UND BRENNEN
Ich werde dich versengen,
ich werde dich verbrennen.
Auch wenn mir die Verdammnis gewiss ist, so
werden wir
das Lager teilen und brennen.
CHARLOTTE MEW, »NUNHEAD CEMETERY«
Die Dunkelheit dauerte nur wenige Momente. Die eisigen Fluten zogen Will in die Tiefe und dann stürzte er in freiem Fall. Rasch krümmte er sich zusammen, als der Boden des Sees sich ihm auch schon entgegenhob … Einen Sekundenbruchteil später schlug er so heftig auf dem Grund auf, dass der Aufprall ihm die Luft aus den Lungen presste.
Keuchend rollte er sich auf den Bauch und stemmte sich auf die Knie. Wasser strömte aus seinen Haaren und seiner Kleidung. Er tastete nach seinem Elbenstein, ließ dann aber die Hand sinken – er wollte lieber kein Licht machen, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Die Nachtsichtrune musste ausreichen.
Zumindest verriet sie ihm, dass er sich in einer Höhle mit Wänden aus rauem Vulkangestein befand.
Als er nach oben schaute, konnte er über sich die wirbelnden Fluten des Sees sehen, wie von einer Glasscheibe in der Schwebe gehalten, und darüber einen verschwommenen Mondstrahl. Von der Höhle selbst gingen mehrere Tunnel ab, allerdings ohne jeden Hinweis darauf, wohin sie führten. Will rappelte sich auf, wählte blindlings den ersten Tunnel zu seiner Linken und bewegte sich vorsichtig durch die Dunkelheit.
Auf dem glatten Boden des breiten Tunnels waren keinerlei Spuren zu sehen, die erkennen ließen, dass die Klockwerk-Kreaturen hier entlanggegangen sein konnten. Will erinnerte sich daran, wie er vor etlichen Jahren zusammen mit seinem Vater den Cadair Idris erklommen hatte. Viele Legenden rankten sich um diesen Berg: Es hieß, er sei einst der Sitzplatz eines Riesen gewesen, der auf dem Gipfel wie auf einem Stuhl gesessen und die Sterne beobachtet hatte. Eine andere Sage berichtete, dass König Artus und seine Ritter unter dem Berg schliefen und darauf warteten, dass Britannien erwachen und sie erneut brauchen würde. Und schließlich ging das Gerücht, dass jeder, der eine Nacht auf dem Gipfel verbrachte, als Poet oder als Verrückter zurückkehren würde. Wenn doch nur bekannt wäre, welch seltsame Dinge sich in Wahrheit hier abspielten, überlegte Will, als er um eine Krümmung des Tunnels bog und eine größere Höhle vor sich sah.
Die Höhle öffnete sich am hinteren Ende zu einem weiten Raum, der in einem schwachen Licht leuchtete. Hier und dort nahm Will ein silbernes Schimmern wahr, das er für fließendes Wasser hielt, welches an den schwarzen Felswänden herabströmte. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich als das Glitzern von Quarzadern im Gestein.
Will steuerte auf den schwachen Lichtschein zu. Er fühlte sein Herz wie verrückt klopfen und versuchte, langsamer zu atmen und seinen Puls zu beruhigen. Dabei wusste er ganz genau, was seinen Herzschlag derartig beschleunigte. Tessa. Falls Mortmain sie in seiner Gewalt hatte, dann war sie hier. Ganz in der Nähe. Irgendwo in diesem Labyrinth aus Höhlen und Tunneln würde er sie finden.
Er hörte Jems Stimme in seinem Kopf, als stünde sein Parabatai an seiner Seite und würde ihm Ratschläge erteilen. Jem hatte immer gesagt, dass Will lieber auf das Ende einer Mission zustürmte, statt systematisch vorzugehen. Und er hatte ihm stets geraten, den Blick auf den nächsten Schritt auf dem Weg zu richten, statt auf die Berge in der Ferne – sonst würde er sein Ziel nie erreichen. Will schloss einen Moment die Augen. Er wusste, dass Jem recht hatte, aber es fiel ihm schwer, sich an seine Ratschläge zu halten, wenn sein Ziel das Mädchen war, das er liebte.
Schließlich öffnete er die Augen wieder und bewegte sich auf den schwachen Lichtschein am hinteren Ende der Höhle zu. Der Boden unter seinen Füßen war glatt, ohne irgendwelche Felsbrocken oder Steine, und wie Marmor gemasert. Plötzlich flammte das Licht auf … und Will hielt abrupt inne. Nur sein jahrelanges Training als Schattenjäger verhinderte, dass er kopfüber in den Tod stürzte.
Denn der Steinboden ging unvermittelt in einen steilen Abgrund über. Will befand sich auf einem Felsvorsprung und blickte in ein rundes Amphitheater hinab – bis zum Rand mit Automaten gefüllt. Die Kreaturen standen stumm und reglos da, wie mechanische Spielzeugfiguren, deren Aufziehmechanismus abgelaufen war. Genau wie die Automaten im Dorf waren auch sie mit Fetzen ehemaliger Militäruniformen bekleidet und sie standen in Reih und Glied wie lebensgroße Zinnsoldaten.
In der Mitte des Raums entdeckte Will ein erhöhtes steinernes Podest mit einem Tisch, auf dem ein weiterer Automat lag, wie ein Leichnam bei einer Autopsie. Der Kopf bestand aus glattem Metall, aber der Rest des Körpers war mit blasser, menschlicher Haut bespannt – und auf dieser Haut prangten tintenschwarze Runen.
