EPILOG

»Ich sage, das Grab, das sich über den Toten schließt,
öffnet den Himmel,
und das, was wir auf Erden für das Ende halten,
ist erst der Anfang.«

VICTOR HUGO, »À VILLEQUIER«

LONDON, BLACKFRIARS BRIDGE, 2008

Der Wind war scharf und blies Staub und Müll – Chipstüten, einzelne Zeitungsblätter, alte Quittungen – über den Gehweg, als Tessa kurz in beide Straßenrichtungen schaute und dann die Blackfriars Bridge überquerte.

Für jeden unbeteiligten Betrachter sah sie wie ein ganz normales Mädchen von etwa neunzehn oder zwanzig Jahren aus: die Jeans in die Stiefel gesteckt, darüber ein blauer Kaschmirpullover, den sie günstig im Winterschlussverkauf erworben hatte, und dazu lange braune Haare, die sich bei dem feuchten Wetter leicht wellten und ihr weit den Rücken hinabfielen. Besonders modebewusste Betrachter hätten vermutlich angenommen, dass es sich bei dem Liberty-Schal mit Paisleymuster um eine billige Imitation handelte statt um ein einhundert Jahre altes Original und dass das Armband an ihrem Handgelenk aus einem Secondhandladen stammte und nicht ein Geschenk ihres Mannes anlässlich ihres dreißigsten Hochzeitstages war.

Tessa verlangsamte ihre Schritte, als sie eine der Nischen in der Brückenbrüstung erreichte. Inzwischen hatte man Betonbänke entlang der Innenseiten angebracht, sodass die Touristen sich setzen und das Panorama mit der St.Paul’s Cathedral betrachten oder einfach auf die graugrünen Fluten hinabschauen konnten, welche gegen die Brückenpfeiler klatschten. Die Stadt brummte vor Lärm und Tessa war eingehüllt vom ständigen Geräusch des Straßenverkehrs: lautes Autohupen, das Rumpeln der Doppeldecker, das Klingeln Dutzender Handys, die Stimmen der Passanten, das schwache Dudeln, das aus den weißen Kopfhörern diverser iPods drang.

Nachdenklich setzte sie sich auf die Bank, nahm die Beine hoch und zog sie unter sich. Die Luft war überraschend sauber und klar: Der Rauch aus den tausenden Schornsteinen und Kaminen, der den Himmel in ihrer Jugend regelmäßig gelb und schwarz gefärbt hatte, war mittlerweile Vergangenheit. Inzwischen leuchtete der Himmel über London in der Farbe von graublauem Marmor. Auch der unansehnliche Anblick, den die Dover and Chatham Railway Bridge einst geboten hatte, war verschwunden – nur noch ihre Pfeiler ragten aus dem Wasser und erinnerten an die einstige Existenz der ehemaligen Eisenbahnbrücke. Gelbe Bojen tanzten nun auf den Fluten und Ausflugsschiffe tuckerten vorbei; der Schall der mikrofonverstärkten Stimmen der Touristenführer hallte bis zu Tessa hinauf. Busse so rot wie Lutschbonbons rauschten über die Brücke und wirbelten das Laub am Straßenrand auf.

Tessa warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Fünf vor zwölf. Sie war etwas früh dran, aber andererseits kam sie jedes Jahr, zu jedem ihrer jährlichen Treffen, lieber etwas zu früh als zu spät. Dadurch hatte sie Gelegenheit zum Nachdenken und Erinnern. Und dafür gab es nun einmal keinen geeigneteren Ort als hier auf der Blackfriars Bridge – der Ort, an dem sie sich zum ersten Mal richtig unterhalten hatten.

Neben ihrer Uhr schimmerte das Perlarmband, das sie ständig trug und nicht für eine Sekunde ablegte. Will hatte es ihr zu ihrem dreißigsten Hochzeitstag geschenkt; lächelnd hatte er es an ihrem Handgelenk befestigt. Damals hatte er bereits graue Strähnen in den Haaren gehabt – das wusste sie wohl; aber sie hatte sie nie wirklich wahrgenommen. So als hätte ihre Liebe ihm die Fähigkeit zur Gestaltwandlung geschenkt: Ganz gleich, wie viele Jahre verstrichen waren, sie hatte immer nur den stürmischen, jungen Mann mit den schwarzen Haaren gesehen, in den sie sich einst verliebt hatte.

Manchmal erschien es ihr noch immer unglaublich, dass es ihnen gelungen war, gemeinsam alt zu werden: Sie und Will Herondale, von dem Gabriel Lightwood einmal gesagt hatte, er würde gewiss nicht älter als neunzehn werden. All die Jahre waren sie mit den Lightwoods eng befreundet geblieben. Will konnte mit dem Mann, den seine Schwester geheiratet hatte, ja wohl kaum nicht befreundet sein … Cecily und Gabriel hatten Will am Tag seines Todes gemeinsam besucht, genau wie Sophie, wohingegen Gideon bereits einige Jahre zuvor von ihnen gegangen war.

Tessa erinnerte sich noch ganz genau an jenen Tag: Der Tag, an dem die Brüder der Stille erklärt hatten, es gäbe nichts mehr, was sie zur Verlängerung von Wills Leben noch tun könnten. Damals hatte er das Bett schon nicht mehr verlassen können. Tessa hatte die Schultern gestrafft und ihrer Familie und den Freunden die traurige Nachricht mit möglichst ruhigen Worten überbracht, obwohl sie innerlich das Gefühl hatte, das Herz würde ihr aus der Brust gerissen.

Es war ein heißer Junitag gewesen, im strahlenden Sommer des Jahres 1937. Tessa hatte die Vorhänge ihres Schlafzimmers weit geöffnet und der Raum war erfüllt von hellem Sonnenschein … vom Sonnenschein und von Wills und ihren gemeinsamen Kindern, Enkelkindern, Nichten und Neffen – Cecys blauäugigen, großen und attraktiven Jungen und Gideons und Sophies Töchtern sowie allen, die Will und Tessa so nahestanden wie Familienmitglieder: Charlotte, mit weißen Haaren und noch immer kerzengeradem Rücken und neben ihr die Söhne und Töchter der Familie Fairchild, mit den roten, lockigen Haaren, die sie von Henry geerbt hatten.

