GEWAGTE WÜNSCHE
Böte man mir das letzte
Jahr ein weiteres Mal an
Und die Wahl zwischen Gut und Böse stünde
offen,
Nähme ich dann die Freuden mit dem Kummer
an
Oder wagte ich zu wünschen, wir hätten uns nie
getroffen?
AUGUSTA LADY GREGORY, »BÖTE MAN MIR DAS LETZTE JAHR EIN WEITERES MAL AN«
Adressat: Konsul
Wayland
Absender: Gabriel und Gideon Lightwood
Verehrter Konsul,
wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, dass Sie uns mit der Aufgabe betraut haben, Mrs Branwells Verhalten zu observieren. Denn wie wir ja alle wissen, müssen Frauen streng überwacht werden, damit sie nicht vom rechten Weg abkommen. Es betrübt uns, Ihnen heute mitteilen zu müssen, dass wir schockierende Neuigkeiten haben.
Das Führen des Haushalts ist die vorrangigste Aufgabe einer Frau und Sparsamkeit ist eine der vorrangigsten weiblichen Tugenden. Mrs Branwell scheint dagegen jedoch zu unnötigen Geldausgaben zu neigen und sich ausschließlich für Geschmacklosigkeiten zu interessieren.
Obwohl sie sich beim Empfang von Besuchern eher schlicht kleidet, müssen wir zu unserem Bedauern berichten, dass sie sich während ihrer Mußestunden in die feinsten Seidengewänder hüllt und mit den kostbarsten Juwelen schmückt.
Sie, verehrter Konsul, haben uns dazu aufgefordert – und sosehr wir es auch verabscheuen, in die Privatgemächer einer Dame einzudringen, sind wir Ihrem Wunsch dennoch nachgekommen. Wir würden die genauen Angaben in Mrs Branwells Schreiben an ihre Putzmacherin gern wiedergeben, doch wir fürchten, dass diese Details Sie überwältigen würden. Nur so viel sei gesagt: Der Betrag, der in diesem Schreiben für die Anschaffung von Hüten ausgelegt wird, kann sich durchaus mit den Jahreseinnahmen eines großen Anwesens oder eines kleinen Landes messen. Wir verstehen beim besten Willen nicht, wozu eine einzige kleine Frau so viele Hüte benötigt. Es ist doch eher unwahrscheinlich, dass sie darunter zusätzliche Häupter auf ihrem Rumpf verbirgt.
Unter normalen Umständen würden wir als Gentlemen davon Abstand nehmen, die Garderobe einer Dame zu kommentieren, doch Mrs Branwells Verhalten hat schädliche Auswirkungen auf unsere Pflichten. Sie knausert in höchst beunruhigendem Maße bei den Dingen des täglichen Bedarfs: So sitzen wir jeden Abend vor einem Teller mit Haferschleim, während sie vor Geschmeide und protzigen Schmuckstücken nur so glitzert. Wie Sie sicher wissen, ist Schleimsuppe nicht gerade die geeignete Kost für Ihre tapferen Schattenjäger. Inzwischen sind wir derartig geschwächt, dass wir vergangenen Dienstag beinahe einem Behemoth-Dämon im Kampf erlegen wären – und dabei bestehen diese Kreaturen hauptsächlich aus einer zähflüssigen Substanz. Dagegen hätten wir früher, in körperlich bester Verfassung und mit guter Verpflegung ausgestattet, mit Leichtigkeit ein Dutzend dieser Dämonen vernichtet.
Wir hoffen sehr, dass Sie uns in dieser Angelegenheit Ihre Unterstützung gewähren und dass Mrs Branwells Ausgaben für Hüte – und andere weibliche Bekleidungsstücke, die zu benennen uns unser Taktgefühl untersagt – überprüft werden.
Mit vorzüglicher
Hochachtung
Gideon und Gabriel Lightwood
»Was ist ›Geschmeide‹?«, fragte Gabriel und blinzelte wie eine Eule auf den Brief, den er gerade zu schreiben geholfen hatte. Genau genommen, hatte Gideon das meiste davon diktiert; Gabriel hatte lediglich den Federhalter über den Papierbogen geführt. Irgendwie wurde er den Verdacht nicht los, dass sich hinter der mürrischen Miene seines Bruders ein großes humoristisches Talent verbarg.
Gideon machte eine abschätzige Handbewegung. »Das spielt keine Rolle. Versiegle den Umschlag und gib ihn Cyril, damit er mit der Morgenpost zugestellt werden kann.«
Seit dem Kampf gegen den riesigen Wurm waren mehrere Tage vergangen und Cecily fand sich ein weiteres Mal im Fechtsaal wieder. Allmählich fragte sie sich, ob sie nicht einfach ihr Bett und anderes Mobiliar herholen sollte, da sie offenbar ja doch die meiste Zeit hier verbrachte. Das Zimmer, das Charlotte ihr gegeben hatte, war nur sehr spärlich möbliert und bot auch ansonsten nichts, was Cecily an ihr früheres Zuhause erinnert hätte – schließlich hatte sie bei ihrer Abreise aus Wales kaum persönliche Dinge eingepackt, in der Annahme, dass sie nicht lange fortbleiben würde.
Aber hier im Fechtsaal fühlte sie sich geborgen. Vielleicht lag es daran, dass es in ihrem Elternhaus keinen derartigen Raum gegeben hatte: Dies war ein reiner Übungsraum für Schattenjäger und nichts daran konnte bei ihr Heimweh auslösen. An den Wänden hingen Dutzende von Waffen. Cecilys erste Unterrichtsstunden mit Will – in denen er vor unterdrückter Wut über ihre Anwesenheit im Institut nur so kochte – hatten darin bestanden, die Namen und Verwendungszwecke all dieser Waffen auswendig zu lernen. Katana-Schwerter aus Japan, Zweihänder, Stilette, Morgensterne und Streitkolben, türkische Krummsäbel, Armbrüste und Steinschleudern und winzige Blasrohre zum Verschießen von Giftpfeilen. Cecily erinnerte sich daran, dass Will die Begriffe ausgestoßen hatte, als wären sie vergiftet.
