WEISE SEIN UND LIEBEN
Denn weise sein und
lieben
Vermag kein Mensch.
WILLIAM SHAKESPEARE, »TROILUS UND CRESSIDA«
»Ich dachte, du würdest wenigstens ein Lied darüber schreiben«, sagte Jem.
Verwundert schaute Will seinen Parabatai an. Obwohl Jem ausdrücklich nach ihm gefragt hatte, war er bis jetzt nicht sehr mitteilsam gewesen. Schweigend hatte er auf der Bettkante gesessen, mit sauberer Hose und frischem Hemd, das allerdings lose an ihm herabhing und ihn dünner denn je erscheinen ließ. Auf Höhe des Schlüsselbeins klebten noch getrocknete Blutspritzer an seiner Haut, was aussah wie eine besonders scheußliche Halskette. »Worüber soll ich ein Lied schreiben?«, fragte Will.
Jems Mundwinkel zuckten. »Vielleicht auf unseren Sieg über diesen Wurm?«, schlug er vor. »Du machst doch sonst ständig irgendwelche Scherze …«
»In den letzten Stunden war mir nicht gerade nach Scherzen zumute«, erwiderte Will und warf einen bedeutungsvollen Blick auf die blutigen Tücher auf dem Nachttisch und die Schüssel mit dem hellroten Wasser darin.
»Bitte fang du jetzt nicht auch noch an«, sagte Jem. »Alle veranstalten einen riesigen Wirbel um mich und ich halt das nicht mehr aus. Ich habe dich hergebeten, weil…weil du so was normalerweise nicht machst. Du bringst mich in der Regel zum Lachen.« Resigniert hob Will die Hände. »Na, schön. Wie wäre es hiermit:
Gottlob, ich muss mich
nicht länger mühen und plagen!
Wir wissen nun: Dämonenpocken sind schlecht für
den Magen.
Jauchzet, frohlocket, hört auf zu
verzagen,
Der Pockenwurm wurde nun endlich
geschlagen:
Fortan muss mich jeder nach meiner Meinung
fragen!«
Jem brach in schallendes Gelächter aus. »Oh Mann, das war wirklich grauenhaft.«
»Das war aus dem Stegreif!«
»Will, hast du schon mal was von Versmaß gehört …?«, entgegnete Jem, dessen Lachen jedoch in einen Hustenanfall überging.
Sofort stürzte Will zu seinem Freund, während dieser sich krümmte und seine mageren Schultern zuckten. Blutstropfen sprühten auf den weißen Bettbezug. »Jem …«
Mit einer Hand gestikulierte Jem in Richtung des Kästchens auf dem Nachttisch.
Will griff nach dem Kästchen. Die feine Einlegearbeit auf dem Deckel war ihm inzwischen so vertraut, dass er den Anblick der schlanken Frau, die Wasser aus einer Vase in einen Fluss goss, förmlich hasste. Er öffnete den Schnappverschluss, warf einen Blick hinein – und erstarrte. Eine nur noch hauchdünne Pulverschicht bedeckte wie silberner Puderzucker den Boden. Will wusste zwar nicht, welche Mengen die Stillen Brüder für Jems Behandlung benötigt hatten, aber es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass eigentlich noch wesentlich mehr von der Substanz hätte übrig sein müssen. »Jem, wo ist der Rest?«, fragte er mit gepresster Stimme. »Warum ist hier nur noch so wenig drin?«
Jem hatte den Hustenanfall inzwischen überwunden. Blut klebte an seinen Lippen; ungehalten wischte er sich mit dem Ärmel seines Hemds übers Gesicht, worauf sich der Stoff scharlachrot verfärbte. Seine Augen glänzten fiebrig und seine blasse Haut glühte, doch ansonsten wirkte er vollkommen gefasst. »Will«, sagte er leise.
»Vor zwei Monaten …«, setzte Will an, merkte dann aber, dass seine Stimme einen schrillen Ton annahm, und zwang sich, Ruhe zu bewahren. »Vor zwei Monaten habe ich genügend Yin Fen gekauft, dass der Vorrat eigentlich für ein ganzes Jahr hätte reichen müssen.«
Jem musterte ihn mit einer Mischung aus Trotz und Trauer im Blick. »Ich habe die Dosierung erhöht«, erklärte er schließlich.
»Erhöht? Auf wie viel?«
Nun wandte Jem den Blick ab. »Auf das Doppelte, vielleicht auch das Dreifache.«
»Aber wenn du die Dosis der Arznei erhöhst, verschlimmert sich dein Gesundheitszustand«, warf Will ein. Als Jem nicht darauf reagierte, hakte er mit brechender Stimme und nur einem einzigen Wort nach: »Warum?«
»Ich will kein halbes Leben führen …«
»Wenn du in diesem Tempo weitermachst, wirst du nicht einmal ein Fünftel erleben!«, brüllte Will und hielt dann bestürzt inne. Jems Miene hatte sich verändert und Will musste sich zwingen, das Kästchen vorsichtig zurück auf den Nachttisch zu stellen anstatt es gegen die Wand zu schleudern.