Will starrte darauf und erkannte die Runenmale der Reihe nach: Gedächtniskunst, Beweglichkeit, Schnelligkeit, Nachtsicht. Natürlich würden sie nicht funktionieren – nicht bei einem Apparat aus Metall und Menschenhaut. Bestenfalls würde er andere Schattenjäger aus der Ferne täuschen können, es sei denn …
Es sei denn, Mortmain hat die Haut eines Nephilim verwendet. Was dann?, flüsterte eine Stimme tief in Wills Innerem. Was würde er damit erschaffen können? Wie verrückt ist er und wo wird er aufhören? Bei diesem Gedanken und dem Anblick der himmlischen Runen auf einer solch grässlichen Kreatur drehte sich Will der Magen um. Er wirbelte herum, fort vom Rand des Felsvorsprungs, und taumelte zurück, bis er gegen eine kalte Gesteinswand prallte und sich mit schweißfeuchten Händen daran festhielt.
Vor seinem inneren Auge sah er erneut das Dorf, die Leichen in den Straßen, und hörte im Geiste wieder die Worte des mechanisch zischenden Klockwerk-Dämons:
All die Jahre habt ihr uns mit euren runengezeichneten Waffen aus dieser Welt vertrieben. Doch nun besitzen wir Körper, gegen die eure Waffen nichts ausrichten – und diese Welt wird bald uns allein gehören.
Heiße Wut flammte in Will auf und strömte wie flüssiges Feuer durch seine Adern. Er drückte sich von der Felswand ab und stürmte blindlings in einen schmalen Tunnel, fort von der riesigen Höhle mit den Automaten. Plötzlich glaubte er, hinter sich ein Geräusch zu hören – ein Sirren, so als würde sich der Mechanismus einer gewaltigen Uhr in Gang setzen. Doch als er sich umdrehte, konnte er außer glatten Felswänden und reglosen Schatten nichts erkennen.
Der Tunnel, dessen Verlauf er nun folgte, wurde mit jedem Meter enger, bis Will sich schließlich nur noch seitwärts an herausragendem Quarzgestein vorbeischieben konnte. Er wusste: Wenn dieser Weg noch schmaler würde, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu der großen Höhle zurückzukehren. Der Gedanke daran gab ihm neue Energie. Er drückte sich weiter an der Wand entlang … und taumelte plötzlich vorwärts, als der Tunnel sich unvermittelt zu einem breiten Gang öffnete.
Der Gang erinnerte ihn ein bisschen an die Korridore im Institut; allerdings war er aus glattem Gestein gehauen und von Fackeln beleuchtet, die in regelmäßigen Abständen in Metallhalterungen an den Wänden hingen. Neben jeder Fackel befand sich eine bogenförmige Gewölbetür, ebenfalls aus Stein. Die ersten beiden Türen standen offen und gaben den Blick in leere dunkle Räume frei.
Hinter der dritten Tür war Tessa.
Will sah sie nicht sofort, als er den Raum betrat. Die Steintür schwang hinter ihm fast vollständig zu, doch er stellte fest, dass er nicht in völlige Dunkelheit getaucht wurde. Am hinteren Ende des Raums flackerte ein Licht – der Schein eines heruntergebrannten Kaminfeuers. Zu Wills Verwunderung war der Raum wie ein Gästezimmer in einem Wirtshaus möbliert: ein Bett und ein Waschtisch, Teppiche auf dem Boden, sogar Vorhänge an den Wänden, die jedoch vor nacktem Gestein hingen statt vor Fenstern.
Direkt vor dem Feuer kauerte ein schmächtiger Schatten auf den Steinplatten. Automatisch griff Wills Hand zum Heft seines Dolchs an der Hüfte – doch dann drehte sich die Gestalt um, das Haar fiel ihr über die Schulter, und Will sah ihr Gesicht.
Tessa.
Seine Hand gab den Dolch frei, während sein Herz in der Brust einen unglaublichen, fast schmerzhaften Satz machte. Er sah, wie sich ihre Miene änderte: Neugier, dann Überraschung und schließlich Fassungslosigkeit spiegelten sich auf ihrem Gesicht.
Sie erhob sich und ihre Röcke raschelten um sie herum, als sie sich aufrichtete. Dann streckte sie ihm die Hand entgegen. »Will?«, fragte sie.
Ihre Stimme wirkte wie ein Schlüssel in einem Türschloss und löste ihn aus seiner Erstarrung: Will setzte sich in Bewegung. Nie war ihm der Abstand zwischen Tessa und ihm größer erschienen als in diesem Augenblick. Die Entfernung zwischen London und Cadair war nichts im Vergleich zu dieser Distanz. Doch als er den Raum durchquerte, verspürte er ein Beben, wie eine Art Luftwiderstand. Er sah, wie Tessa eine Hand hob, wie ihre Lippen Worte formten … und dann lag sie in seinen Armen und die Wucht des Aufpralls raubte beiden den Atem.
Tessa stand auf den Zehenspitzen, die Arme um seinen Hals geschlungen, und flüsterte seinen Namen: »Will, Will, Will …«
Er begrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, in ihrem lockigen Haar, das nach Rauch und Veilchenwasser duftete. Und dann drückte er sie noch fester an sich, während ihre Finger sich in seinen Kragen krallten. Atemlos klammerten sie sich aneinander. Und in diesem Augenblick ließ der Kummer, der ihm seit Jems Tod wie eine eiserne Faust die Luft abgeschnürt hatte, einen Moment lang nach und er konnte wieder frei atmen. Er dachte an die Hölle, die er seit seinem Aufbruch in London durchgemacht hatte – die pausenlosen Tage im Sattel, die schlaflosen Nächte. Blut und Tod und Schmerz und Kampf. Alles, um hierher zu gelangen – zu Tessa.
»Will«, sagte sie wieder.
