufzugeben. Wenn jeder Ihren Standpunkt einnähme, wäre die Welt sogar in einem noch schlimmeren Zustand, als sie ohnehin ist.«

Zerknirscht hob Carlyle eine Hand hoch. »Ich hab nicht gesagt, das wäre mein Standpunkt …« Aber es war zu spät. Sie hatte sich ihre Tasche über die Schulter geschwungen und fädelte sich bereits durch die kleinen Grüppchen von Bittstellern in dem Warteraum und war fast an der Tür, als er die Worte herausgebracht hatte.

Als sie gegangen war, ging der Inspector durch, was sie hatten. Es war vermutlich nicht genug, um Hartson Polizeischutz zu besorgen, und bestimmt nicht genug, um Gori zu verhaften. Aber Carlyle sollte jetzt zumindest in der Lage sein, Commander Simpson davon zu überzeugen, dass sie ihn diese Geschichte durchziehen ließ. Jedenfalls hoffte er das. Simpsons Ehemann war vielleicht immer noch ein Nachrichtenthema, aber sie war nach wie vor an ihrem Arbeitsplatz. Er rief in ihrem Büro an und hinterließ eine Nachricht bei ihrer Assistentin, die ihm versprach, sie würde Simpson veranlassen, ihn so schnell wie möglich zurückzurufen.

Carlyle beendete das Gespräch und schaute sich um. Was sollte er als Nächstes tun? Während er sich am Kopf kratzte, kam er schließlich zu einer Entscheidung; er würde sich nicht länger davor drücken, sondern endlich in der Jubilee Hall ins Schwitzen kommen.