Du kannst so wütend sein, wie du nur willst, großer Bruder, hatte sie damals gedacht. Im Moment tue ich zwar so, als wollte ich eine Schattenjägerin werden, weil dir das keine andere Wahl lässt, als mich hierzubehalten. Aber ich werde dir zeigen, dass die Leute im Institut nicht deine Familie sind. Ich werde dich nach Hause holen.
Nun nahm Cecily ein Schwert von der Wand und balancierte es sorgfältig in den Händen. Will hatte ihr erklärt, dass man einen Zweihänder knapp unterhalb des Brustkorbs halten musste, sodass die Schwertspitze geradeaus zeigte. Dann verteilte man das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine und holte von den Schultern aus Schwung, nicht mit den Armen – nur so ließ sich die ganze Kraft in einen tödlichen Hieb legen.
Ein tödlicher Hieb. Viele Jahre lang war sie zornig auf ihren Bruder gewesen, weil er die Familie verlassen und sich den Schattenjägern in London angeschlossen hatte. Weil er sich zu einem Dienst verpflichtet hatte, den ihre Mutter als Leben voller Waffen, Blut, sinnloser Morde und Tod bezeichnet hatte. Was hatte ihm an den grünen Bergen von Wales denn nicht mehr gefallen? Woran hatte es ihrer Familie denn gemangelt? Warum hatte er dem blauesten aller blauen Meere den Rücken gekehrt, noch dazu für etwas, das so leer und sinnlos war wie das Dasein eines Schattenjägers?
Und dennoch stand sie nun hier und verbrachte ihre Zeit allein im Fechtsaal mit einer Sammlung stummer Waffen. Das Gewicht des Schwertes in ihrer Hand hatte etwas Beruhigendes, fast so als diente es als Mauer zwischen ihr und ihren Gefühlen.
Vor wenigen Nächten waren sie und Will durch die gesamte Innenstadt Londons gestreift, von Opiumhöhle zu Spielhölle und Ifrittreffpunkten – wie in einem Nebel aus Farben, Gerüchen und Lichtern. Ihr Bruder war zwar nicht gerade umgänglich gewesen, aber sie wusste, dass allein schon seine stillschweigende Einwilligung, ihn auf so einem heiklen Botengang begleiten zu dürfen, eine großmütige Geste war.
Anfangs hatte sie seine Gesellschaft genossen, weil es ihr fast so erschien, als hätte sie ihren Bruder zurück. Doch je weiter der Abend voranschritt, umso schweigsamer war Will geworden und nach ihrer Rückkehr zum Institut war er einfach wortlos davongestiefelt und hatte sie allein gelassen. Ihr war danach nichts anderes übrig geblieben, als auf ihr Zimmer zu gehen, sich aufs Bett zu legen und bis zum Morgengrauen schlaflos an die Decke zu starren.
Vor ihrem Aufbruch zum Institut hatte sie angenommen, dass die Beziehungen, die ihn an diesen Ort banden, nicht so stark sein konnten – seine Verbundenheit mit diesen Menschen konnte einfach nicht so eng sein wie wahre Familienbande. Doch im Laufe der Nacht, als sie zuerst seine Hoffnung und dann seine Enttäuschung gesehen hatte, die mit jeder neuen Drogenhöhle ohne Yin Fen gewachsen war, da hatte sie zu verstehen begonnen. Natürlich hatte sie schon zuvor davon gehört und es eigentlich auch gewusst, aber das war nicht dasselbe, wie es tatsächlich zu verstehen: Die Bande, die Will an diesem Ort festhielten, waren so stark wie jede Blutsbande.
Cecily spürte plötzlich, wie müde sie eigentlich war, und obwohl sie das Schwert exakt so hielt, wie Will es ihr beigebracht hatte – rechte Hand unterhalb des Korbs, linke Hand auf dem Knauf –, entglitt es ihrem Griff, sackte nach vorn und bohrte sich mit der Spitze in den Holzboden.
»Oje«, sagte eine Stimme an der Tür. »Ich fürchte, dafür kann ich nur drei Punkte geben. Möglicherweise vier, wenn man für das Schwertkampftraining in einem Nachmittagskleid einen zusätzlichen Punkt vergeben will.«
Cecily, die sich in der Tat nicht die Mühe gemacht hatte, ihre Schattenjägermontur anzuziehen, schaute sich ruckartig um und funkelte Gabriel Lightwood an, der wie eine Art Alb der Perversheit im Türrahmen erschienen war. »Möglicherweise interessiert mich Ihre Meinung aber auch gar nicht«, erwiderte sie kühl.
»Ja, möglicherweise«, sagte Gabriel und machte ein paar Schritte auf sie zu. »Der Erzengel weiß, dass Ihr Bruder sich jedenfalls nie dafür interessiert hat.«
»Da sind wir uns wohl einig«, bemerkte Cecily und zog das Schwert aus dem Holzboden.
»Aber in kaum etwas anderem …« Gabriel trat auf Cecily zu und stellte sich hinter sie. Aus einem der Trainingsspiegel blickte ihr Spiegelbild sie an: Gabriel war einen guten Kopf größer als Cecily, sodass sie ihn über ihrer Schulter mühelos mustern konnte. Er besaß ein eigenwilliges, kantiges Gesicht, attraktiv aus manchen Blickwinkeln und ungemein faszinierend aus anderen. Eine kleine weiße Narbe leuchtete an seinem Kinn, als hätte ihn dort eine scharfe Klinge gestreift. »Möchten Sie, dass ich Ihnen zeige, wie man diesen Zweihänder richtig hält?«, fragte er.