Jem saß nun kerzengerade auf dem Bett; seine Augen funkelten zornig. »Das Leben dreht sich um mehr als nur um den Tod!«, stieß er hervor. »Sieh dir nur mal an, wie du lebst, Will. Du brennst leuchtend hell wie ein Stern. Ich habe in den vergangenen Jahren immer nur so viel von der Substanz eingenommen, dass sie mich gerade am Leben erhielt – aber nie genug, dass ich mich wirklich wohlgefühlt hätte. Gut, hier und dort vielleicht einmal eine kleine Extradosis vor einem Kampf für mehr Kraft, doch ansonsten nur ein halbes Leben … ein Dasein im grauen Dämmerzustand …«
»Aber warum hast du die Dosierung gerade jetzt erhöht? Hängt das etwa mit der Verlobung zusammen?«, fragte Will drängend. »Hast du es wegen Tessa getan?«
»Du darfst ihr daran keine Schuld geben. Es war allein meine Entscheidung. Sie weiß nichts davon.«
»Tessa würde auch wollen, dass du noch länger lebst, James …«
»Aber ich habe nicht mehr lange zu leben!«, brauste Jem auf und sprang vom Bett auf; seine Wangen glühten. Will hatte ihn noch nie so wütend erlebt. »Ich habe nicht mehr lange zu leben und es ist meine Entscheidung, für kurze Zeit für sie da zu sein und so hell zu brennen, wie ich es will – anstatt ihr für lange Zeit jemanden aufzubürden, der nur noch halb am Leben ist. Es ist meine eigene Entscheidung, William, und du kannst sie mir nicht abnehmen.«
»Vielleicht kann ich das ja doch. Schließlich bin ich immer losgezogen, um das Yin Fen für dich zu besorgen …«
Bei diesen Worten wich jede Farbe aus Jems Gesicht. »Wenn du dich weigerst, kaufe ich es eben selbst. Ich war immer dazu bereit, aber du hast ja bisher darauf bestanden, das zu übernehmen. Und wo wir gerade dabei sind …« Er zog den Familienring der Carstairs von seinem Finger und hielt ihn Will entgegen. »Hier, nimm ihn.«
Widerstrebend warf Will einen Blick auf den Ring und schaute dann Jem wieder ins Gesicht. Ihm schossen ein Dutzend abscheulicher Dinge durch den Kopf, die er nun sagen oder tun konnte. Niemand legte seine alten Charakterzüge einfach ab und Will hatte so viele Jahre lang Grausamkeit als Wesenszug vorgetäuscht, dass er auch jetzt noch als Erstes auf diese Täuschung zurückgriff – so wie jemand seine Kutsche geistesabwesend zu einem Haus lenkt, in dem er sein Leben lang gewohnt hat, auch wenn er inzwischen längst umgezogen ist. »Willst du jetzt etwa mich heiraten?«, fragte er schließlich.
»Verkauf den Ring«, erwiderte Jem. »Mach ihn zu Geld. Ich habe dir ja schon früher gesagt, dass du nicht für meine Arznei bezahlen sollst. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich die Schulden für deine illegalen Substanzen beglichen und ich erinnere mich daran, dass das kein angenehmes Gefühl war.«
Will zuckte zusammen und blickte erneut auf den Familienring in Jems blutleerer, narbenübersäter Handfläche. Dann nahm er die Finger seines Freundes und schloss sie behutsam um den Ring. »Wann haben wir eigentlich unsere Rollen getauscht, sodass du jetzt unvernünftig und leichtsinnig bist und ich so vorsichtig? Seit wann muss ich dich vor dir selbst beschützen? Bisher warst du immer derjenige, der mich beschützt hat.« Seine Augen glitten prüfend über Jems Gesicht. »Hilf mir, dich besser zu verstehen.«
Einen Moment stand Jem vollkommen reglos da, dann meinte er: »Anfangs … als mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass ich Tessa liebe, da dachte ich, dass die Liebe mich vielleicht gesünder, stärker gemacht hätte. Schließlich hatte ich ziemlich lange keinen Rückfall erlitten. Und als ich um Tessas Hand anhielt, da habe ich ihr gesagt … dass meine Liebe zu ihr mir Kraft gibt. Aber als ich danach zum ersten Mal wieder einen Schwächeanfall erlitt, konnte ich es nicht übers Herz bringen, ihr davon zu erzählen … damit sie nicht dachte, meine Liebe für sie würde nachlassen. Also habe ich von da an eine größere Menge der Arznei eingenommen, um einem weiteren Anfall vorzubeugen. Doch schon bald musste ich eine so hohe Tagesdosis einnehmen, wie ich sie zuvor nicht mal in einer ganzen Woche benötigt hatte. Mir bleiben nicht mehr viele Jahre zum Leben, Will, möglicherweise nicht einmal mehr Monate. Aber ich will nicht, dass Tessa es erfährt. Bitte erzähl ihr nichts davon. Nicht nur um ihretwillen, sondern auch um meinetwegen.«