Er blickte zu ihr hinab, in ihr tränenfeuchtes Gesicht. Auf ihrem Wangenknochen prangte ein Bluterguss: Jemand hatte sie geschlagen. Heiße Wut kochte in ihm hoch. Er würde herausfinden, wer das getan hatte, und dann würde er denjenigen töten. Falls es sich um Mortmain handelte, würde er ihn allerdings erst töten, nachdem er sein grässliches Laboratorium vollständig niedergebrannt hatte – damit dieser Irre die Zerstörung all seiner Kreaturen miterleben konnte …
»Will«, setzte Tessa erneut an und riss ihn aus seinen Gedanken. Sie klang beinahe atemlos. »Will, du Idiot.«
Seine romantischen Gedanken kamen so abrupt zum Stehen wie eine Droschke im dichten Verkehr der Fleet Street. »Ich … was?«
»Ach, Will«, seufzte Tessa. Ihre Lippen bebten und sie sah aus, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie lachen oder weinen sollte. »Erinnerst du dich, wie du mir einmal gesagt hast, dass der stattliche junge Kavalier, der eine Dame vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren versucht, niemals falsch liegt? Selbst wenn er behaupten würde, der Himmel sei violett und von Igeln bevölkert. Weißt du das noch?«
»Ja. Das war bei unserer allerersten Begegnung.«
»Ach, Will, mein Will.« Behutsam löste sie sich von ihm und schob sich eine Locke hinters Ohr, hielt den Blick aber fest auf ihn gerichtet. »Ich will mir gar nicht ausmalen, wie du mich gefunden hast … wie schwierig es gewesen sein muss. Es ist einfach unglaublich. Aber … hast du wirklich gedacht, Mortmain würde mich unbewacht in einem Raum mit weit geöffneter Tür zurücklassen?« Tessa drehte sich um, ging ein paar Schritte in Richtung der Höhlenmitte und blieb dann abrupt stehen. »Hier«, sagte sie, hob ihre Hand und spreizte die Finger. »An dieser Stelle ist die Luft so massiv und undurchdringlich wie eine Mauer. Diese Höhle ist ein Gefängnis, Will – und du sitzt nun zusammen mit mir hier gefangen.«
Will war Tessa gefolgt und ahnte bereits, was er vorfinden würde. Denn er erinnerte sich an den Widerstand, den er beim Durchqueren des Raums gespürt hatte. Die Luft vibrierte leicht, als er sie mit den Fingern berührte, aber sie war härter als eine gefrorene Eisfläche. »Ich kenne diese Konfiguration«, sagte er. »Der Rat nutzt manchmal eine Variante davon.« Er ballte die Hand zur Faust und schlug mit solcher Wucht gegen die undurchdringliche Luft, dass seine Fingerknöchel schmerzten. »Uffern gwaedlyd«, fluchte er unterdrückt auf Walisisch. »Da bin ich den ganzen verdammten Weg quer durchs Land geritten, um zu dir zu finden, und dann bekomme ich noch nicht mal das hier vernünftig hin. In dem Moment, in dem ich dich gesehen habe, konnte ich an nichts anderes denken, als dich in den Armen zu halten. Beim Erzengel, Tessa …«
»Will!« Tessa nahm ihn am Arm. »Wage es bloß nicht, dich zu entschuldigen! Begreifst du denn nicht, was es für mich bedeutet, dass du hier bist? Das ist wie ein Wunder oder wie ein direktes Eingreifen des Himmels, weil ich gehofft hatte, die Gesichter meiner Lieben vor meinem Tod noch einmal sehen zu dürfen.« Ihre Worte waren klar und aufrichtig – eine Eigenschaft, die Will schon immer an Tessa geliebt hatte: die Tatsache, dass sie nichts verbarg oder heuchelte, sondern offen und ohne Umschweife ihre Meinung sagte. »Als ich im Haus der Dunklen Schwestern war, gab es niemanden, der sich die Mühe gemacht hätte, nach mir zu suchen. Dass du mich gefunden hast, war reiner Zufall. Doch jetzt …«
»Jetzt habe ich uns beide zum gleichen Schicksal verurteilt«, erwiderte Will leise. Er zückte einen Dolch und rammte ihn in die unsichtbare Mauer vor ihm. Doch die mit Runen versehene silberne Klinge zerbarst. Will warf das abgebrochene Heft beiseite und fluchte erneut vor sich hin.
Behutsam legte Tessa ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir sind nicht verurteilt«, widersprach sie. »Du bist doch bestimmt nicht allein hergekommen, Will. Henry oder Jem werden uns finden und befreien. Die Mauer kann von der anderen Seite entfernt werden. Ich habe gesehen, wie Mortmain das gemacht hat und …«
Will wusste nicht, was als Nächstes geschah. Bei der Erwähnung von Jems Namen musste sich seine Miene wohl verändert haben, denn er bemerkte, wie Tessa erbleichte und ihre Hand seinen Arm fester umklammerte. »Tessa«, sagte er. »Ich bin allein hier.« Das Wort »allein« kam stockend über seine Lippen, als könnte er die Bitterkeit seines Verlustes auf seiner Zunge schmecken und hätte Mühe, es überhaupt auszusprechen.
»Jem?«, wisperte sie. Es handelte sich um mehr als nur eine Frage.
Will schwieg; seine Stimme versagte ihm den Dienst. Er hatte angenommen, er könnte Tessa rasch hier herausholen, ehe er ihr von Jem erzählte; er hatte sich vorgestellt, sie an einen sicheren Ort zu bringen, wo genügend Zeit und Raum war, um sie zu trösten. Doch nun wusste er, wie dumm diese Annahme gewesen war – und auch die Vorstellung, man könne seinem Gesicht den Verlust nicht deutlich ansehen.
Jetzt wich auch der letzte Rest an Farbe aus Tessas Wangen, wie das letzte Aufflackern einer Flamme, die dann endgültig erlosch. »Nein«, flüsterte sie.
»Tessa …«
Kopfschüttelnd wich sie einen Schritt zurück. »Nein, das ist nicht möglich. Das hätte ich doch gewusst – nein, das kann nicht sein.«
Hilflos streckte er ihr seine Hand entgegen. »Tess…«
Tessa hatte am ganzen Körper zu zittern begonnen. »Nein«, stammelte sie erneut. »Nein, sag es nicht. Wenn du es nicht aussprichst, ist es auch nicht wahr. Es kann nicht wahr sein. Das ist nicht fair.«
»Es tut mir leid«, sagte Will leise.