»Wenn es unbedingt sein muss.«
Statt einer Antwort griff Gabriel um Cecily herum und korrigierte ihre Hand auf dem Knauf. »Man sollte sein Schwert nie mit der Spitze nach unten halten«, erklärte er. »Besser mit der Spitze nach vorn. Auf diese Weise wird sich der Gegner bei einem Angriff selbst auf der Klinge aufspießen.«
Cecily passte ihren Griff entsprechend an, während sich ihre Gedanken förmlich überschlugen: Sie hatte die Schattenjäger so lange Zeit für Monster gehalten. Monster, die ihren Bruder entführt hatten… Und sie selbst war die Heldin gewesen, die zu seiner Rettung herangestürmt kam, auch wenn Will wahrscheinlich gar nicht wusste, dass er gerettet werden musste. Die Erkenntnis, wie menschlich die Nephilim tatsächlich waren, hatte bei ihr erst allmählich eingesetzt und nun konnte Cecily die Wärme spüren, die von Gabriels Brustkorb aufstieg, seinen warmen Atem in ihrem Nacken … Ach, es war wirklich eigenartig, so viele Dinge an einem anderen Menschen wahrzunehmen: das Gefühl seines Körpers, die Wärme seiner Haut und dann erst sein Geruch …
»Ich habe gesehen, wie Sie im Garten meines Elternhauses gekämpft haben«, murmelte Gabriel Lightwood. Seine schwielige Hand streifte über einen ihrer Finger und Cecily musste einen leisen, prickelnden Schauer unterdrücken.
»So schlecht?«, fragte sie und versuchte dabei, einen neckischen Ton anzuschlagen.
»Mit Leidenschaft. Manche kämpfen, weil es ihre Pflicht ist, aber andere kämpfen, weil sie es lieben. Und Sie lieben den Kampf.«
»Ich weiß nicht …«, setzte Cecily an, wurde aber unterbrochen, als die Tür des Fechtsaals mit einem lauten Knall aufflog.
Will stand im Türrahmen und füllte ihn mit seiner hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt vollständig aus. Seine blauen Augen blitzten stürmisch. »Was machst du hier?«, fragte er fordernd.
Das bedeutete wohl das Ende ihres kurzen Waffenstillstands, den sie in der Nacht zuvor erreicht hatten, überlegte Cecily. »Ich trainiere«, entgegnete sie ihrem Bruder. »Du hast selbst gesagt, dass ich ohne Training nicht besser werden würde.«
»Nicht du. Ich meine Gabriel Lightworm da drüben.« Will deutete mit dem Kinn auf den anderen Nephilim. »Oh, Entschuldigung. Lightwood.«
Langsam löste Gabriel seine Arme von Cecily und richtete sich auf. »Wer auch immer deine Schwester bisher im Schwertkampf unterrichtet hat, hat ihr eine Menge schlechter Angewohnheiten beigebracht. Ich hatte lediglich angeboten, ihr zu helfen.«
»Und ich habe mich damit einverstanden erklärt«, fügte Cecily hinzu. Sie hatte keine Ahnung, warum sie Gabriel verteidigte – abgesehen von der vagen Hoffnung, Will damit verärgern zu können.
Und ihre Worte erreichten tatsächlich den gewünschten Effekt: Will kniff wütend die Augen zu Schlitzen. »Und hat er dir auch gesagt, dass er schon seit Jahren nach einem Weg sucht, mir die angebliche Beleidigung seiner Schwester heimzuzahlen? Und welcher Weg wäre da geeigneter als über dich?«
Ruckartig drehte Cecily den Kopf zu Gabriel, auf dessen Miene sich eine Mischung aus Kummer und Trotz spiegelte. »Ist das wahr?«
Doch Gabriel wandte sich nicht an sie, sondern an Will: »Wenn wir zukünftig alle unter einem Dach leben, Herondale, dann werden wir lernen müssen, einander höflicher zu behandeln. Meinst du nicht?«
»Solange ich dir weiterhin mit derselben Leichtigkeit den Arm brechen kann, wie dir ins Gesicht zu sehen, werde ich dem ganz gewiss nicht zustimmen.« Will drehte sich zur Wand und nahm ein Rapier aus der Halterung. »Und jetzt verschwinde von hier, Gabriel. Und lass meine Schwester in Ruhe.«
Mit einem einzigen verächtlichen Blick schob Gabriel sich an Will vorbei und verließ den Fechtsaal.
»War das wirklich nötig, Will?«, fragte Cecily aufgebracht, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
»Ich kenne Gabriel Lightwood – im Gegensatz zu dir. Daher schlage ich vor, du überlässt es mir, seinen Charakter zu beurteilen. Er will dich nur benutzen, um mich zu treffen …«
»Ach, wirklich? Und du kannst dir nicht vorstellen, dass er für sein Angebot auch andere Gründe haben könnte? Alles dreht sich immer nur um dich?«
»Ich kenne ihn«, wiederholte Will. »Er ist ein Lügner und Verräter …«
»Menschen ändern sich.«
»Nicht so sehr.«
»Aber du schon«, stellte Cecily fest, durchquerte den Raum und ließ ihr Schwert klirrend auf eine Bank fallen.
»Und du ebenfalls«, erwiderte Will.