Fast widerstrebend empfand Will Verständnis für seinen Parabatai: Er selbst hätte genauso gehandelt, hätte jede Lüge aufgetischt, wäre jedes Risiko eingegangen, nur damit Tessa ihn liebte. Er hätte alles getan …
Fast alles. Er hätte Jem dafür nicht hintergangen. Das war das Einzige, wozu er nicht bereit war. Und hier stand Jem nun, seine Hand in Wills Hand, ein Flehen in den Augen, das um Mitgefühl, um Verständnis bat. Und wie konnte er Jem auch nicht verstehen? Nur allzu gut erinnerte Will sich an Magnus’ Salon und daran, wie er den Hexenmeister angefleht hatte, ihn in das Reich der Dämonen zu teleportieren. Denn er wollte lieber dort sterben, als auch nur eine Sekunde länger in einem Leben zu verbringen, das er nicht mehr ertragen konnte.
»Das heißt also, du stirbst aus Liebe«, sagte Will schließlich; seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren gepresst.
»Nur ein wenig schneller als zuvor. Und es gibt Schlimmeres, als aus Liebe zu sterben.«
Langsam gab Will Jems Hand frei.
Jem schaute von dem Ring zu seinem Freund, mit einem fragenden Blick in den Augen. »Will …?«
»Ich werde mich nach Whitechapel aufmachen«, versicherte Will. »Heute Abend noch. Und dann werde ich dir sämtliches Yin Fen besorgen, das ich auftreiben kann.«
Doch Jem schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht etwas von dir verlangen, das dich gegen dein Gewissen handeln lässt.«
»Mein Gewissen«, wisperte Will. »Du bist mein Gewissen. Das warst du schon immer, James Carstairs. Ich werde dir diesen Gefallen tun, aber im Gegenzug erwarte ich von dir ein Versprechen.«
»Was für ein Versprechen?«
»Du hast mich vor Jahren gebeten, nicht länger nach einem Heilmittel zu suchen«, erklärte Will. »Und ich möchte, dass du mich nun von diesem Versprechen entbindest. Lass mich wenigstens danach suchen.«
Verwundert schaute Jem ihn einen Moment an. »Jedes Mal, wenn ich glaube, dich durch und durch zu kennen, verblüffst du mich aufs Neue. Also gut, ich entbinde dich von deinem Versprechen. Such nach einem Heilmittel. Tu, was immer du für richtig hältst. Ich will deine guten Absichten nicht behindern, denn das wäre grausam. Außerdem würde ich für dich dasselbe tun, wenn ich an deiner Stelle wäre. Und das weißt du auch, oder?«
»Ja, das weiß ich.« Will trat einen Schritt vor, legte Jem die Hände auf die Schultern und zuckte innerlich zusammen, als er spürte, wie hager sie sich unter seinen Fingern anfühlten – wie die Knochen eines kleinen Vogels. »Das hier ist nicht irgendein leeres Versprechen, James. Glaub mir, ich weiß besser als jeder andere, wie sehr falsch geschürte Hoffnungen schmerzen können. Ich werde mich umsehen. Und wenn es irgendetwas zu finden gibt, werde ich es aufstöbern. Doch bis dahin … Du hast das Recht, dein Leben so zu führen, wie du es willst.«
Unfassbarerweise musste Jem grinsen. »Das weiß ich«, bestätigte er, »aber es ist sehr nobel von dir, mich daran zu erinnern.«
»Wenn ich eins bin, dann nobel«, verkündete Will. Sein Blick wanderte über Jems Gesicht – dieses Gesicht, das ihm so vertraut war wie sein eigenes. »Und entschlossen. Du wirst nicht von mir gehen. Nicht, solange ich lebe.«
Jem schaute ihn aus großen Augen an, schwieg aber. Denn dem gab es nichts hinzuzufügen.
Im nächsten Moment nahm Will die Hände von Jems Schultern und wandte sich zum Gehen.
Cecily stand genau dort, wo sie auch schon am Vormittag gestanden hatte, ein Messer in der rechten Hand. Sie zielte, holte aus und ließ die Waffe durch die Luft zischen. Die Spitze bohrte sich in die Holztafel, knapp außerhalb der schwarzen Zielscheibe.