Tessa entgleisten die Gesichtszüge und sie brach zusammen wie ein Damm unter zu hohem Druck: Sie sank auf die Knie, krümmte sich und schlang die Arme um sich, als könnte sie so verhindern, in tausend Stücke zu zerbrechen.
Erneut spürte Will eine Woge dieses ohnmächtigen Schmerzes, der ihn auch im Innenhof des Wirtshauses überwältigt hatte. Was hatte er getan? Er war hierhergekommen, um Tessa zu retten, doch stattdessen hatte er ihr nur zusätzlichen Schmerz bereitet. Es schien fast, als wäre er tatsächlich verflucht – nur dazu fähig, denjenigen, die er liebte, Kummer und Leid zuzufügen.
»Es tut mir leid«, wiederholte er aus tiefstem Herzen. »So furchtbar leid. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich an seiner Stelle gestorben.«
Bei diesen Worten schaute Tessa auf. Will wappnete sich bereits gegen ihren anklagenden Blick, doch in ihren Augen war kein Vorwurf zu erkennen. Stattdessen streckte sie ihm nur stumm die Hand entgegen.
Verwundert und überrascht nahm er ihre Hand und ließ sich von ihr hinabziehen, bis er vor ihr auf dem Boden kniete.
Ihr Gesicht war tränenüberströmt, umgeben von ihren dichten Locken, denen der Schein des Kaminfeuers einen goldenen Glanz verlieh. »Das Gleiche gilt für mich«, sagte sie. »Oh, Will. Das ist alles nur meine Schuld. Er hat sein Leben für mich weggeworfen. Wenn er seine Arznei doch nur sparsamer genommen hätte … wenn er sich mehr Ruhe gegönnt hätte, statt mir gute Gesundheit vorzutäuschen …«
»Nein!« Will packte Tessa an den Schultern und drehte sie zu sich. »Es ist nicht deine Schuld. Niemand könnte das je behaupten …«
Doch Tessa schüttelte den Kopf. »Wie kannst du nur meine Nähe ertragen?«, fragte sie verzweifelt. »Ich habe dir den Parabatai genommen. Und jetzt werden wir beide hier sterben. Und das alles nur meinetwegen.«
»Tessa«, flüsterte Will geschockt. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in dieser Situation gewesen war, wann er das letzte Mal jemanden hatte trösten müssen, dessen Herz gebrochen war, und dass er diesen Trost tatsächlich hatte spenden dürfen, statt sich zwingen zu müssen, demjenigen den Rücken zu kehren. Er fühlte sich so unbeholfen wie ein kleiner Junge – wie damals, als ihm das Messer wieder und wieder ungeschickt aus der Hand gefallen war, bis Jem ihm gezeigt hatte, wie man es richtig warf. Ratlos räusperte er sich. »Komm her«, sagte er leise und zog sie zu sich heran, bis sie beide auf dem Boden saßen, Tessa an ihn gelehnt, den Kopf auf seiner Schulter, seine Finger sanft in ihrem Haar. Er spürte, wie ihr Körper an seinem bebte, aber sie rückte nicht von ihm ab. Stattdessen klammerte sie sich an ihn, als würde seine Anwesenheit ihr wahrhaftig Trost spenden.
Und falls er sich tatsächlich einen Gedanken daran erlaubte, wie warm sie sich in seinen Armen anfühlte oder wie weich ihr Atem über seine Haut strich, dann geschah das wirklich nur für einen so kurzen Moment, dass er sich einreden konnte, es wäre ein Zufall gewesen.
Tessas Kummer tobte stundenlang wie ein Sturm, bevor er sich langsam zu legen begann. Sie schluchzte und weinte und Will hielt sie die ganze Zeit fest im Arm – bis auf einen kurzen Moment, als er rasch aufstand, um ein paar Holzscheite in das heruntergebrannte Feuer zu legen. Doch dann kehrte er sofort zu ihr zurück und setzte sich wieder neben sie, den Rücken gegen die unsichtbare Mauer gelehnt.
Vorsichtig berührte Tessa die Stelle auf seiner Schulter, an der ihre Tränen sein Hemd durchnässt hatten. »Tut mir leid«, sagte sie. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie sich während der vergangenen Stunden bei Will entschuldigt hatte, während sie sich gegenseitig von ihren Erlebnissen seit Tessas Entführung aus dem Institut berichtet hatten. Will hatte ihr von seinem Abschied von Jem und Cecily erzählt, von seinem Ritt quer durch das Land und von dem Moment, in dem er erkannt hatte, dass Jem von ihnen gegangen war. Und Tessa hatte ihm mitgeteilt, was Mortmain von ihr verlangt hatte: dass sie sich in seinen Vater hatte verwandeln müssen, damit er das letzte Puzzleteil bekam, das seine Automaten-Truppe zu einer unaufhaltsamen Armee machte.
»Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, Tess«, sagte Will nun. Er blickte in Richtung des Feuers, dem einzigen Licht im ganzen Raum. Der Schein der Flammen spielte golden und schwarz auf seinem Gesicht; die Schatten unter seinen Augen schimmerten violett und die Konturen seiner Wangenknochen und Schlüsselbeine traten deutlich hervor. »Du hast so sehr leiden müssen, genau wie ich. Der Anblick des Dorfes, das von den Automaten vernichtet wurde …«
»Wir waren beide zur selben Zeit dort«, stellte Tessa verwundert fest. »Wenn ich gewusst hätte, dass du in der Nähe warst …«
»Wenn ich gewusst hätte, dass du in der Nähe warst, wäre ich mit Balios direkt den Hügel hinaufgaloppiert, direkt zu dir.«
»Und wärst von Mortmains Kreaturen getötet worden. Es ist besser, dass du es nicht gewusst hast.« Tessa folgte seinem Blick und schaute ebenfalls ins Feuer. »Nun hast du mich ja gefunden und das ist das Einzige, das zählt.«
»Natürlich habe ich dich gefunden. Das hatte ich Jem schließlich versprochen«, erwiderte Will. »Und manche Versprechen darf man nicht brechen«, fügte er hinzu und holte gequält Luft.