Seine Bemerkung überraschte Cecily und sie drehte sich zu ihm um. »Ich habe mich verändert? Inwiefern?«
»Als du hier angekommen bist, hast du die ganze Zeit nur davon gesprochen, mich nach Hause zu holen«, erklärte Will. »Du hast dein Training verabscheut. Zwar hast du das Gegenteil vorgegeben, aber ich konnte es genau spüren. Und irgendwann haben deine ständigen Quengeleien ›Will, du musst mit mir nach Hause kommen‹ und ›Schreib endlich diesen Brief, Will‹ schließlich aufgehört. Außerdem hast du allmählich Gefallen am Training gefunden. Gabriel Lightwood ist ein Idiot, aber in einer Hinsicht hat er recht: Du hast es wirklich genossen, im Garten von Lightwood House gegen diesen riesigen Wurm zu kämpfen. Das Schattenjägerblut liegt wie Schießpulver in deinen Adern, Cecy: Hat es sich erst einmal entzündet, lässt es sich so leicht nicht mehr löschen. Wenn du noch länger hierbleibst, ist es mehr als wahrscheinlich, dass du genauso wirst wie ich – zu sehr damit verbunden, um je wieder fortgehen zu können.«
Cecily musterte ihren Bruder finster. Sein Hemdkragen stand offen und darunter kam etwas zum Vorschein, das scharlachrot an seiner Kehle aufblitzte. »Trägst du etwa eine Damenkette, Will?«, fragte sie verwundert.
Überrascht griff Will sich an den Hals, doch bevor er etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür zum Fechtsaal erneut.
Sophie schaute ihnen entgegen, einen besorgten Ausdruck auf dem vernarbten Gesicht. »Master Will, Miss Herondale«, setzte sie an. »Ich habe Sie schon überall gesucht. Charlotte hat angeordnet, dass alle sofort in den Salon kommen sollen. Es ist sehr dringend.«
Cecily hatte sich schon immer etwas einsam gefühlt, fast wie ein Einzelkind – kein Wunder, wenn die älteren Geschwister entweder tot oder verschwunden waren und in der näheren Umgebung keine anderen Jugendlichen lebten, die ihre Eltern für geeignete Freunde hielten. Sie hatte schon sehr früh gelernt, sich selbst zu beschäftigen und sich mit der Beobachtung anderer Menschen zu unterhalten. Dabei teilte sie ihre Gedanken und Notizen zwar mit niemandem, verwahrte sie aber immer griffbereit, damit sie sie später hervorholen und in aller Ruhe studieren konnte.
Lebenslange Angewohnheiten ließen sich nicht leicht ablegen, und obwohl Cecily seit ihrer Ankunft im Institut acht Wochen zuvor nicht länger einsam war, hatte sie die Bewohner des Hauses zu ihren Studienobjekten gemacht. Schließlich handelte es sich um Schattenjäger – anfänglich ihre erklärten Feinde und später dann, als Cecily diese Ansicht ablegte, einfach nur faszinierende Menschen.
Auch jetzt, als sie zusammen mit Will den Salon betrat, warf sie einen interessierten Blick in die Runde. Da war zunächst einmal Charlotte, die an ihrem Schreibtisch saß. Cecily kannte Charlotte zwar noch nicht lange, aber sie wusste dennoch, dass Charlotte zu der Sorte von Frau gehörte, die selbst unter Druck immer die Ruhe bewahrte. Sie war winzig, aber stark – ein wenig wie Cecilys Mutter, allerdings ohne deren Neigung, leise auf Walisisch vor sich hin zu murmeln.
Dann war da Henry. Vermutlich hatte er es als Erster geschafft, Cecily davon zu überzeugen, dass Schattenjäger zwar anders sein mochten, aber nicht gefährlich fremdartig. Denn Henry verströmte absolut nichts Furchterregendes, wie er da schlaksig an Charlottes Schreibtisch lehnte.
Cecilys Blick wanderte zu Gideon Lightwood, der etwas kleiner und kräftiger gebaut war als ihr Bruder – Gideon, dessen graugrüne Augen Sophie auf Schritt und Tritt folgten wie ein hoffnungsvoller Welpe. Sie fragte sich, ob die anderen Institutsbewohner seine Zuneigung zu dem Dienstmädchen auch bemerkt hatten und was Sophie wohl davon hielt.
Und dann war da natürlich noch Gabriel. Über ihn hatte sie sich noch keine eindeutige Meinung gebildet – ihre Gedanken waren einfach zu verworren. Als er sich nun gegen den Sessel lehnte, in dem sein Bruder saß, leuchteten seine Augen und sein ganzer Körper schien unter Spannung zu stehen.
Auf dem dunklen Samtsofa gegenüber den Lightwood-Brüdern saß Jem, mit Tessa an seiner Seite. Er hatte aufgeschaut, als die Salontür aufgegangen war, und bei Wills Anblick wie jedes Mal innerlich aufgeleuchtet. Dieses Verhalten war für beide typisch und Cecily fragte sich, ob alle Parabatai diese Eigenschaft teilten oder ob die beiden eine einzigartige Ausnahme bildeten. Auf jeden Fall musste es schrecklich sein, so eng mit einem anderen Menschen verbunden zu sein – insbesondere wenn es sich dabei um jemanden handelte, der so fragil war wie Jem.
Während Cecily sie beobachtete, legte Tessa ihre Hand über Jems Finger und raunte ihm irgendetwas zu, das ihn zum Lächeln brachte. Dann schaute Tessa rasch zu Will, doch der durchquerte nur den Salon und lehnte sich wie üblich an den Kaminsims. Cecily hätte nicht zu sagen vermocht, ob er das tat, weil ihm ständig kalt war oder weil er vielleicht glaubte, vor den flackernden Flammen eine besonders schneidige Figur abzugeben.