Das Gespräch mit Tessa hatte sie nicht gerade beruhigt – im Gegenteil, es hatte sie nur zusätzlich aufgewühlt. Tessa verströmte eine Art resignierte Trauer, die Cecily in eine gereizte, nervöse Stimmung versetzt hatte. So wütend sie auch auf ihren Bruder sein mochte, wurde sie dennoch das Gefühl nicht los, dass Tessa sich tief in ihrem Herzen um Will sorgte und eine Furcht hegte, über die sie nicht sprach. Aber Cecily wollte unbedingt mehr darüber erfahren. Denn wie sollte sie ihren Bruder beschützen, wenn sie nicht wusste, wovor man ihn beschützen musste?
Nachdem sie das Messer geholt und zur Wurflinie zurückgekehrt war, hob sie es erneut an und schleuderte es in Richtung Wand. Doch dieses Mal blieb das Messer noch weiter außerhalb der Zielscheibe stecken und entlockte Cecily ein wütendes Schnauben. »Uffern nef!«, murmelte sie auf Walisisch. Ihre Mutter wäre bestimmt entsetzt gewesen, aber andererseits war sie ja auch nicht hier.
»Fünf«, sagte eine schleppende Stimme vom Korridor aus.
Cecily erstarrte und drehte sich langsam um. Ein Schatten stand in der Tür, ein Schemen – Gabriel Lightwood, der nun den Fechtsaal betrat, mit zerzausten braunen Haaren und klaren grünen Augen. Er war so hochgewachsen wie Will, vielleicht auch größer, allerdings schlaksiger als ihr Bruder. »Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen, Mister Lightwood.«
»Ihr Wurf«, erklärte er und machte eine elegante Armbewegung. »Ich bewerte ihn mit fünf Punkten. Ihr Geschick und Ihre Technik mögen vielleicht noch etwas Arbeit erfordern, aber die natürliche Begabung ist zweifellos vorhanden. Was Ihnen fehlt, ist Übung.«
»Will hat mich trainiert«, meinte Cecily, während Gabriel näher kam.
Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. »Wie ich schon sagte …«
»Soll das heißen, dass Sie bessere Ergebnisse erzielen könnten?«
Gabriel hielt kurz inne und zog dann das Messer mit einem Ruck aus der Holztafel. Die Klinge funkelte, während er sie zwischen seinen Fingern wirbeln ließ. »Das könnte ich durchaus«, verkündete er. »Ich wurde von den Besten unterrichtet und habe meinerseits Miss Collins und Miss Gray trainiert …«
»Ja, davon hab ich gehört. Bis Ihnen das Ganze zu langweilig wurde. Nicht gerade eine Qualität, die man sich von einem potenziellen Tutor wünscht«, erwiderte Cecily kühl. Sie erinnerte sich zwar an das Gefühl von Gabriels Händen auf ihren Hüften, als er sie im Garten von Lightwood House hochgehoben und ihr auf die Beine geholfen hatte, aber sie wusste auch, dass Will ihn nicht mochte – und der selbstgefällige Ton in seiner Stimme ärgerte sie.
Nachdenklich berührte Gabriel die Messerspitze, woraufhin ein roter Blutstropfen aus seiner Fingerkuppe quoll. Seine Hände waren schwielig, mit feinen Sommersprossen auf den Handrücken. »Sie haben ja Ihre Kampfmontur gewechselt«, bemerkte er.