Tessa saß den ganzen Tag an Wills Seite, halb gegen ihn gelehnt. Der Anblick wäre Fremden sicher merkwürdig erschienen – eine junge Frau, die einen Mann liebevoll im Arm hielt, der ihr Großvater sein könnte, die Hände fest miteinander verschränkt. Aber für Familie und Freunde war dies nichts Ungewöhnliches: Schließlich handelte es sich doch um Tessa und Will. Und weil es sich um Tessa und Will handelte, kamen und gingen die anderen den ganzen Tag über, wie es unter Schattenjägern am Bett eines Sterbenden üblich war, und erzählten sich Geschichten aus Wills Leben und redeten über all das, was er und Tessa während ihrer langen, gemeinsamen Jahre erlebt hatten.

Die Kinder erinnerten sich gern daran, wie unerschütterlich und hingebungsvoll Will ihre Mutter immer geliebt hatte und dass es für ihn nie eine andere gegeben hatte. Sie sahen ihre Eltern als ein Vorbild für die Art von Liebe, die sie einmal selbst zu finden hofften. Sie sprachen von Wills großem Herzen für die Literatur und davon, dass er auch ihnen beigebracht hatte, Bücher zu lieben, das gedruckte Wort zu respektieren und die Geschichten zu schätzen, die diese Seiten enthielten. Lächelnd erinnerten sie sich daran, dass Will noch immer auf Walisisch fluchte, wenn er irgendetwas fallen lassen hatte, obwohl er diese Sprache sonst nur selten benutzte. Und sie sprachen davon, dass seine Prosa zwar hervorragend war – Will hatte nach seiner Pensionierung mehrere renommierte Werke über die Geschichte der Nephilim verfasst –, seine Gedichte aber einfach grauenhaft waren, was ihn jedoch nicht daran gehindert hatte, sie bei jeder Gelegenheit zum Besten zu geben.

Tessas und Wills Erstgeborener, James, hatte lachend von Wills Furcht vor Enten erzählt und von Wills unermüdlichen Bemühungen, sie vom Teich des Familiensitzes in Yorkshire fernzuhalten.

Ihre Enkel hatten ihn an das Lied über Dämonenpocken erinnert, das er ihnen beigebracht hatte – damals waren sie nach Tessas Ansicht noch viel zu jung dafür gewesen – und das sie noch immer auswendig konnten. Und dann hatten sie es alle gemeinsam gesungen, laut und schief und zu Sophies Bestürzung angesichts der anzüglichen Worte.

Mit Tränen im Gesicht hatte Cecily Will an den Tag ihrer Hochzeit mit Gabriel erinnert, als ihr Bruder an der feierlich gedeckten Tafel eine wunderschöne Rede gehalten hatte. Darin hatte er den Bräutigam mit lobenden Worten überhäuft und seine Ansprache dann mit den Worten beendet: »Gütiger Gott, ich dachte, sie hätte Gideon geheiratet – ich nehme alles zurück.« Damit hatte er nicht nur Cecily und Gabriel völlig aus der Fassung gebracht, sondern auch Sophie. Und Will, der zu erschöpft und müde war, um in das Lachen der anderen einzustimmen, hatte seine Schwester angelächelt und ihre Hand gedrückt.

Danach hatten sie gemeinsam darüber geschmunzelt, dass er Tessa zu »romantischen Urlaubsreisen« an Orte aus Schauerromanen entführte, darunter eine grässliche Moorlandschaft, in der jemand gestorben war, ein zugiges Schloss mit dazugehörigem Geist, und natürlich der Platz in Paris, auf dem Sydney Carton Wills Ansicht nach durch die Guillotine gestorben war und wo Will nichts ahnende Passanten dadurch erschreckt hatte, dass er lauthals auf Französisch gerufen hatte: »Ich kann das Blut auf dem Kopfsteinpflaster sehen!«

Als der Tag sich dem Ende zuneigte und der Himmel bereits nachtdunkel schimmerte, waren die Familienmitglieder an Wills Bett zusammengekommen, hatten ihn der Reihe nach noch einmal geküsst und waren dann gegangen, bis Tessa und Will allein zurückblieben. Tessa war neben ihn ins Bett geschlüpft, hatte ihren Arm unter seinen Nacken geschoben, ihren Kopf auf seine Brust gelegt und seinem schwächer werdenden Puls gelauscht. Und im dämmrigen Licht hatten sie gemeinsam miteinander geflüstert und sich die Geschichten erzählt, die nur sie kannten. Von dem Mädchen, das dem jungen Mann, der zu ihrer Rettung herbeigeeilt war, einen Schlag mit einem Wasserkrug verpasst hatte, und davon, wie er sich in diesem Augenblick in sie verliebt hatte. Von einem Ballsaal und einem Balkon und einem Mond, der wie ein Schiff ohne Anker über den Himmel getrieben war. Vom Flattern der Schwingen eines Klockwerk-Engels. Von Weihwasser und Blut.

Gegen Mitternacht öffnete sich die Tür und Jem betrat den Raum. Tessa dachte kurz darüber nach, dass sie ihn nach all den Jahren eigentlich als Bruder Zachariah hätte betrachten müssen, aber weder Will noch sie hatten ihn je mit diesem Namen angesprochen. In seiner pergamentfarbenen Robe betrat er das Zimmer leise wie ein Schatten. Tessa holte tief Luft bei seinem Anblick, denn sie wusste, dass Will die ganze Zeit nur darauf noch gewartet hatte und dass seine Stunde nun gekommen war.

Jem trat nicht sofort an Wills Bett, sondern durchquerte das Zimmer und ging zu einem Kasten aus Palisanderholz, der auf einer Kommode ruhte. Darin hatte Will jahrelang Jems Geige aufbewahrt, so wie er es versprochen hatte. Der Kasten war sorgfältig gepflegt und keines der Scharniere quietschte, als Jem den Deckel öffnete und das Instrument herausnahm. Gemeinsam sahen Will und Tessa zu, wie er den Bogen mit Kolofonium einrieb, wobei seine hellen Handgelenke unter dem noch helleren Stoff seiner Robe verschwanden.