Du musst dich ja furchtbar schämen für deinen Bruder – der unerlaubte Gefühle für die Verlobte seines Parabatai hegt … hatte Will ihr gesagt. Wenn er jemand anderes gewesen wäre, hätte sie ihm gesagt, dass es keinen Zweck hatte, irgendwelche Geheimnisse zu hüten. Denn die Wahrheit würde eines Tages unweigerlich ans Licht kommen. Aber in Wills Fall war Cecily sich nicht so sicher: Er hatte jahrelange Erfahrung darin, Dinge geheim zu halten und anderen etwas vorzumachen. Er war ein Meister der Schauspielkunst. Wenn sie nicht seine Schwester gewesen wäre und sein Gesicht in den Momenten gesehen hätte, in denen Jem gerade nicht hinschaute, dann hätte sie Wills wahre Gefühle vermutlich auch nicht erraten.
Nicht zu vergessen die schreckliche Tatsache, dass er sein Geheimnis nicht für immer bewahren musste. Er brauchte es nur so lange zu verstecken, wie Jem noch lebte. Wenn James Carstairs nicht so freundlich und gutmütig gewesen wäre, überlegte Cecily, dann hätte sie ihn möglicherweise um ihres Bruders willen gehasst. Nicht genug, dass er das Mädchen heiraten würde, das Will liebte – wenn Jem eines nicht allzu fernen Tages starb, würde Will sich von diesem Schlag nicht mehr erholen, fürchtete Cecily. Aber natürlich konnte man Jem seinen nahenden Tod nicht zum Vorwurf machen. Mutwilliges Verlassen vielleicht, so wie ihr Bruder sie und ihre Eltern verlassen hatte, aber nicht den Tod, der sich gewiss der Macht eines jeden Sterblichen entzog.
»Ich bin froh, dass ihr alle hier seid«, sagte Charlotte im nächsten Moment mit angespannter Stimme und riss Cecily damit aus ihren Gedanken. Charlotte warf einen ernsten Blick auf ein poliertes Silbertablett auf ihrem Schreibtisch, auf dem ein geöffneter Brief und ein in Wachspapier gewickeltes Päckchen lagen. »Ich habe ein beunruhigendes Schreiben erhalten. Vom Magister.«
»Von Mortmain?« Tessa beugte sich vor, woraufhin der Klockwerk-Engel aus ihrem Kragen rutschte und im Schein des Kaminfeuers aufleuchtete. »Er hat dir geschrieben?«
»Aber vermutlich nicht, um sich zu erkunden, wie es dir denn so geht«, meinte Will. »Was will er?«
Charlotte holte tief Luft. »Am besten lese ich euch den Brief vor.«
»Meine verehrte Mrs Branwell,
bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen in diesen schwierigen Zeiten zusätzliche Umstände bereite. Die Nachricht von Mr Carstairs’ ernstem Gesundheitszustand hat mich tief betrübt, wenn auch nicht überrascht, wie ich gestehen muss.
Ich denke, Sie sind sich der Tatsache bewusst, dass ich der glückliche Besitzer einer größeren Menge – darf ich sagen einer mehr als größeren Menge – der Arznei bin, die Mr Carstairs für den Erhalt seines Wohlbefindens benötigt. Daher befinden wir uns nun in einer höchst interessanten Situation, um deren – für alle Parteien zufriedenstellenden – Lösung ich sehr bemüht bin. Über einen Tausch wäre ich höchst erfreut: Wenn Sie bereit sind, mir Miss Gray zu überantworten, werde ich Ihnen eine nicht unbeträchtliche Menge Yin Fen zukommen lassen.
Als Zeichen meines guten Willens schicke ich Ihnen ein Päckchen. Ich ersuche Sie, mir Ihre Entscheidung bald schriftlich mitzuteilen. Wenn Sie meinem Automaten die Zahlen, die Sie am unteren Rand dieses Schreibens finden, in der richtigen Reihenfolge nennen, bin ich sicher, dass ich Ihre Nachricht erhalten werde.
Mit vorzüglicher
Hochachtung
Axel Mortmain«
»Das ist alles«, sagte Charlotte, faltete den Brief zusammen und legte ihn wieder auf das Tablett. »Hier sind noch ein paar Anweisungen zum Herbeirufen des Automaten, dem wir unsere Antwort geben sollen, sowie die oben erwähnten Zahlen, die uns aber keinerlei Hinweise auf Mortmains Aufenthaltsort geben.«
Im Raum herrschte schockiertes Schweigen. Cecily, die in einem geblümten Ohrensessel Platz genommen hatte, warf Will einen kurzen Blick zu und sah, wie er rasch den Kopf abwandte, als wollte er seine Miene verbergen. Jem war aschfahl geworden und Tessa … Tessa saß vollkommen reglos da, während der flackernde Schein des Kaminfeuers huschende Schatten auf ihr Gesicht warf.
»Mortmain will mich«, brach sie schließlich die Stille. »Im Tausch gegen Jems Yin Fen.«
»Das ist lächerlich«, verkündete Jem. »Absolut lachhaft. Wir sollten den Brief dem Rat übergeben, damit man dort überprüfen kann, ob sich nicht doch etwas über Mortmains Aufenthaltsort herausfinden lässt. Aber das ist auch schon alles.«
»Der Rat wird dem Schreiben keine genaueren Informationen entlocken können«, sagte Will leise. »Dafür ist der Magister doch jedes Mal viel zu gerissen.«
»Das hier ist nicht gerissen«, erwiderte Jem. »Das hier ist die primitivste Form von Erpressung …«
»Ich will dir gar nicht widersprechen«, pflichtete Will ihm bei. »Außerdem schlage ich vor, wir nehmen das Päckchen als unverhofften Segen – eine Handvoll zusätzliches Yin Fen, das dir weiterhelfen wird – und ignorieren den Rest einfach.«
»Mortmain hat diesen Brief meinetwegen aufgesetzt«, unterbrach Tessa die beiden. »Also sollte es auch meine Entscheidung sein.« Sie drehte sich in Charlottes Richtung. »Ich werde zu ihm gehen.«
Erneut herrschte Totenstille. Charlotte war kreidebleich; Cecily spürte, wie ihre Hände in ihrem Schoß schweißfeucht wurden. Die Lightwood-Brüder schienen sich äußerst unbehaglich zu fühlen; Gabriel sah aus, als wünschte er sich an jeden anderen Ort der Welt, nur nicht hierher. Cecily konnte ihnen deswegen kaum einen Vorwurf machen. Die Spannung zwischen Will, Jem und Tessa erschien auch ihr wie ein Pulverfass, das nur eines einzigen Zündholzes bedurfte, um mit einem gewaltigen Knall in die Luft zu fliegen.