Tessa spürte seinen flachen Atem an ihrer Seite: Sie saß dicht neben ihm, halb an ihn gelehnt, und seine Hände zitterten fast unmerklich, während er sie hielt. Vage war sie sich der Tatsache bewusst, dass sie es eigentlich nicht gestatten durfte, sich auf diese Weise von jemandem in den Arm nehmen zu lassen, der nicht ihr Bruder oder Verlobter war. Aber sowohl ihr Bruder als auch ihr Verlobter waren tot. Und schon morgen würde Mortmain sie finden und sie beide grausam bestrafen. Angesichts dieser Aussichten sah sie es nicht ein, besonders viele Gedanken an die Regeln des Anstands zu verschwenden.
»Wozu ist das alles gut gewesen? Wozu dieser ganze Kummer und Schmerz?«, fragte sie leise. »Ich habe ihn so sehr geliebt, doch ich war nicht einmal bei ihm, als er starb.«
Will strich ihr mit der Hand über den Rücken – leicht und schnell, als fürchtete er, Tessa könnte sonst von ihm abrücken. »Ich war auch nicht da«, sagte er. »Als es mir bewusst wurde, stand ich gerade im Innenhof eines Wirtshauses, auf halber Strecke nach Wales. Ich habe es gespürt. Das Band zwischen uns wurde zerrissen. Es war so, als hätte eine riesige Schere mein Herz in zwei Hälften zerteilt.«
»Will…«, setzte Tessa an. Sein Kummer war mit Händen zu greifen und vermischte sich mit ihrem eigenen Leid zu einer alles durchdringenden Trauer, die nur dadurch zu ertragen war, dass sie beide diesen Schmerz teilten. Aber es ließ sich nur schwer sagen, wer nun wen tröstete. »Du warst schon immer ein Teil seines Herzens.«
»Ich war derjenige, der ihn gebeten hat, mein Parabatai zu werden«, erzählte Will. »Jem hat sich anfangs gesträubt. Er wollte, dass ich verstand, dass ich mich mit diesem Lebensbund an jemanden band, der nicht sein ganzes Leben, sondern nur noch wenige Jahre vor sich hatte. Aber ich wollte es unbedingt, mit aller Macht – als eine Art Beweis dafür, dass ich nicht allein war, und um ihm zu zeigen, was ich ihm schuldete. Letzten Endes hat er nachgegeben und mir meinen Wunsch großzügig erfüllt. Wie immer.«
»Nein, sag das nicht«, forderte Tessa. »Jem war kein Märtyrer. Es war nie eine Strafe für ihn, mit dir als Parabatai verbunden zu sein. Du bist ihm wie ein Bruder gewesen – mehr als nur ein Bruder sogar, denn du hast dich freiwillig für ihn entschieden. Wenn er von dir gesprochen hat, dann immer mit großer Liebe und Loyalität und ohne den geringsten Zweifel.«
»Ich habe ihn zur Rede gestellt«, fuhr Will fort, »als ich herausgefunden hatte, dass er mehr Yin Fen einnahm, als er sollte. Ich war so furchtbar wütend und habe ihm vorgeworfen, er würde sein Leben einfach wegwerfen. Daraufhin erwiderte er: ›Es ist meine Entscheidung, für kurze Zeit für sie da zu sein und so hell zu brennen, wie ich es will.‹«
Tessa brachte nur einen erstickten Laut hervor.
»Und es war tatsächlich seine eigene Entscheidung, Tessa – nichts, was du ihm aufgezwungen hättest. Jem ist in seinem ganzen Leben niemals so glücklich gewesen wie mit dir.« Will hatte den Blick abgewandt und starrte ins Feuer. »Ganz gleich, was ich auch vorher zu dir gesagt haben mag – ich bin froh, dass er diese Zeit mit dir hatte. Und das solltest du auch sein.«
»Du klingst aber nicht besonders froh.«
Will hielt den Blick auf die Flammen geheftet. Sein schwarzes Haar, das beim Betreten der Höhle feucht gewesen war, umrahmte nun lockig sein Gesicht. »Ich habe ihn enttäuscht«, sagte er. »Jem hat mich mit dieser einen, dieser einzigen Aufgabe betraut: dich zu finden und sicher nach Hause zu bringen. Und nun scheitere ich an der letzten Hürde.« Endlich drehte er sich zu Tessa, doch seine blauen Augen schienen durch sie hindurchzublicken. »Ich wollte ihn nicht verlassen. Wenn er es gewünscht hätte, wäre ich bis zum letzten Atemzug bei ihm geblieben. Ich hätte meinen Eid nicht gebrochen. Aber er hat mich gebeten, dir nachzureiten …«
»Dann hast du alles getan, was er von dir verlangt hat. Du hast ihn nicht enttäuscht.«
»Aber dich zu finden, war auch mein Herzenswunsch«, wandte Will ein. »Und jetzt kann ich Selbstlosigkeit und Selbstsucht nicht mehr voneinander trennen. Als ich davon geträumt habe, dich zu retten … die Art und Weise, wie du mich ansehen würdest …« Er verstummte abrupt. »Wenigstens werde ich jetzt für diesen Hochmut böse bestraft.«
»Aber ich werde dafür belohnt.« Tessa schob ihre Hand in Wills. Seine Schwielen und Narben drückten rau gegen ihre Handfläche und sie hörte, wie er überrascht nach Luft schnappte. »Denn ich bin nicht länger allein; ich habe dich bei mir. Und wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht haben wir ja noch immer die Chance, Mortmain zu überwältigen oder uns unbemerkt davonzuschleichen. Wenn es jemanden gibt, der sich einen Weg ausdenken kann, von hier zu entkommen, dann ja wohl du.«
Nun schaute Will sie direkt an. Seine Wimpern überschatteten seine Augen, als er sagte: »Du bist einfach unglaublich, Tessa Gray: Du hast so viel Vertrauen zu mir, obwohl ich nichts dafür getan habe, mir dieses Vertrauen zu verdienen.«
»Nichts getan, um es zu verdienen?«, wiederholte sie ungläubig, mit erhobener Stimme. »Will, du hast mich vor den Dunklen Schwestern bewahrt, du hast mich von dir fortgestoßen, um mich vor deinem ›Fluch‹ zu schützen…du hast mich wieder und wieder gerettet. Du bist ein guter Mensch – einer der besten, die ich je kennengelernt habe.«
Will sah sie so sprachlos an, als hätte Tessa ihm einen Stoß versetzt. Vorsichtig fuhr er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich wünschte, du würdest das nicht sagen«, flüsterte er.