Dann setzte er die Geige an die Schulter, hob den Bogen – und begann zu spielen.

Zhi yin. Jem hatte Tessa einmal erklärt, der Ausdruck würde »die Musik verstehen« bedeuten, aber auch eine Verbundenheit zwischen Menschen, die über bloße Freundschaft weit hinausging. Nun spielte Jem und er spielte die Jahre von Wills Leben, so wie er sie erlebt hatte. Er spielte von zwei kleinen Jungen in einem Fechtsaal beim Messerwurftraining; und er spielte vom Parabatai-Ritual: das Feuer und die Eide und die brennenden Runen. Er spielte von zwei jungen Männern, die durch Londons dunkle Gassen liefen, kurz innehielten und sich lachend an eine Mauer lehnten. Er spielte den Tag in der Bibliothek, an dem Will und er Tessa mit Geschichten über Enten unterhalten hatten. Und er spielte die Zugfahrt nach Yorkshire, als er ihr erklärt hatte, Parabatai würden einander lieben »wie ihr eigen Herz«. Er spielte diese Liebe und er spielte ihre Liebe zu Tessa und Tessas Liebe zu ihnen beiden und er spielte Will, als er sagte: Nur in deinen Augen habe ich Gnade gefunden. Er spielte von den wenigen Gelegenheiten, bei denen er Will und Tessa nach seinem Beitritt zur Bruderschaft gesehen hatte: die kurzen Treffen im Institut; die kritische Situation, als ein Shax-Dämon Will gebissen hatte und er daran fast gestorben wäre – Jem war damals aus der Stadt der Stille herbeigekommen und hatte die ganze Nacht an seiner Seite verbracht (und damit eine harte Strafe riskiert). Nun spielte er von der Geburt ihres ersten Kindes und der Zeremonie der Schutzrune, die in der Stadt der Stille stattfand. Will hatte dieses Ritual von keinem anderen Bruder durchführen lassen wollen als von Jem. Und Jem spielte, wie er die Hände vor sein narbengezeichnetes Gesicht geschlagen und sich hatte abwenden müssen, als er herausfand, dass ihr Sohn auf den Namen James getauft werden sollte.

Er spielte von Liebe und Verlust und Jahren der Stille, von ungesagten Worten und unausgesprochenen Gelübden und der weiten Entfernung zwischen seinem Herzen und den Herzen der beiden. Als er geendet hatte, legte er die Geige zurück in den Kasten. Will hatte die Lider geschlossen, während in Tessas Augen Tränen glitzerten. Jem stellte den Bogen ab, trat wieder ans Bett und schob seine Kapuze zurück, sodass Tessa seine geschlossenen Lider und sein Gesicht mit den Narben sehen konnte. Und dann setzte er sich zu ihnen aufs Bett, nahm Wills andere Hand und sprach zu ihnen mit der Kraft seiner Gedanken:

Ich nehme deine Hand, Bruder, damit du mit Frieden hingehen kannst.

Will öffnete die blauen Augen, die in all den Jahren nichts von ihrer Leuchtkraft verloren hatten, schaute zuerst Jem an, dann Tessa, lächelte und starb, mit Tessas Kopf auf seiner Schulter und Jems Hand in seiner Hand.

Der Schmerz der Erinnerung an diesen Tag hatte nie nachgelassen. Nach Wills Tod war Tessa geflohen. Ihre Kinder waren erwachsen und hatten inzwischen selbst Kinder; Tessa redete sich ein, dass sie sie nicht mehr brauchten, doch tatsächlich versuchte sie nur, den Gedanken zu verdrängen, der sie tief in ihrem Inneren quälte: Sie konnte es nicht ertragen, bei ihnen zu bleiben und zuzusehen, wie sie älter und gebrechlicher wurden. Es war schwer genug gewesen, den Tod ihres Mannes zu überleben, aber den Tod der eigenen Kinder miterleben zu müssen…Sie konnte einfach nicht dabei zusehen. Der Moment würde, musste eines Tages kommen, aber sie würde nicht dort sein.

Außerdem gab es da etwas, um das Will sie gebeten hatte: Die Straße von Shrewsbury nach Welshpool sah nicht mehr so aus wie damals, als Will wie der Teufel durch das Land geritten war, um sie aus Mortmains Klauen zu befreien. Will hatte ihr genaue Anweisungen und Details gegeben, ausführliche Beschreibungen der verschiedenen Ortschaften und einer bestimmten hochgewachsenen Eiche. Trotzdem musste Tessa in ihrem Morris Minor die Straße mehrere Male auf- und abfahren, bis sie die gesuchte Stelle endlich fand: der Baum, genau wie Will ihn in seinem Notizbuch gezeichnet hatte, zwar schon mit zittriger Hand, aber noch hellwachem Verstand.

Der Dolch steckte zwischen den Baumwurzeln, die um das Heft herum gewachsen waren. Tessa musste einige wegschneiden und mit einer Pflanzkelle in der steinigen Erde graben, bevor sie den Dolch heraushebeln konnte. Jems Klinge, im Laufe der Zeit dunkel verfärbt von Wind und Wetter.

Tessa hatte den Dolch zu ihrem nächsten Treffen mit Jem mitgenommen. Man schrieb das Jahr 1937 und noch hatten keine deutschen Luftangriffe die Gebäude um St.Paul’s herum dem Erdboden gleichgemacht, den Himmel mit Feuer überzogen und die Mauern der Stadt, die Tessa so liebte, niedergebrannt. Doch über der Welt lag bereits ein düsterer Schatten, ein Vorbote der herannahenden Dunkelheit.

»Sie bringen sich gegenseitig um, massenweise um, und wir können nichts dagegen tun«, sagte Tessa, die Hände auf die abgewetzte Steinbrüstung der Brücke gestützt. Sie dachte an den Ersten Weltkrieg zurück, an die Vergeudung so vieler Menschenleben. Zwar war es kein Schattenjägerkrieg gewesen, aber auch aus Blut und Krieg entstanden Dämonen und es war die Aufgabe der Nephilim, die Dämonen daran zu hindern, noch größere Zerstörung und Verwüstung anzurichten.