»Nein«, entschied Jem schließlich und stand auf. »Tessa, das kannst du nicht tun.«
Tessa folgte seiner Bewegung und erhob sich ebenfalls vom Sofa. »Selbstverständlich kann ich das. Du bist mein Verlobter; ich kann nicht zulassen, dass du stirbst, wenn ich es möglicherweise zu verhindern vermag. Außerdem hat Mortmain nicht vor, mir körperlichen Schaden zuzufügen …«
»Wir wissen doch gar nicht, was er vorhat! Ihm darf man nicht trauen!«, rief Will plötzlich, ließ dann den Kopf sinken und umklammerte den Kaminsims so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Cecily konnte ihm ansehen, dass er sich zwingen musste, nicht weiterzureden.
»Wenn Mortmain hinter dir her wäre, Will, würdest du genauso handeln«, wandte Tessa ein und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete. Ihre Worte ließen Will zusammenzucken.
»Nein«, widersprach Jem. »Ihm würde ich es ebenfalls verbieten.«
Verärgert fuhr Tessa zu Jem herum. Es war das erste Mal, dass Cecily sie überhaupt wütend erlebte. »Du kannst mir nichts verbieten – genauso wenig wie Will …«
»Doch, das kann ich sehr wohl«, verkündete Jem. »Und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Diese Droge ist kein Heilmittel, Tessa. Sie verlängert mein Leben lediglich um eine gewisse Zeit. Ich werde nicht zulassen, dass du dein ganzes Leben für einen Rest meines Lebens wegwirfst. Wenn du Mortmain aufsuchst, wird das vergebens sein. Denn ich werde diese Droge nicht nehmen.«
Will hob den Kopf. »James …«
Aber Tessa und Jem starrten einander unverwandt an. »Das würdest du nicht tun«, flüsterte Tessa. »Du würdest mir das Opfer, das ich für dich bringe, nicht derart ins Gesicht schleudern.«
Mit wenigen Schritten durchquerte Jem den Salon und schnappte sich das Päckchen und den Brief von Charlottes Schreibtisch. »Ich würde dir lieber dein Opfer ins Gesicht schleudern, als dich zu verlieren«, erwiderte er, und bevor ihn irgendjemand daran hindern konnte, warf er beides ins Feuer.
Im nächsten Moment erfüllten Rufe den Raum, Henry machte einen Satz nach vorn, doch Will kniete bereits vor dem Kamin und griff mit beiden Händen in die Flammen.
Sofort sprang Cecily von ihrem Sessel auf. »Will!«, brüllte sie, stürmte zu ihrem Bruder, packte ihn an den Schultern und zog ihn vom Feuer fort.
Will taumelte rückwärts und das noch brennende Päckchen entglitt seinen Fingern. Einen Sekundenbruchteil später war Gideon zur Stelle, trat die Flammen aus und hinterließ einen Haufen verbranntes Papier auf dem Teppich, vermischt mit silbernem Pulver.
Bestürzt starrte Cecily in das Kaminfeuer. Der Brief mit Mortmains Anleitungen zum Herbeizitieren seines Automaten war verschwunden, zu Asche verbrannt.
»Will«, stieß Jem hervor, ganz grün im Gesicht. Er ließ sich neben Cecily, die ihren Bruder noch immer an den Schultern hielt, auf die Knie fallen und zückte seine Stele. Die Haut auf Wills Händen leuchtete scharlachrot, nur durchbrochen von weißen Brandblasen und schwarzen Rußflecken. Sein Atem ging stoßweise und er schnappte schmerzerfüllt nach Luft – so wie damals, als er im Alter von neun Jahren vom Dach ihres Elternhauses gefallen war und sich mehrfach den linken Arm gebrochen hatte, schoss es Cecily durch den Kopf.
»Byddwch yn iawn, Will«, sagte sie, während Jem die Stele auf Wills Unterarm platzierte und rasch eine Heilrune auftrug. »Es wird dir bald wieder besser gehen.«
»Will«, brachte Jem leise hervor. »Will, es tut mir leid. Es tut mir so leid. Will …«
Als die Iratze ihre Wirkung entfaltete und Wills Haut wieder einen helleren, gesunden Farbton annahm, normalisierte sich auch seine Atmung allmählich. »Da liegt noch etwas Yin Fen herum, das sich auf jeden Fall retten ließe«, murmelte er und sank gegen Cecily. Er roch nach Rauch und Eisen und sie konnte sein Herz durch seinen Rücken hindurch schlagen fühlen. »Es wäre besser, wenn sich jemand darum kümmert und es aufsammelt, ehe …«
»Hier.« Tessa kniete sich neben ihn.
Cecily war sich vage bewusst, dass alle anderen um sie herumstanden, wobei Charlotte vor Bestürzung eine Hand vor den Mund geschlagen hatte.
In Tessas rechter Hand lag ein Taschentuch, das ungefähr eine halbe Handvoll Yin Fen enthielt – das war alles, was Will aus dem Feuer gerettet hatte. »Hier, nimm es«, sagte sie und drückte es ihrem Verlobten in die Hand.
Jem setzte zu einer Antwort an, doch Tessa hatte sich bereits aufgerichtet und er konnte ihr nur niedergeschlagen nachschauen, während sie den Salon verließ.