Tessa beugte sich zu ihm. Sein Gesicht war eine Mischung aus Schatten, Kanten und Flächen; sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, die Konturen seiner Lippen nachzuzeichnen, den Bogen seiner Wimpern auf seinen Wangen zu streicheln. Der Schein des Feuers spiegelte sich als nadeldünne Lichtpunkte in seinen Augen. »Will«, begann sie leise. »Bei unserer allerersten Begegnung habe ich gedacht, du siehst so aus, wie ich mir die Helden in meinen Lieblingsbüchern immer vorgestellt habe. Du hast gescherzt, du seist Sir Galahad. Weißt du das noch? Und sehr lange Zeit habe ich versucht, dich genau so zu sehen … als wärst du Mr Darcy oder Lancelot oder der arme Sydney Carton. Und das war mein Fehler. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um es endlich zu begreifen, aber jetzt ist mir vollkommen klar: Du bist kein Held aus einem meiner Romane.«
Will stieß ein kurzes, spöttisches Lachen hervor. »Das ist wohl wahr«, bestätigte er. »Ich bin kein Held.«
»Nein«, fuhr Tessa fort, »denn du bist eine Person, genau wie ich.« Will starrte sie verwirrt an, woraufhin Tessa seine Hand noch fester umklammerte und ihre Finger mit seinen verschränkte. »Verstehst du denn nicht, Will? Du bist eine Person wie ich. Du bist wie ich. Du sagst die Dinge, die ich denke, aber nicht laut ausspreche. Du liest die Bücher, die auch ich lese. Du liebst dieselben Gedichte wie ich. Du bringst mich zum Lachen … mit deinen albernen Liedern und deiner Eigenart, dank der du in allem sofort die Wahrheit erkennst. Ich habe das Gefühl, als könntest du in mich hineinschauen und all jene Seiten sehen, die an mir merkwürdig oder ungewöhnlich sind, und sie mit deinem Herzen umfangen, weil du auf genau dieselbe Art und Weise merkwürdig und ungewöhnlich bist.« Behutsam berührte Tessa seine Wange. »Wir sind eins.«
Will senkte die Lider; Tessa spürte seine Wimpern an ihren Fingerspitzen. Er holte Luft und erwiderte mit rauer, aber beherrschter Stimme: »Bitte, sag so etwas nicht, Tessa, bitte nicht.«
»Warum nicht?«
»Du hast gesagt, ich sei ein guter Mensch«, erklärte Will. »Aber so gut bin ich nun auch wieder nicht. Und ich bin … ich bin katastrophal in dich verliebt.«
»Will …«
»Ich liebe dich so sehr, so unfassbar sehr«, fuhr er fort. »Und wenn du mir so nah bist wie jetzt, vergesse ich, wer du bist. Ich vergesse dann, dass du Jem gehörst. Ich muss wahrscheinlich der schlechteste Mensch auf dieser Welt sein, dass ich das denke, was ich gerade denke. Aber ich kann nichts dagegen tun.«
»Ich habe Jem geliebt«, sagte Tessa. »Ich liebe ihn noch immer. Und er hat mich geliebt. Aber ich gehöre niemandem, Will. Mein Herz gehört mir. Es entzieht sich deiner Kontrolle. Es entzieht sich meiner Kontrolle.«
Will hatte die Augen noch immer geschlossen. Seine Brust hob und senkte sich rasch und Tessa konnte das laute Pochen seines Herzens hören, das schnell unter seinem festen Brustkorb schlug. Sein Körper war lebendig und warm an ihrer Seite und Tessa musste unwillkürlich an die kalten Automatenhände denken und an Mortmains noch kältere Augen. Sie überlegte, was wohl geschehen würde, wenn sie weiterlebte und Mortmain seine Pläne mit ihr durchsetzte und sie für den Rest ihres Lebens an ihn gebunden war – an einen Mann, den sie nicht liebte, ja sogar verachtete.