Wir können sie nicht vor sich selbst bewahren, erwiderte Jem. Der Wind war in seine hochgezogene Kapuze gefahren und hatte sie etwas nach hinten verschoben, sodass Tessa die Konturen seiner narbengezeichneten Wange sehen konnte.

»Etwas Schreckliches braut sich zusammen. Ein Grauen, dessen Ausmaß sich selbst Mortmain nicht hätte vorstellen können. Ich spüre es in meinen Knochen.«

Niemand kann die Welt von allen Übeln befreien, Tessa.

Nach einem Moment holte Tessa den in Seide gewickelten Dolch, der noch immer mit Erde und Wills Blut befleckt war, aus ihrer Manteltasche hervor und gab ihn Jem. Und Jem senkte den Kopf und beugte sich mit gekrümmten Schultern darüber, als müsste er eine Wunde an seinem Herzen schützen.

»Will wollte, dass du den Dolch siehst«, sagte sie. »Ich weiß, dass du ihn nicht in die Stadt der Stille mitnehmen kannst.«

Bewahre ihn für mich auf. Möglicherweise kommt eines Tages der Moment …

Tessa fragte nicht, was er damit meinte, folgte aber Jems Bitte. Sie nahm den Dolch mit sich, als sie England verließ und beim Überqueren des Ärmelkanals die weißen Kreidefelsen von Dover wie Wolken in der Ferne verschwinden sah. In Paris suchte sie Magnus auf, der in einer Mansarde wohnte und malte – eine Beschäftigung, für die er nicht das geringste Talent besaß. Er ließ sie auf einer Matratze am Fenster übernachten, und wenn sie mitten in der Nacht aus Albträumen hochfuhr und nach Will schrie, kam er zu ihr und hielt sie im Arm, umgeben von dem durchdringenden Geruch nach Terpentin.

»Der Erste ist immer der Schlimmste«, sagte er.

»Der erste was?«

»Der erste Tod eines geliebten Menschen«, erklärte er. »Danach wird es leichter.«

Als der Krieg auch in Paris Einzug hielt, gingen Magnus und Tessa gemeinsam nach New York. Und Magnus machte sie wieder mit der Stadt vertraut, in der sie zur Welt gekommen war – eine geschäftige, strahlende, pulsierende Metropole, die Tessa kaum wiedererkannte und in der Automobile wie Ameisen durch die Straßen wimmelten und Züge auf erhöhten Plattformen vorbeiratterten. In diesem Jahr traf sie sich nicht mit Jem auf der Blackfriars Bridge, weil die Luftwaffe London unablässig bombardierte und er ein Treffen für zu gefährlich hielt. Doch in den darauffolgenden Jahren …

»Tessa?«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Ein überwältigendes Schwindelgefühl überkam sie und einen Moment fragte Tessa sich, ob sie wohl den Verstand verlor, ob nach all den Jahren die Vergangenheit und die Gegenwart in ihren Erinnerungen verschmolzen waren, bis sie keinen Unterschied mehr erkennen konnte. Denn die Stimme, die an ihr Ohr drang, war nicht das leise Raunen von Bruder Zachariahs Stimme in ihren Gedanken – jene Stimme, die in den vergangenen hundertdreißig Jahren einmal jährlich in ihrem Kopf widergehallt hatte.

Dies hier war eine Stimme, die Erinnerungen weckte, welche im Laufe der Zeit brüchig geworden waren, wie Papier, das man zu oft zusammengelegt und wieder auseinandergefaltet hatte. Eine Stimme, die wie eine Woge die Erinnerung an eine andere Zeit auf dieser Brücke zurückbrachte, die Erinnerung an eine Nacht vor vielen, vielen Jahren, an eine schwarze Stadt und einen silbernen Fluss, der unter ihren Füßen dahingeströmt war …

Tessas Herz schlug nun so schnell, dass sie das Gefühl hatte, es müsste jeden Moment aus ihrem Brustkorb hervorbrechen. Langsam drehte sie sich um, weg von der Brückenbrüstung. Und konnte ihren Augen kaum glauben.

Er stand auf dem Gehweg, direkt vor ihr, und lächelte schüchtern, die Hände in den Taschen einer sehr modernen Jeans vergraben. Darüber trug er einen blauen Baumwollpullover, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben. Verblasste weiße Narben überzogen seine Unterarme wie mit einem Gitterwerk. Tessa sah die Konturen der Schweigerune, die sich früher schwarz und deutlich von seiner Haut abgehoben hatte, jetzt aber zu einem hellen Silber verblasst war.

»Jem?«, wisperte Tessa und erkannte nun, warum sie ihn in der Menge auf der Brücke nicht gesehen hatte. Sie hatte nach Bruder Zachariah Ausschau gehalten, der sich in seiner pergamentfarbenen Robe geräuschlos und unbemerkt zwischen den Londonern hindurchbewegte. Aber vor ihr stand nicht Bruder Zachariah.

Vor ihr stand Jem.

Tessa konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie hatte immer gedacht, dass Jem wunderschön war, und auch jetzt erschien er ihr nicht weniger schön als vor all den Jahren. Früher hatte er silberweißes Haar gehabt und hellgraue Augen wie ein bewölkter Himmel. Doch dieser Jem hier hatte rabenschwarze Haare, die sich in der feuchten Luft leicht kräuselten, und dunkelbraune Augen mit glitzernden goldenen Punkten in der Iris. Seine einst so blasse Haut schimmerte mit einem Hauch von Bräune und auf seinem Gesicht zeichneten sich zwei dunkle Narben ab, direkt über den Wangenknochen, wo man ihn mit den ersten Runen der Bruderschaft versehen hatte.

Der Kragen seines Pullovers war etwas verrutscht, sodass Tessa den feinen Rand der Parabatairune erkennen konnte, die ihn einst mit Will verbunden hatte – und die die beiden möglicherweise noch immer verband, wenn man daran glaubte, dass Seelen über den Tod hinaus miteinander verbunden sein konnten.