»Oh, Will. Was sollen wir nur mit dir machen?«
Obwohl Will sich in dem geblümten Ohrensessel ein wenig fehl am Platz fühlte, ließ er sich von Charlotte, die auf einem kleinen Schemel vor ihm saß, bereitwillig Salbe auf die Hände auftragen. Nach drei Heilrunen schmerzten sie zwar nicht mehr und die Haut hatte auch wieder ihre normale Farbe angenommen, doch Charlotte bestand darauf, sie dennoch zu behandeln.
Die anderen hatten sich inzwischen zurückgezogen; nur Cecily und Jem waren geblieben. Seine Schwester saß neben ihm, auf der Armlehne seines Sessels, und Jem kniete auf dem angesengten Teppich, dicht vor Will, ohne ihn jedoch zu berühren und die Stele noch immer in der Hand. Cecily und Jem hatten sich geweigert, den Salon zu verlassen, selbst nachdem die anderen gegangen waren und Charlotte Henry zurück in sein Labor geschickt hatte, um seine Arbeit fortzusetzen. Schließlich gab es hier nichts weiter zu tun. Die Anleitungen zum Kontaktieren Mortmains waren verbrannt und es mussten keine weiteren Entscheidungen gefällt werden.
Charlotte hatte darauf bestanden, dass Will noch blieb und seine Hände behandeln ließ; und Cecily und Jem hatten ihn nicht allein lassen wollen. Will musste sich eingestehen, dass ihm das gefiel. Es gefiel ihm, dass seine Schwester dort auf seiner Armlehne hockte und jeden, der sich in seine Nähe wagte, mit einem funkelnden, beschützerischen Blick bedachte – selbst Charlotte, die kleine Charlotte, die mit ihrer Salbe und ihrer mütterlichen Besorgnis nun wirklich vollkommen harmlos war. Aber Will gefiel es auch, dass Jem bei ihm war, zu seinen Füßen saß und sich leicht an seinen Sessel lehnte – wie so viele Male, wenn Will nach einem Kampf oder einer Schlacht verbunden und mit einer Iratze versehen wurde.
»Weißt du noch, wie Meliorn versucht hat, dir die Zähne auszuschlagen, weil du ihn einen spitzohrigen Tagedieb genannt hast?«, fragte Jem nun. Er hatte etwas von Mortmains Yin Fen eingenommen, wodurch seine Wangen wieder mehr Farbe bekommen hatten.
Will musste lächeln, trotz des Ernstes der Situation; er konnte einfach nichts dagegen tun. Während der vergangenen Jahre hatte er sich nur wegen einer einzigen Tatsache glücklich geschätzt: die Tatsache, dass es in seinem Leben jemanden gab, der ihn kannte und genau wusste, was er dachte, noch bevor er es laut ausgesprochen hatte. »Ich hätte ihm ebenfalls die Zähne ausgeschlagen«, erklärte er, »doch als ich mich auf die Suche nach ihm gemacht hatte, musste ich feststellen, dass er inzwischen nach Amerika ausgewandert war. Sehr wahrscheinlich um meiner Rache zu entgehen.«
»Hm«, murmelte Charlotte, wie jedes Mal, wenn sie der Ansicht war, dass Will sich überschätzte. »Soweit ich weiß, hatte Meliorn viele Feinde in London.«
»Dydw I ddim yn gwybod pwy yw unrhyw un o’r bobl yr ydych yn siarad amdano«, sagte Cecily in klagendem Ton.
»Du magst zwar nicht wissen, über wen wir hier reden, aber die anderen wissen nicht, was du gerade sagst«, erwiderte Will, allerdings nicht sehr tadelnd. Er konnte seiner eigenen Stimme die Erschöpfung anhören. Der Schlafmangel der vergangenen Nacht forderte allmählich seinen Tribut. »Sprich Englisch, Cecy.«
Charlotte erhob sich, kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und stellte das Gefäß mit der Salbe ab.
Behutsam zupfte Cecily an Wills Haaren. »Zeig mir mal deine Hände.«
Will hielt sie hoch. Seine Erinnerung kehrte zu dem Kaminfeuer zurück, zu dem glühend heißen Schmerz und vor allem zu dem schockierten Ausdruck auf Tessas Gesicht. Er wusste, dass sie verstehen würde, warum er das getan hatte, warum er keine Sekunde gezögert hatte. Doch der Blick in ihren Augen … als bräche es ihr seinetwegen das Herz.
Er wünschte nur, sie wäre noch da. Es war schön, mit Jem und Cecily und Charlotte hier zu sitzen und sich von ihnen liebevoll umsorgen zu lassen. Doch ohne Tessa würde ihm immer etwas fehlen – ein tessaförmiger Teil aus seinem Herzen, der ihn auf ewig unvollständig machte.
Cecily berührte ihn vorsichtig an den Fingern, die – abgesehen vom Ruß unter seinen Nägeln – wieder relativ normal aussahen. »Es ist wirklich komisch«, setzte sie an und tätschelte seine Hände, ohne die Salbe dabei zu verschmieren. »Will hat schon immer dazu geneigt, sich selbst zu verletzen«, fuhr sie liebevoll fort. »Ich kann mich gar nicht erinnern, wie oft er sich in unserer Kindheit die Knochen gebrochen, irgendwelche Wunden zugezogen oder die Haut aufgeschürft hat.«
Jem rückte näher an den Sessel heran und starrte in die Flammen. »Es wäre besser gewesen, wenn es meine Hände gewesen wären«, murmelte er.