»Die war mit Blut und Sekret bespritzt.« Cecily warf ihm einen Blick zu und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Wie ich sehe, haben Sie Ihre nicht gewechselt.«
Einen Sekundenbruchteil huschte ein seltsamer Ausdruck über Gabriels Gesicht, der im nächsten Moment jedoch wieder verschwunden war. Aber Cecily hatte bei ihrem Bruder oft genug beobachtet, wie er seine Gefühle zu verbergen versuchte, dass sie die Anzeichen sofort wiedererkannte. »Ich habe keine andere Kleidung bei mir«, erläuterte Gabriel. »Außerdem weiß ich noch nicht, wo ich in Zukunft leben werde. Ich könnte auf einen unserer Familiensitze zurückkehren, aber …«
»Sie ziehen es in Erwägung, im Institut zu bleiben?«, fragte Cecily überrascht, da sie diesen Gedanken in seinem Gesicht gelesen hatte. »Was sagt Charlotte denn dazu?«
»Sie wird es erlauben.« Gabriels Miene veränderte sich kurz und ein verwundbarer Ausdruck spiegelte sich in seinen Augen, in denen bisher Härte gestanden hatte. »Mein Bruder ist schließlich hier.«
»Ja«, bestätigte Cecily. »Genau wie meiner.«
Gabriel schwieg einen Moment, als wäre ihm dieser Gedanke noch gar nicht gekommen. »Will …«, setzte er an. »Sie sehen ihm wirklich sehr ähnlich. Das ist … ziemlich verwirrend.« Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er sein Gehirn von Spinnweben befreien. »Ich habe Ihren Bruder gerade eben erst gesehen«, sagte er. »Er rannte die Eingangsstufen hinunter, als würde er von den apokalyptischen Reitern gejagt. Ich nehme nicht an, dass Sie wissen, was das zu bedeuten hat?«
Zielstrebigkeit. Cecilys Herz machte einen Satz. Sie pflückte Gabriel das Messer aus der Hand und ignorierte seinen verblüfften Ausruf. »Nein, keine Ahnung«, erwiderte sie, »aber ich bin fest entschlossen, es herauszufinden.«
In dem Moment, in dem die Kontore, Banken und Geschäfte der Londoner City am Ende eines langen Arbeitstages zu schließen begannen, erwachte das East End zum Leben. Will durchquerte Straßen, die von Ständen mit getragenen Kleidungsstücken und abgelegten Schuhen gesäumt waren. Lumpensammler und Scherenschleifer schoben ihre Karren durch die Gassen und boten mit lauter, heiserer Stimme ihre Waren feil. Metzger in blutbespritzten Kitteln lehnten in offenen Türen, während die in den Fenstern hängenden Rinder- und Schweinehälften im Wind schaukelten. Waschweiber riefen sich quer über die Straße irgendwelche Dinge zu, die nur diejenigen verstehen konnten, die ebenfalls in Hörweite der Glocken von St. Mary-le-Bow aufgewachsen waren. Für Wills ungeübte Ohren hätten sie genauso gut Russisch sprechen können. Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt, der Wills Haar benetzte, während er an der geschlossenen Ladenfront eines Tabakwarenhändlers vorbeikam und dann in eine enge Gasse einbog. Von hier aus konnte er in der Ferne die Kirchturmspitze der Whitechapel Church sehen. Dichter Nebel sammelte sich in der dämmrigen Straße und trug den Geruch von Eisen und Unrat heran, der sich mit dem fauligen Geruch des Brackwassers in der flachen Gosse vermischte. Nach ein paar Metern entdeckte Will einen Torbogen, der von zwei Kutschenlaternen flankiert war. Scheinbar uninteressiert schlenderte er daran vorbei, tauchte dann blitzschnell hinein und streckte seine Hand aus.
Unmittelbar darauf ertönte ein unterdrückter Aufschrei und dann zog Will auch schon eine schlanke, in Schwarz gekleidete Gestalt zu sich heran: Cecily, die sich hastig einen Samtumhang über ihre Schattenjägermontur geworfen hatte. Ihre dunklen Haare schauten unter dem Rand der breiten Kapuze hervor und ihre blauen Augen, die Wills so ähnelten, funkelten ihn wütend an.
»Lass mich los!«, fauchte sie.
»Was tust du hier? Wieso schleichst du mir durch Londons Hintergassen nach, du dummes Huhn?« Will schüttelte Cecilys Arm.
Finster kniff sie die Augen zu Schlitzen. »Heute Morgen hieß es noch cariad, und jetzt dummes Huhn?«
»Diese Straßen sind gefährlich«, erwiderte Will. »Und du weißt nicht, wo du hier bist und was du hier tust. Nicht mal eine Zauberglanzrune hast du aufgetragen. Es ist eine Sache, wenn man auf dem Land lauthals verkündet, sich vor nichts zu fürchten, aber das hier ist London!«
»Ich hab keine Angst vor der Stadt«, entgegnete Cecily aufsässig.