Sie dachte an das Gefühl seiner kalten Hände auf ihrem Körper und fragte sich, ob dies wohl die einzigen Hände waren, die sie jemals wieder berühren würden. »Was, glaubst du, wird morgen geschehen, Will?«, flüsterte sie. »Wenn Mortmain uns findet. Sag es mir ehrlich.«
Seine Hand bewegte sich vorsichtig, fast widerstrebend, über ihr Haar und blieb dann an ihrer Halsbeuge liegen. Tessa fragte sich, ob er das Klopfen ihres Herzens spüren konnte, ihre Reaktion auf seinen eigenen schnellen Puls. »Ich denke, Mortmain wird mich töten. Oder um genau zu sein: Er wird mich von diesen Kreaturen töten lassen. Ich bin ein ziemlich passabler Schattenjäger, Tess, aber diese Automaten … sie sind nicht aufzuhalten. Runengezeichnete Klingen können gegen sie nicht mehr ausrichten als herkömmliche Waffen und Seraphschwerter sind vollkommen nutzlos.«
»Aber du hast keine Angst.«
»Es gibt wesentlich Schlimmeres als den Tod«, erwiderte Will. »Nicht geliebt zu werden. Oder nicht lieben zu können … das ist viel schlimmer. Und es ist nicht ehrlos, im Kampf zu sterben, so wie es sich für einen Schattenjäger gehört. Ein ehrenhafter Tod – das habe ich mir immer gewünscht.«
Ein Schauer ging durch Tessas Körper. »Es gibt da zwei Dinge, die ich mir wünsche«, sagte sie, von ihrer ruhigen Stimme selbst überrascht. »Wenn du davon überzeugt bist, dass Mortmain morgen versuchen wird, dich zu töten, dann wünsche ich mir, dass du mir eine Waffe gibst. Ich werde meinen Klockwerk-Engel ablegen und an deiner Seite kämpfen. Und falls wir untergehen, gehen wir gemeinsam unter. Denn auch ich wünsche mir einen ehrenhaften Tod, genau wie Boadicea.«
»Tess…«
»Ich würde lieber sterben, als zum Werkzeug in Mortmains Händen zu werden. Gib mir eine Waffe, Will«, forderte sie und spürte, wie sein Körper an ihrem zitterte.
»Dafür kann ich sorgen«, willigte er schließlich ein. »Und was ist das Zweite, das du dir wünschst?«
Tessa musste schlucken. »Ich möchte dich noch ein letztes Mal küssen, ehe ich sterbe.«
Ruckartig riss Will die Augen auf. Sie schimmerten blau – blau wie das Meer und der Himmel in ihrem Traum von den Klippen und seinem Fall in die Tiefe, blau wie die Blüten, die Sophie in ihr Haar geflochten hatte. »Bitte sag nichts …«, setzte er an.
»Bitte sag nichts, was nicht auch so gemeint ist«, beendete Tessa den Satz für ihn. »Ich weiß. Das tue ich auch nicht. Ich meine es ernst, Will. Und mir ist bewusst, dass diese Bitte die Grenzen des Anstands weit überschreitet. Ich muss dir vollkommen verrückt erscheinen.« Sie senkte kurz den Blick, schaute dann wieder auf und fasste all ihren Mut zusammen. »Und wenn du mir sagen willst, dass du morgen sterben kannst, ohne dass unsere Lippen sich noch ein letztes Mal berührt haben und ohne jegliches Bedauern darüber, dann sag es jetzt und ich werde dich nicht länger darum bitten. Denn ich weiß, ich habe nicht das geringste Recht …«
Doch Tessa konnte den Satz nicht beenden, weil Will die Arme nach ihr ausgestreckt, sie an sich gerissen und seine Lippen auf ihren Mund gepresst hatte. Einen kurzen Moment bereitete der Kuss – voller Verzweiflung und nur mühsam beherrschtem Verlangen – beinahe Schmerzen; Tessa schmeckte Salz und Feuer in ihrem Mund und Wills keuchenden Atem. Doch dann mäßigte er sich, mit einer Anstrengung, die Tessa regelrecht fühlen konnte. Und die Bewegung seiner Lippen, das Spiel von Zunge und Zähnen, wandelte sich im Bruchteil einer Sekunde von schmerzhaft zu lustvoll.
Auf dem Balkon von Lightwood House war er behutsam und vorsichtig gewesen, doch jetzt nicht mehr: Seine Hände fuhren leidenschaftlich über ihren Rücken, griffen in ihr Haar, krallten sich in den Stoff ihres Kleids. Er hob sie an, sodass ihre Körper aufeinanderprallten, drängte sich an sie, mit seinem langen schlanken Körper, stark und fragil zugleich. Tessa neigte den Kopf zur Seite, als Will ihre Lippen mit seinen öffnete – und dann küssten sie sich nicht mehr nur, sondern verschlangen einander förmlich. Tessas Finger schoben sich in seine Haare und packten fest, beinahe schmerzhaft fest zu. Und ihre Zähne streiften seine Unterlippe. Will stöhnte und zog sie noch enger an sich, so eng, dass sie fast nach Luft schnappen musste.
»Will …«, wisperte Tessa. Und er richtete sich auf, mit ihr auf den Armen, sein Mund noch immer auf ihren Lippen. Tessa klammerte sich an seine Schultern, als er sie zum Bett trug und darauf legte. Sie war bereits barfuß und auch Will schleuderte rasch seine Stiefel von den Füßen und kletterte zu ihr aufs Bett. Ein Teil ihres Trainings hatte darin bestanden zu lernen, wie man die Schattenjägerkluft ohne fremde Hilfe ablegte. Daher bewegten sich ihre Finger nun leicht und behände über seine Kleidung, öffneten Verschlüsse und zogen die robuste Kampfmontur wie eine Schale beiseite. Ungeduldig stieß Will die Jacke von sich, richtete sich auf und hockte sich auf die Fersen, um seinen Waffengürtel abzunehmen.
Atemlos schaute Tessa zu. Wenn sie ihn zum Innehalten auffordern wollte, dann war jetzt der richtige Moment dafür. Seine narbenübersäten Hände lösten geschickt die Schnallen, und als er sich zur Seite drehte, um den Gürtel über die Bettkante fallen zu lassen, rutschte sein Hemd – das schweißfeucht an seiner Haut klebte – hoch, sodass Tessas Blick auf die nach innen gewölbte Fläche seines straffen Unterbauchs und die bogenförmige Rundung seiner Hüftknochen fiel. Sie hatte Will immer schon wunderschön gefunden, seine Augen, sein Gesicht, seine Lippen; aber bisher hatte sie nicht über den Rest von ihm nachgedacht. Doch auch sein Körper war wunderschön, so wie die Konturen und Flächen von Michelangelos David. Vorsichtig streckte Tessa die Hand aus, um ihn zu berühren, und fuhr mit den Fingerkuppen zart wie ein Spinnenfaden über die glatte Haut seiner harten Bauchmuskulatur.