Doch Will schüttelte den Kopf. Die Erschöpfung dämpfte alle Dinge im Raum und verwischte die gemusterte Velourstapete zu einer durchgehenden dunklen Farbe. »Nein. Nicht deine Hände. Du brauchst deine Hände für deine Geige. Wozu benötige ich meine denn schon?«
»Ich hätte wissen müssen, was du vorhast«, sagte Jem leise. »Ich weiß es doch sonst immer. Ich hätte wissen müssen, dass du ins Feuer greifst.«
»Und ich hätte wissen müssen, dass du dieses Päckchen wegwerfen würdest«, erwiderte Will, allerdings ohne Groll. »Das war … das war eine irrsinnig noble Geste. Ich verstehe, warum du das getan hast.«
»Ich habe dabei an Tessa gedacht.« Jem zog die Knie an, stützte das Kinn darauf und lachte dann leise. »Irrsinnig nobel … Ist das nicht eigentlich dein Spezialgebiet? Plötzlich bin ich derjenige, der verrückte Dinge macht, und du derjenige, der mich ermahnt, das lieber zu lassen?«
»Du meine Güte«, stieß Will hervor. »Wann haben sich denn unsere Rollen vertauscht?«
Der flackernde Kaminschein tanzte auf Jems Haaren und Gesicht, als er den Kopf schüttelte. »Verliebtheit ist ein seltsamer Zustand«, sagte er. »Es verändert einen.«
Will blickte zu Jem hinab. Aber statt Eifersucht oder irgendeiner negativen Empfindung verspürte er den wehmütigen Wunsch, an den Regungen seines besten Freundes Anteil zu nehmen und ihm seinerseits von den Gefühlen zu erzählen, die er in seinem Herzen trug. Denn handelte es sich letztendlich nicht um die gleichen Gefühle? Liebten sie nicht beide auf die gleiche Art und Weise…und dieselbe Person? Doch er erwiderte nur: »Ich wünschte, du würdest dich nicht selbst in Gefahr bringen.«
Langsam rappelte Jem sich auf. »Ich habe mir immer das Gleiche von dir gewünscht.«
Schwerfällig hob Will den Blick; er war durch den Schlafmangel und die Müdigkeit, die die Heilrunen mit sich brachten, so erschöpft, dass er Jem nur noch wie einen Schemen im Lichtschein erkennen konnte. »Du gehst?«
»Ja, ich lege mich schlafen.« Jem berührte Wills verheilende Hände behutsam mit dem Finger. »Gönn dir selbst auch etwas Ruhe.«
Will fielen bereits die Augen zu, als Jem sich zum Gehen wandte; das Schließen der Tür hörte er schon nicht mehr. Irgendwo in einem der Korridore sang Bridget ein Lied. Ihre Stimme erhob sich klar über das Knistern des Feuers. Aber dieses Mal ärgerte sich Will nicht darüber; er empfand ihren Gesang eher wie eines der Wiegenlieder, die seine Mutter früher angestimmt hatte, um ihn in den Schlaf zu singen.
»Was ist heller als die Sonne
lacht?
Was ist dunkler als die finstre Nacht?
Was ist schärfer als die schärfste Axt?
Was noch weicher als geschmolznes Wachs?
Die Wahrheit ist heller, als die
Sonne lacht.
Die Lüge noch dunkler als die finstre Nacht.
Rache ist schärfer als die schärfste Axt.
Und Liebe weicher als geschmolznes Wachs.«
»Ein Rätsellied«, murmelte Cecily schläfrig. »Die hab ich immer gemocht. Erinnerst du dich noch daran, dass Mam uns früher immer etwas vorgesungen hat?«
»Nur vage«, räumte Will ein. Wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich nicht einmal das eingestanden. Seine Mutter hatte ständig gesungen und das ganze Haus mit Musik erfüllt; sie hatte inmitten der Narzissen im Garten gesungen und sogar beim Spaziergang am weiten Ufer des Mawddach. Llawn yw’r coed o ddail a blode, llawn o goriad merch wyf inne. »Erinnerst du dich noch an das Meer?«, fragte er mit vor Erschöpfung schwerer Stimme. »An den See bei Tal-y-llyn? In ganz London findet man nichts, was so blau ist wie das Meer oder dieser See.«
Er hörte, wie Cecily scharf die Luft einsog. »Selbstverständlich erinnere ich mich daran. Ich dachte, du hättest das vergessen.«
Traumbilder zeichneten sich vor Wills geschlossenen Lidern ab; der Schlaf zog an ihm wie eine Strömung und trug ihn vom beleuchteten Ufer fort. »Ich glaube nicht, dass ich noch aus diesem Sessel herauskomme, Cecy«, murmelte er. »Ich denke, ich werde einfach hier einschlafen.«
Cecilys Hand tastete nach seiner und schloss sich locker um seine Finger. »Dann bleib ich hier bei dir«, sagte sie und ihre Stimme verschmolz mit der Dünung aus Träumen und Schlaf, die ihn schließlich überkam und immer weiter in die Tiefe zog.
Adressat: Gabriel und Gideon
Lightwood
Absender: Konsul Josiah Wayland
Der Empfang Eures Schreibens hat mich äußerst überrascht und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich mich noch klarer hätte ausdrücken können. Ich erwarte von Euch, dass Ihr mir Einzelheiten aus Mrs Branwells Korrespondenz mit ihrer Verwandtschaft und möglichen Gönnern in Idris mitteilt. Dagegen hatte ich Euch nicht um eine Persiflage über die Putzmacherin dieser Frau gebeten. Ich interessiere mich weder für Charlotte Branwells Kleidungsstil noch für Eure tägliche Kost.
Aus diesem Grund ersuche ich Euch eindringlich, mir einen Brief mit relevanten Informationen zu schicken. Ich hoffe inständig, dass Euer nächstes Schreiben zweier Nephilim würdig ist und weniger an das Gefasel zweier Narren erinnert!
Im Namen des
Erzengels
Konsul Wayland