Will beugte sich vor und zischte ihr ins Ohr: »Fyddai’n wneud un-rhyw dda yn ddweud wrthych i fynd adref?«
Doch Cecily lachte nur. »Nein, es würde dir nichts nutzen, mich zu bitten, nach Hause zu gehen. Rwyt ti fy mrawd ac rwy eisiau mynd efo chi.«
Bei diesen Worten blinzelte Will verwundert. Du bist mein Bruder und ich will dich begleiten. So etwas hatte er bisher nur von Jem gehört, und obwohl Cecily sich in jeder anderen Hinsicht von Jem unterschied, teilte sie eine Charaktereigenschaft mit ihm: unbeugsame Sturheit. Wenn Cecily etwas wollte, dann verbarg sich dahinter nicht einfach ein bloßer Wunsch, sondern eiserne Entschlossenheit. »Interessiert es dich denn nicht einmal, wohin ich überhaupt gehe?«, hakte Will nach. »Was wäre, wenn ich auf dem Weg zur Hölle wäre?«
»Die Hölle wollte ich schon immer mal sehen«, erwiderte Cecily ruhig. »Möchte das nicht jeder?«
»Die meisten von uns versuchen ihr Leben lang, ihr möglichst fernzubleiben«, schnaubte Will. »Ich bin auf dem Weg zu einer Ifritdrogenhöhle, wenn du es unbedingt wissen willst … um dort bei gewalttätigen, zügellosen Schurken Drogen zu kaufen. Vielleicht werfen sie ja ein Auge auf dich und beschließen, dich an den Meistbietenden zu verhökern.«
»Würdest du sie denn nicht davon abhalten?«
»Das hinge vermutlich davon ab, wie viel sie mir für dich bieten.«
Cecily schüttelte den Kopf. »Jem ist dein Parabatai. Er ist dein Bruder … der Bruder, den der Rat dir gegeben hat. Aber ich bin deine leibliche Schwester. Warum bist du bereit, für ihn alles nur Erdenkliche zu tun, während du von mir verlangst, nach Hause zurückzukehren?«
»Woher willst du wissen, dass die Drogen für Jem sind?«
»Ich bin nicht dumm, Will.«
»Nein, leider!«, murmelte Will. »Jem … Jem ist alles, was gut an mir ist. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Das hier bin ich ihm schuldig.«
»Und was bin ich dann?«, fragte Cecily.
»Du …«, stieß Will hervor, zu aufgebracht, um sich noch länger zurückzuhalten, »du bist meine Schwäche.«
»Und Tessa ist dein Herz«, sagte Cecily, keineswegs wütend, sondern nachdenklich. »Ich bin nicht dumm, das sagte ich dir ja bereits«, fügte sie hinzu, als sie sah, dass er sprachlos war. »Ich weiß, dass du sie liebst.«
Will griff sich an die Schläfe, als hätten ihre Worte einen stechenden Kopfschmerz verursacht. »Hast du irgendjemandem davon erzählt? Das darfst du auf keinen Fall, Cecily. Niemand weiß davon und so muss es auch bleiben.«
»Ich würde wohl kaum irgendjemandem davon erzählen.«
»Nein, das würdest du natürlich nicht, oder?« Seine Stimme hatte einen harten Ton angenommen. »Du musst dich ja furchtbar schämen für deinen Bruder – der unerlaubte Gefühle für die Verlobte seines Parabatai hegt …«
»Ich schäme mich deiner nicht, Will. Was auch immer du empfinden magst, du hast diese Gefühle nie ausgelebt und vermutlich wünscht sich jeder von uns etwas, das er nicht haben kann.«
»Ach ja?«, fragte Will. »Und was wäre das in deinem Fall?«
»Ich wünsche mir, dass du mit mir nach Hause zurückkehrst.« Eine schwarze Strähne klebte wegen des Nieselregens an ihrer feuchten Wange, sodass es aussah, als hätte Cecily geweint – was natürlich nicht stimmte, wie Will genau wusste.
»Das Institut ist mein Zuhause.« Will seufzte und lehnte den Kopf an den gemauerten Torbogen. »Ich kann nicht den ganzen Abend hier herumstehen und mit dir diskutieren, Cecy. Wenn du mir unbedingt in die Hölle folgen willst, werde ich dich nicht davon abhalten.«
»Na endlich kommst du zur Vernunft. Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit; schließlich bist du mit mir verwandt.«
Erneut musste Will gegen den Drang ankämpfen, seine Schwester zu schütteln. »Bist du bereit?«
Cecily nickte. Will hob den Arm und klopfte laut an die Tür.
Die Tür flog auf und Gideon erschien im Türrahmen. Er blinzelte, als hätte er in der Dunkelheit gesessen und wäre gerade erst ans Licht gekommen. Seine Kleidung wirkte zerknittert und einer seiner Hosenträger war von der Schulter gerutscht und hing ihm halb über den Arm.
»Mr Lightwood?«, setzte Sophie an und blieb zögernd im Flur vor seinem Zimmer stehen. Sie hielt ein großes Tablett in den Händen, das so schwer mit Geschirr und Gebäck beladen war, dass sie es gerade noch tragen konnte. »Bridget hat mir gesagt, Sie haben um Tee gebeten …«
»Ja. Ja, natürlich. Bitte kommen Sie herein.« Gideon richtete sich auf, als würde er ruckartig aus seinen Gedanken in die Gegenwart zurückkehren, und bedeutete Sophie einzutreten. Seine Stiefel lagen achtlos in einer Ecke und dem ganzen Raum mangelte es an der sonst üblichen Ordnung. Teile der Kampfmontur hingen nachlässig über der Rückenlehne eines Sessels – beim Gedanken daran, welche Flecken das auf dem Polster hinterlassen würde, zuckte Sophie innerlich zusammen. Ein angebissener Apfel gammelte auf dem Nachttisch und in der Mitte des schmalen Betts lag Gabriel Lightwood und schnarchte leise vor sich hin.