»Jem«, flüsterte Tessa erneut. Auf den ersten Blick wirkte er wie neunzehn oder zwanzig, etwas älter als im Moment seines Beitritts zur Bruderschaft. Doch als Tessa genauer hinschaute, sah sie einen erwachsenen Mann, mit dem Schmerz und der Weisheit der Jahre in den Augen; selbst seine Bewegungen sprachen von langer, stummer Aufopferung. »Du bist …«, setzte Tessa an und in ihre Stimme mischte sich wilde Hoffnung. »Ist das für immer? Bist du nicht mehr an die Brüder der Stille gebunden?«

»Nein«, sagte Jem. Sein Atem ging stockend und schnell und er sah aus, als hätte er keine Ahnung, wie Tessa auf sein plötzliches Erscheinen reagieren würde. »Nein, ich bin nicht mehr an sie gebunden.«

»Dann hast du … das Heilmittel gefunden?«

»Nicht ich persönlich«, erklärte er gedehnt. »Aber … es wurde gefunden.«

»Vor ein paar Monaten habe ich Magnus in Alicante getroffen und wir haben über dich gesprochen, aber er hat kein Wort gesagt …«

»Er wusste nichts davon«, sagte Jem. »Die letzten Monate waren sehr hart für die Nephilim, ein dunkles Jahr. Aber aus dem Blut und dem Feuer, dem Verlust und dem Kummer sind ein paar großartige Veränderungen hervorgegangen.« Schüchtern streckte er seine Arme aus und meinte mit einem verwunderten Unterton in der Stimme: »Ich selbst habe mich verändert.«

»Wie …?«

»Ich werde dir die ganze Geschichte erzählen, eine weitere Geschichte der Lightwoods und Herondales und Fairchilds. Aber das dauert länger als eine Stunde und dir ist doch bestimmt kalt.« Er trat einen Schritt vor, als wollte er Tessa an der Schulter berühren, schien sich dann aber eines Besseren zu besinnen und ließ die Hand wieder sinken.

»Ich …« Tessa fehlten die Worte. Sie stand noch immer wie unter Schock. Natürlich hatte sie ihn jedes Jahr hier an diesem Ort, auf dieser Brücke zu Gesicht bekommen, doch erst jetzt wurde ihr klar, dass sie während der vergangenen Jahre immer einen völlig verwandelten Jem erlebt hatte. Aber diese Begegnung hier … das war so, als würde sie in ihre eigene Vergangenheit zurückversetzt, als wäre das vergangene Jahrhundert einfach ausradiert worden. Sie fühlte sich gleichzeitig schwindlig und freudig erregt und total erschrocken. »Aber … was passiert nach heute? Wohin gehst du? Ziehst du nach Idris?«

Einen Moment lang wirkte Jem richtig verwirrt – und trotz der Jahre furchtbar jung. »Keine Ahnung«, sagte er. »Bisher hatte ich nie die Gelegenheit, für ein ganzes Leben zu planen.«

»Dann…ziehst du in ein anderes Institut?« Geh nicht, hätte Tessa am liebsten gesagt. Bleib hier. Bitte.

»Ich denke nicht, dass ich nach Idris oder in irgendein anderes Institut gehen werde«, erwiderte er nach einer derart langen Pause, dass Tessa das Gefühl hatte, ihr würden gleich die Knie versagen, wenn er nicht endlich etwas sagte. »Ich weiß nicht, wie ich ohne Will als Schattenjäger leben soll. Und ich möchte das auch gar nicht. Ich bin noch immer ein Parabatai, aber meine andere Hälfte existiert nicht mehr. Wenn ich in ein anderes Institut gehen und um Aufnahme bitten würde, könnte ich diese Tatsache nie vergessen. Ich würde mich nie mehr als ein Ganzes fühlen.«

»Und was nun …?«

»Das hängt von dir ab.«

»Von mir?« Angst erfasste Tessa. Sie wusste, was sie von ihm hören wollte, aber das schien unmöglich. In all den Jahren seit seiner Wandlung zum Stillen Bruder war er ihr bei ihren jährlichen Treffen immer irgendwie distanziert vorgekommen. Nicht unfreundlich oder gefühllos, aber so, als befände sich eine dicke Glasscheibe zwischen ihm und dem Rest der Welt. Tessa erinnerte sich an den jungen Mann ihrer Jugend, der seine Liebe so freigiebig verschenkt hatte, wie andere atmeten, aber das war nicht derselbe Mann, den sie mehr als hundert Jahre lang einmal jährlich getroffen hatte. Sie wusste nur zu gut, wie sehr die Zeit sie selbst verändert hatte. Wie sehr mussten die vielen Jahre erst ihn verändert haben? Tessa konnte nicht sagen, was er sich von seinem neuen Leben – oder genauer von ihr – erhoffte. Sie hätte ihm gern all das gesagt, was er hören wollte, hätte am liebsten die Arme ausgestreckt und ihn an sich gezogen, seine Hände genommen und sich wieder mit ihnen vertraut gemacht – aber sie wagte es einfach nicht. Nicht, solange sie nicht wusste, was er von ihr wollte. Inzwischen waren so viele Jahre vergangen. Wie konnte sie da glauben, dass er für sie noch immer das empfand, was er früher für sie empfunden hatte?

»Ich …« Jem blickte auf seine schlanken Hände, die die Betonbrüstung der Brücke umklammerten. »Während der vergangenen hundertdreißig Jahre war jede Stunde meines Lebens genau verplant. Ich habe oft darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn ich jemals freikäme, falls ein Heilmittel gefunden würde. Ich dachte, ich würde sofort in die Freiheit entfliehen, wie ein Vogel aus einem Käfig. Aber ich hatte mir nicht vorgestellt, dass ich aus der Stadt der Stille auftauchen und die Welt so verändert vorfinden würde, so verzweifelt und extrem. So beherrscht von Feuer und Blut. Ich wollte unbedingt überleben, aber nur aus einem einzigen Grund. Ich wünschte …«

»Was hast du dir gewünscht?«

Doch Jem beantwortete Tessas Frage nicht. Stattdessen streckte er eine Hand aus und berührte behutsam das Perlarmband an ihrem Handgelenk. »Das ist das Armband, das Will dir zu eurem dreißigsten Hochzeitstag geschenkt hat«, sagte er. »Du trägst es noch immer.«

Tessa musste schlucken. Ihre Haut prickelte, ihr Puls raste. Und ihr wurde bewusst, dass sie dieses Gefühl, diese besondere Mischung aus Aufregung und Nervosität seit so vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte, dass sie die Erinnerung daran beinahe vergessen hatte. »Ja«, sagte sie atemlos.