Will reagierte sofort und erstaunlich: Er hielt den Atem an und schloss die Augen; sein Körper verharrte vollkommen reglos. Zögernd glitt Tessa mit den Fingern über den Bund seiner Hose; ihr Herz pochte wie wild und sie wusste kaum, was sie da tat – ein Instinkt, den sie nicht identifizieren oder erklären konnte, hatte die Kontrolle übernommen und trieb sie an. Ihre Hand schloss sich um seine Taille, ihr Daumen presste sich auf seinen Hüftknochen und zog ihn zu sich herab.
Und Will schob sich über Tessa, langsam und behutsam, und stützte die Ellbogen neben ihren Schultern auf das Bett. Ihre Augen trafen sich und hielten den Blick; ihre Körper berührten sich auf ganzer Länge, doch keiner von ihnen sprach ein Wort. Tessa spürte ein Sehnen in der Kehle: eine Mischung aus inniger Liebe und großem Kummer gleichermaßen. »Küss mich«, flüsterte sie.
Langsam, sehr langsam senkte er sich auf sie herab, bis ihre Lippen sich leicht berührten. Tessa wölbte sich ihm entgegen, wollte seinen Mund mit ihrem umfangen. Doch er zog sich zurück, liebkoste ihre Wange, setzte kleine Küsse auf ihre Mundwinkel und fuhr dann mit den Lippen über ihren Kiefer, ihren Hals, hinunter zu ihrer Kehle und sandte dabei ein elektrisierendes Kribbeln durch ihren ganzen Körper. Tessa hatte ihre Arme, ihre Hände, ihren Hals und ihr Gesicht immer als voneinander losgelöst betrachtet, hatte nie daran gedacht, dass ihre Haut eine durchgehende, empfindsame Hülle bilden könnte und dass sie einen Kuss in der Kehlgrube bis in ihre Zehenspitzen hinein würde spüren können.
»Will.« Ihre Hände zerrten hastig an seinem Hemd …
… sodass die Knöpfe abplatzten, das Gewebe nachgab und Will sich mit einem ungeduldigen Schütteln davon befreite. Seine dunklen Haare flogen wild hin und her und erinnerten Tessa an Heathcliff im Moor. Dann streiften seine Hände etwas weniger sicher über ihr Kleid.
Doch schließlich war auch das über den Kopf gezogen und beiseitegeworfen, sodass nur ihr Hemd und ihr Korsett zurückblieben. Tessa erstarrte; niemand außer Sophie hatte sie bisher in einem derart unbekleideten Zustand gesehen.
Will warf einen wilden Blick auf ihr Korsett, aus dem aber nicht nur Begehren sprach. »Wie …«, stammelte er, »wie zieht man das aus?«
Und Tessa musste trotz der ganzen Situation kichern. »Es ist geschnürt«, wisperte sie. »Im Rücken.« Dann führte sie seine Hände um ihren Rumpf, bis seine Finger die Schnüre des Korsetts fanden. Ein Beben ging durch ihren Körper – nicht vor Kälte, sondern wegen der Intimität dieser Berührung.
Sanft zog Will sie an sich und küsste erneut die Rundung ihrer Kehle bis hin zu ihrer nackten Schulter, sein Atem weich und warm auf ihrer Haut, bis Tessas Puls genauso schnell ging wie seiner. Ihre Hände glitten über seine Schultern, seine Arme, seine Hüften. Sie küsste die weißen Narben seiner verblassten Runenmale und wand sich um seinen Körper, bis sie beide nur noch aus leidenschaftlich verschlungenen Gliedmaßen zu bestehen schienen und Tessa Wills stoßweisen Atem an ihren Lippen und dann tief in ihrem Mund spürte.
»Tess«, flüsterte er. »Tess – wenn du aufhören möchtest …«
Stumm schüttelte Tessa den Kopf. Das Feuer im Kamin war ein weiteres Mal fast vollständig heruntergebrannt und malte Licht und Schatten auf Wills Körper, der sich weich und hart auf sie presste. Nein, nicht aufhören.
»Möchtest du wirklich?« Seine Stimme klang heiser.
»Ja«, wisperte Tessa. »Und du?«
Sein Finger zeichnete die Konturen ihres Mundes nach. »Für das hier hätte ich ewige Verdammnis in Kauf genommen. Für das hier hätte ich alles gegeben.«
Tessa spürte ein Brennen hinter den Augen, den Druck von Tränen, und blinzelte dann gegen die feuchten Wimpern an. »Will …«
»Dw i’n dy garu di am byth«, sagte er. »Ich liebe dich. Immer und ewig.« Und dann bewegte er sich, bis er ihren Körper mit seinem bedeckte.
Tief in der Nacht oder früh am Morgen wachte Tessa auf. Das Feuer war erloschen, doch der Raum wurde von dem eigenartigen Schein der Fackeln erhellt, die offenbar ohne ersichtlichen Grund oder Regelmaß aufflackerten und wieder ausgingen.
Behutsam rückte Tessa ein Stück zur Seite und stützte sich auf einen Ellbogen. Will schlummerte neben ihr, gefangen im reglosen Schlaf völliger Erschöpfung. Allerdings wirkte er ruhig und zufrieden – friedvoller, als Tessa ihn je gesehen hatte. Sein Atem ging gleichmäßig, seine Lider flatterten leicht im Traum.
Tessa war mit dem Kopf auf Wills Arm eingeschlafen und ihr Klockwerk-Engel hatte an seiner linken Schulter gelegen, direkt neben dem Schlüsselbein. Als sie zur Seite gerückt war, hatte sich auch der Anhänger von Wills Schulter gelöst – und Tessa stellte überrascht fest, dass der Engel ein kleines Mal auf Wills Haut hinterlassen hatte, kaum größer als eine Münze, in Gestalt eines blassen weißen Sterns.