Offensichtlich trug er Kleidung seines Bruders, denn die Ärmel und Hosenbeine waren eindeutig zu kurz. Im Schlaf wirkte er viel jünger, da seinem Gesicht die sonst übliche Anspannung fehlte. Mit einer Hand umklammerte er einen Kissenzipfel, als verleihe ihm das ein Gefühl der Sicherheit.
»Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn zu wecken«, sagte Gideon und umklammerte unbewusst seine Ellbogen. »Eigentlich hätte ich ihn in sein Zimmer bringen müssen, aber …« Er seufzte. »Ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden.«
»Wird er denn hierbleiben?«, fragte Sophie und stellte das Tablett auf den Nachttisch. »Hier im Institut, meine ich …«
»Ich … ich weiß es nicht. Aber ich denke schon. Charlotte hat ihm gesagt, dass er willkommen sei. Ich glaube, sie hat ihm eine Heidenangst eingejagt«, räumte Gideon mit einem leichten Lächeln ein.
»Mrs Branwell?«, fragte Sophie aufgebracht, wie jedes Mal, wenn sie ihre Dienstherrin kritisiert glaubte. »Aber sie ist doch die Sanftheit in Person!«
»Ja – und genau deshalb hat sie ihm ja Angst eingejagt. Sie hat ihn umarmt und ihm gesagt, wenn er im Institut bleiben wolle, würde sie den Vorfall mit meinem Vater zu den Akten legen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, welchen Vorfall sie meint«, fügte Gideon trocken hinzu. »Höchstwahrscheinlich, dass Gabriel unseren Vater dabei unterstützt hat, die Institutsleitung zu übernehmen.«
»Könnte Mrs Branwell damit nicht den jüngsten Vorfall gemeint haben?« Sophie schob eine Locke, die sich gelöst hatte, wieder unter ihre Haube. »Den Vorfall mit diesem …«
»… riesigen Wurm? Nein, das glaube ich nicht. Davon abgesehen liegt es nicht in der Natur meines Bruders, von irgendjemandem Vergebung zu erwarten. Er kennt nur strenge Disziplin. Möglicherweise denkt er, dass Charlotte versucht, ihn hereinzulegen, oder dass sie vollkommen verrückt ist. Sie hat ihn zu seinem Zimmer geführt, aber ich glaube, die ganze Geschichte hat ihm Angst eingejagt. Kurz darauf ist er hergekommen, um mit mir darüber zu reden, und dann ist er irgendwann eingeschlafen.« Gideon seufzte und betrachtete seinen Bruder mit einer Mischung aus Zuneigung, Verzweiflung und Trauer, die Sophies Herz schmelzen ließ.
»Und Ihre Schwester …?«, fragte sie vorsichtig.
»Ach, Tatiana würde keine Sekunde darüber nachdenken, hier im Institut zu bleiben«, erklärte Gideon. »Sie ist zu ihren Schwiegereltern, den Blackthorns, geflüchtet. Gott sei Dank! Tatiana mag zwar nicht dumm sein – genau genommen hält sie sich sogar für ausgesprochen intelligent –, aber sie ist ein überhebliches, eitles, junges Ding. Meine Geschwister haben nicht viel füreinander übrig. Außerdem hat Gabriel seit Tagen nicht vernünftig geschlafen. Ganze Nächte hat er allein in diesem vermaledeiten Haus gehockt, im Flur vor der verriegelten Bibliothek, hat gegen die Tür gehämmert, als er von unserem Vater keine Antwort mehr erhielt …«
»Sie machen sich Sorgen um ihn«, bemerkte Sophie.
»Natürlich tue ich das, schließlich ist er mein kleiner Bruder.« Gideon ging zum Bett und strich Gabriel über die zerzausten braunen Haare, der sich daraufhin unruhig im Schlaf drehte, aber nicht aufwachte.
»Ich dachte, er würde es Ihnen nicht verzeihen, dass Sie sich gegen Ihren Vater gestellt haben«, meinte Sophie. »Sie haben selbst gesagt, dass Sie so etwas befürchten würden … dass er Ihr Verhalten als einen Verrat an der Familie, am guten Namen der Lightwoods betrachten würde.«
»Vermutlich hat er inzwischen seine Zweifel am guten Namen der Lightwoods. Genau wie ich damals in Madrid«, sagte Gideon und trat vom Bett zurück.