»Seit Will … hast du danach niemanden mehr geliebt?«

»Weißt du die Antwort darauf wirklich nicht?«

»Ich meine nicht so, wie du deine Kinder liebst oder deine Freunde. Tessa, du weißt, was ich dich gerade frage.«

»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte sie. »Ich glaube, ich muss es von dir hören.«

»Wir waren mal verlobt und wollten heiraten«, sagte Jem. »Ich habe dich all die Jahre geliebt – fast eineinhalb Jahrhunderte. Und ich weiß, dass du Will geliebt hast. Im Laufe der Jahre habe ich euch beide bei verschiedenen Gelegenheiten zusammen erleben können und mir ist bewusst, dass diese Liebe so groß war, dass sie jede andere Liebe – selbst die, die wir in unserer Jugend füreinander empfanden – klein und unbedeutend erscheinen lassen muss. Du hast mit Will ein ganzes Leben voller Liebe verbracht, Tessa. So viele Jahre. Kinder. Erinnerungen, die ich nicht …« Jem verstummte abrupt. »Nein«, murmelte er und gab Tessas Handgelenk frei. »Ich kann das nicht. Ich war ein Idiot zu glauben … Tessa, verzeih mir«, stieß er hervor, machte auf dem Absatz kehrt und tauchte zwischen den Passanten unter, die über die Brücke drängten.

Geschockt stand Tessa einen Moment reglos da; es war nur ein Moment, doch der reichte, dass Jem in der Menschenmenge verschwand. Tessa streckte einen Arm aus, um sich abzustützen. Die Brüstung fühlte sich kalt unter ihren Fingern an – kalt wie in jener Nacht, als sie zum ersten Mal zu dieser Brücke gekommen waren, zum ersten Mal richtig miteinander geredet hatten. Jem war der erste Mensch gewesen, dem sie ihre größte Furcht anvertraut hatte: die Sorge, dass ihre Fähigkeiten sie zu etwas machten, das anders war, das nicht menschlich war. Du bist ein Mensch, hatte er gesagt. In jeder Hinsicht, die von Bedeutung ist.

Sie erinnerte sich gut an ihn, an den liebenswerten, todkranken Jungen, der sich die Zeit genommen hatte, ein verängstigtes Mädchen zu trösten, das er kaum kannte, ohne auch nur ein Wort über seine eigenen Sorgen zu verlieren. Natürlich hatte er seine Spuren in ihrem Herzen hinterlassen. Wie konnte es auch anders sein?

Tessa erinnerte sich an den Moment, als er ihr mit zitternder Hand den Jadeanhänger seiner Mutter entgegengestreckt hatte. Sie erinnerte sich an Küsse in einer Kutsche. Und an einen von Mondlicht erfüllten Raum und den silberhaarigen jungen Mann, der am Fenster stand und der Geige in seinen Händen eine liebliche Musik entlockte, schön und sehnsüchtig.

Will?, hatte er gefragt. Will, bist du das?

Will. Einen Moment zögerte ihr Herz. Sie erinnerte sich wieder an die Zeit nach Wills Tod, an ihren Kummer, die langen, einsamen Nächte. Und daran, wie sie jahrelang morgens nach dem Aufwachen als Erstes nach ihm getastet hatte, in der Erwartung, ihn neben sich zu spüren. Nur langsam hatte sie sich an die Tatsache gewöhnt, dass sie seine Seite des Betts immer leer vorfinden würde. Wie oft hatte sie irgendetwas lustig gefunden und sich zu ihm gedreht, um den Scherz mit ihm zu teilen, nur um dann erneut bestürzt festzustellen, dass er nicht mehr da war. Die schlimmsten Momente waren morgens beim Frühstück gewesen, als sie allein am Tisch saß und erkennen musste, dass sie sich nicht mehr an den genauen Farbton seiner blauen Augen oder den Klang seines Lachens erinnern konnte – beides war, genau wie die Musik von Jems Geige, verblasst und in weite Ferne gerückt, dort, wo Erinnerungen keinen Klang mehr besaßen.

Jem war nun sterblich. Er würde altern, genau wie Will – und genau wie Will würde auch er eines Tages sterben. Und Tessa wusste nicht, ob sie das noch ein weiteres Mal ertragen konnte.

Und dennoch.

Die meisten Leute dürfen sich glücklich schätzen, wenn sie in ihrem Leben auch nur einer großen Liebe begegnen. Und Sie haben gleich zwei gefunden.

Plötzlich setzten sich Tessas Beine in Bewegung, fast ohne ihr Dazutun. Sie stürmte durch die Menge, schob sich an Touristen vorbei und keuchte eine Entschuldigung, wenn sie über die Füße eines Passanten stolperte oder jemanden mit dem Ellbogen anstieß. Aber im Grunde war es ihr egal. Sie rannte förmlich über die Brücke und kam erst am anderen Ende abrupt zum Stehen, als sie eine schmale Steintreppe erreichte, die hinunter zur Themse führte.

Tessa nahm zwei Stufen auf einmal und wäre auf den feuchten Steinplatten beinahe ausgerutscht. Am Fuß der Treppe befand sich eine kleine Plattform mit einem Metallgeländer. Der Fluss stand hoch und spritzte zwischen den Lücken im Metall hindurch und erfüllte den kleinen Bereich mit dem Geruch von Salz, Schlick und Flusswasser.

Jem stand am Geländer und schaute auf die Themse hinaus. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und die Schultern hochgezogen, als würde er sich gegen einen starken Wind stemmen. Angespannt starrte er geradeaus, sodass er Tessa nicht zu hören schien, als sie zu ihm trat.

Sie berührte ihn am Ärmel und drehte ihn zu sich herum. »Was …?«, schnaufte sie. »Was wolltest du mich gerade fragen, Jem?«

Mit großen Augen schaute er sie an. Seine Wangen waren gerötet, aber Tessa wusste nicht, ob vom Laufen oder von der Kälte. Er sah sie an, als wäre sie irgendeine eigenartige Pflanze, die wie aus dem Nichts und vollkommen überraschend hier aus dem Boden gewachsen war. »Tessa … du bist mir gefolgt?«

»Natürlich bin ich dir gefolgt. Schließlich bist du mitten im Satz davongestürmt!«

»Es war kein besonders guter Satz.« Jem schaute zu Boden und dann wieder zu ihr hoch – und ein Lächeln, so vertraut wie ihre eigenen Erinnerungen, umspielte seine Lippen. In diesem Moment fiel es Tessa wieder ein – eine Erinnerung, die lange verloren schien, aber doch nicht vergessen war: Jems Lächeln war immer schon warm und strahlend wie der Schein der Sonne gewesen. »Ich war nie gut mit Worten«, räumte er ein. »Wenn ich meine Geige hätte, könnte ich dir vorspielen, was ich sagen will.«

»Versuch es einfach.«

»Ich … ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Ich hatte sechs oder sieben Reden vorbereitet, aber keine scheint wirklich zu passen.«

Tessa streckte die Arme aus und berührte behutsam seine Handgelenke. »Okay, aber ich bin gut mit Worten«, sagte sie. »Also lass mich einfach reden und dich etwas fragen.«

Jem ließ sie seine Hände aus den Taschen ziehen und Tessa umfasste seine Gelenke mit ihren Fingern. So standen sie einen Moment da. Jem schaute Tessa an. Der Wind, der über den Fluss wehte, hatte ihm die dunklen Haare ins Gesicht geweht, durch die sich noch immer eine silberhelle Strähne zog; sie hob sich deutlich vom schwarzen Rest ab.

»Du hast mich gefragt, ob ich außer Will sonst noch jemanden geliebt habe«, sagte Tessa. »Und die Antwort darauf lautet Ja. Denn ich habe dich geliebt. Ich habe dich immer geliebt und werde dich auch immer lieben.«

Jem sog scharf die Luft ein. Sein Puls klopfte schnell an seiner Kehle, gut sichtbar unter der hellen Haut mit dem verblassenden Gitterwerk der Bruderschafts-Runenmale.

»Es heißt, man könne nicht zwei Menschen gleichermaßen lieben«, fuhr Tessa fort. »Und vielleicht ist das bei anderen Menschen ja auch tatsächlich so. Aber du und Will … ihr beide seid nicht wie zwei herkömmliche Menschen, wie zwei Männer, die vielleicht eifersüchtig aufeinander gewesen wären oder geglaubt hätten, meine Liebe zu einem von euch würde meine Liebe zu dem anderen schmälern. Ihr beide habt eure Seelen in der Kindheit miteinander verbunden. Ich hätte Will nicht so lieben können, wenn ich dich nicht auch geliebt hätte. Und ich könnte auch dich nicht so lieben, wie ich dich liebe, wenn ich nicht auch Will geliebt hätte.« Ihre Finger umfassten Jems Handgelenke nur leicht, direkt unterhalb der herabgerutschten Pulloverärmel. Es war so eigenartig, ihn so zu berühren – und trotzdem weckte es in Tessa den Wunsch, ihm noch näher zu sein. Sie hatte fast vergessen, wie sehr ihr die Berührung eines geliebten Menschen gefehlt hatte.

Dennoch zwang sie sich, seine Hände loszulassen. Dann griff sie unter ihren Schal, zog die Kette hervor und hielt sie so, dass Jem den Jadeanhänger sehen konnte, den er ihr vor so langer Zeit geschenkt hatte. Die Inschrift auf der Rückseite schimmerte noch immer wie neu:

Doch wo zwei Menschen einig sind in ihrem innern Herzen, da brechen sie die Stärke selbst von Eisen oder Erzen.

»Du weißt doch noch, dass du den Anhänger bei mir gelassen hast, oder?«, fragte sie. »Ich habe ihn seitdem keine Sekunde abgelegt.«

Jem schloss die Augen. Seine Wimpern streiften über seine Wangen, lang und seidig. »In all den Jahren …«, flüsterte er mit leiser Stimme – nicht die Stimme, die er als junger Mann gehabt hatte, aber dennoch eine Stimme, die Tessa liebte. »In all den Jahren hast du ihn immer getragen? Das habe ich nicht gewusst.«

»Es erschien mir wie eine zusätzliche Last, die ich dir nicht auferlegen wollte. Ich hatte Angst, du könntest denken, ich würde damit irgendwelche Erwartungen an dich stellen. Erwartungen, die du als Stiller Bruder nicht erfüllen konntest.«

Eine Weile stand Jem schweigend da. Tessa konnte das Schwappen des Flusses hören und den Verkehr in der Ferne. Sie hatte fast das Gefühl, den Zug der Wolken am Himmel wahrnehmen zu können. Jede Faser ihres Körpers schrie Jem förmlich zu, endlich etwas zu sagen, aber sie wartete, wartete geduldig ab, während sich das Wechselbad der Gefühle auf Jems Gesicht abzeichnete und er sich schließlich räusperte.

»Als Bruder der Stille sieht man alles und nichts zugleich«, setzte Jem an. »Ich konnte die große Karte des Lebens vor mir ausgebreitet sehen. Ich konnte den Lauf der Welt sehen. Und das Leben der Menschen erschien mir zunehmend wie eine Art Passionsspiel, das in weiter Ferne aufgeführt wurde. Als die Stillen Brüder mir schließlich die Runenmale nahmen, als der Mantel der Bruderschaft von mir gehoben wurde, da hatte ich das Gefühl, aus einem langen Traum zu erwachen … oder als wäre eine Art Glasglocke um mich herum zerbrochen. Plötzlich konnte ich wieder etwas empfinden und die Gefühle stürmten alle gleichzeitig auf mich ein. All das Menschliche, das mir die Runen der Bruderschaft genommen hatten. Und die Tatsache, dass ich noch so viel Menschliches in mir hatte … das verdanke ich dir. Wenn ich dich nicht gehabt hätte, Tessa, wenn ich unsere jährlichen Treffen nicht als Anker und Licht in der Dunkelheit gehabt hätte…ich weiß nicht, ob ich dann noch in diese Welt hätte zurückkehren können«, sagte er. In seinen dunklen Augen funkelte nun ein helles Licht.

Tessas Herz machte vor Freude einen Satz. Sie hatte in ihrem Leben nur zwei Männer geliebt und sie hätte nie gedacht, dass sie einen von beiden jemals wieder zu Gesicht bekommen würde. »Aber du bist zurückgekehrt«, flüsterte sie. »Und das ist ein Wunder. Und du erinnerst dich ja wohl, was ich dir einmal zum Thema Wunder gesagt habe.«

Bei diesen Worten musste Jem erneut lächeln. »›Man hinterfragt schließlich keine Wunder oder beschwert sich darüber, dass sie nicht hundertprozentig den eigenen Wünschen entsprechen.‹ Vermutlich hast du recht. Ich wünschte, ich hätte schon früher zu dir zurückkommen können. Ich wünschte, ich wäre noch der Mann, der ich war, als du mich geliebt hast. Denn ich fürchte, die Jahre haben mich verändert und zu einem anderen Menschen gemacht.«

Tessa musterte Jems Gesicht eindringlich. In der Ferne hörte sie den vorbeirauschenden Verkehr, doch hier am Ufer der Themse konnte sie sich fast vorstellen, dass sie wieder ein junges Mädchen war, dass wieder Rauch und Ruß in der Luft hingen und eine Dampflok über die Dover and Chatham Railway Bridge stampfte … »Die Zeit hat auch mich verändert«, sagte sie. »Ich bin erst Mutter und dann Großmutter geworden, habe den Tod meiner Liebsten erlebt und die Geburt neuer Familienmitglieder. Du hast vom Lauf der Welt gesprochen. Den habe ich ebenfalls gesehen. Wenn ich noch immer das Mädchen wäre, das du vor so vielen Jahren gekannt hast, hätte ich mit dir nicht so offen reden können wie gerade eben. Und ich hätte mich nicht getraut, dich nun zu fragen und um das zu bitten, worum ich dich jetzt bitten möchte.«

Jem hob die Hand und umfasste Tessas Wange. Sie konnte in seinem Gesicht erkennen, wie er langsam Hoffnung schöpfte. »Und das wäre?«

»Komm mit mir«, sagte Tessa. »Bleib bei mir. Sei einfach bei mir. Schau dir alles mit mir zusammen an. Ich habe die ganze Welt bereist und vieles gesehen, aber es gibt noch so viele Dinge, die ich gerne tun möchte – und mit niemandem lieber als mit dir. Zusammen mit dir, James Carstairs, würde ich überallhin gehen.«

Sein Daumen strich behutsam über ihre Wange und Tessa spürte, wie ein Beben durch ihren Körper ging. Es war so lange her, dass jemand sie auf diese Weise angesehen hatte, als sei sie das größte Wunder auf Erden. Und sie wusste, dass sie Jem auf dieselbe Weise anschaute. »Es erscheint so unwirklich«, sagte er mit heiserer, rauer Stimme. »Ich liebe dich schon seit so langer Zeit. Wie kann das hier wahr sein?«

»Dies hier ist eine der größten Wahrheiten meines Lebens«, erwiderte Tessa. »Wirst du mit mir kommen? Denn ich kann es kaum erwarten, die Welt mit dir zu teilen, Jem. Es gibt noch so vieles zu sehen.«

Tessa war sich nicht sicher, wer von ihnen den anderen zuerst an sich zog, aber wenige Sekunden später lag sie in Jems Armen und er flüsterte »Ja. Ja, natürlich« in ihr Haar. Zögernd suchte er ihre Lippen – sie konnte seine leichte Anspannung spüren, das Gewicht der Jahre zwischen ihrem letzten Kuss und diesem hier. Tessa schlang die Arme um Jems Hals, zog ihn sanft zu sich herab und wisperte »Bie zhao ji«. Keine Sorge, mach dir keine Sorgen. Dann küsste sie ihn auf die Wange, auf den Mundwinkel und schließlich auf den Mund. Und der Druck seiner Lippen nahm zu, wurde verlangender und Oh, der schnelle Schlag seines Herzens, der Geschmack seines Mundes, der Rhythmus seines Atems. Erinnerungen überfluteten ihre Sinne: Damals war er so schrecklich dünn gewesen, die Schulterblätter so spitz wie Messer unter dem feinen Stoff der Leinenhemden, die er damals getragen hatte. Doch nun konnte sie kräftige, ausgeprägte Muskeln fühlen, das Pulsieren von Lebensenergie in seinem Körper, der sich an sie presste, das weiche Baumwollgewebe seines Pullovers unter ihren Fingern.

Tessa war sich bewusst, dass oberhalb der kleinen Uferplattform noch immer Passanten über die Blackfriars Bridge gingen, dass der Verkehr noch immer vorbeirauschte und dass möglicherweise ein paar Leute zu ihnen hinabstarrten, aber es war ihr egal. Die Jahre hatten sie gelehrt, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Und das hier war wichtig: Jem, sein aufgeregter, rasender Herzschlag, seine sanften Hände, die ihr Gesicht behutsam umfassten, seine weichen Lippen auf ihren, als er die Konturen ihres Mundes mit kleinen Küssen nachzeichnete. Seine warme, wahre Gegenwart. Und zum ersten Mal seit langen Jahren spürte sie, wie ihr das Herz aufging, und sie empfand Liebe nicht mehr nur als eine Erinnerung.

Nein, es kümmerte sie wirklich nicht, ob irgendwelche Leute einen jungen Mann und ein junges Mädchen anstarrten, die am Fluss standen und sich küssten, während London und seine Viertel, Bauwerke, Kirchen, Brücken und Straßen sie wie die Erinnerung an einen Traum umgaben. Und falls sich die Themse, die stetig und silbern in der Nachmittagssonne vorbeiströmte, an eine längst vergangene Nacht erinnerte, als der Mond so hell wie eine Münze geleuchtet und genau denselben jungen Mann und genau dasselbe junge Mädchen beschienen hatte, oder falls die Steine der Blackfriars Bridge ihre Schritte wiedererkannten und bei sich dachten Endlich, der Kreis hat sich geschlossen, so wahrten sie doch alle Schweigen.