Sophie senkte den Kopf. »Es tut mir leid«, murmelte sie. »Das, was Ihrem Vater passiert ist. Was auch immer die Leute über ihn sagen oder er möglicherweise getan haben mag, er war dennoch Ihr Vater.«
Gideon wandte sich ihr zu. »Aber, Sophie …«
Sie bemerkte, dass er sie mit ihrem Vornamen angesprochen hatte, tadelte ihn jedoch nicht dafür. »Ich weiß, dass er verwerfliche Dinge getan hat«, räumte sie ein. »Dennoch sollte es Ihnen erlaubt sein, um Ihren Vater zu trauern. Niemand kann Ihnen Ihren Kummer nehmen; der gehört Ihnen ganz allein.«
Behutsam berührte Gideon Sophies Wange mit den Fingerspitzen. »Wussten Sie eigentlich, dass Ihr Name ›Weisheit‹ bedeutet? Ich finde, er passt zu Ihnen.«
Sophie schluckte. »Mr Lightwood …«
Doch seine Finger umfingen sanft ihre Wange und er beugte sich herab, um sie zu küssen. »Sophie«, hauchte er. Und dann fanden sich ihre Lippen und die leichte Berührung wich einem größeren Verlangen, als er sie näher zu sich heranzog.
Vorsichtig umfasste Sophie seine Schultern; dabei fiel ihr Blick auf ihre Hände – furchtbar rau und gerötet vom Waschen und Schrubben und Schleppen und Polieren, sorgte sie sich, doch Gideon schien gar keine Notiz davon zu nehmen. Sie drängte sich näher an ihn, aber ihr Absatz verhakte sich in der Teppichkante und sie verlor das Gleichgewicht.
Gideon fing sie auf, doch sie sanken gemeinsam zu Boden und Sophies Wangen liefen vor Verlegenheit feuerrot an. Gütiger Gott, er musste ja denken, dass sie ihn absichtlich mit sich hinuntergezogen hatte und dass sie irgendein leichtes Mädchen war, das sich der Leidenschaft hingeben wollte! Ihre Haube war ihr vom Kopf gerutscht und die dunklen Locken fielen ihr ins Gesicht. Unter sich spürte sie den weichen Teppich und über ihr wisperte Gideon eindringlich ihren Namen. Ihre Wangen glühten und sie drehte den Kopf zur Seite. Dabei fiel ihr Blick unter das Bettgestell.
»Mr Lightwood«, sagte sie und stützte sich auf die Ellbogen. »Sind das da etwa Scones unter Ihrem Bett?«
Gideon erstarrte und blinzelte wie ein Kaninchen vor der Schlange. »Wie bitte?«
»Dort.« Sophie zeigte auf einen Haufen dunkler, kugelartiger Gebilde, die sich unter dem Bett angesammelt hatten. »Dort liegt ja ein regelrechter Berg an Gebäck. Was um alles in der Welt …?«
Verlegen setzte Gideon sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die wirren Haare, während Sophie hastig von ihm wegrutschte und ihre Röcke raffte. »Ich …«, hob er hilflos an.
»Sie haben dieses Gebäck extra kommen lassen. Beinahe jeden Tag. Sie haben darum gebeten, Mr Lightwood. Warum haben Sie das getan, wenn Sie die Scones gar nicht wollten?«
Gideons Wangen nahmen eine tiefrote Tönung an. »Mir ist keine andere Möglichkeit eingefallen, damit ich Sie regelmäßig sehen konnte. Sie wollten ja nicht mit mir reden oder mir auch nur eine Sekunde zuhören …«
»Also haben Sie gelogen?« Sophie griff sich ihre herabgefallene Haube und richtete sich kerzengerade auf. »Haben Sie eigentlich irgendeine Vorstellung davon, welche Fülle an Aufgaben ich täglich zu erledigen habe, Mr Lightwood? Ich muss schon morgens Eimer mit Kohle schleppen, heißes Wasser in die Zimmer bringen, staubwischen, putzen, polieren, hinter Ihnen und den anderen aufräumen. Das alles macht mir nichts aus und ich will mich auch gar nicht beschweren. Aber was fällt Ihnen ein, mir zusätzliche Arbeit aufzubürden und mich mit schweren Tabletts die Treppen hinauf- und hinunterzujagen, nur damit ich Ihnen etwas bringe, das Sie nicht einmal wollen?!«
Hastig rappelte Gideon sich auf; seine Kleidung wirkte nun noch zerknitterter. »Bitte vergeben Sie mir«, stammelte er. »Ich habe nicht nachgedacht.«
»Stimmt«, bestätigte Sophie und schob sich wütend die Haare unter die Haube. »Aber das tut Ihresgleichen ja nie, oder?« Und damit stolzierte sie aus dem Raum und Gideon konnte ihr nur wehmütig nachschauen.
»Gute Arbeit, Bruderherz«, bemerkte Gabriel vom Bett aus und betrachtete Gideon aus verschlafenen Augen, worauf dieser sich eines der Scones nahm und nach ihm warf.
»Henry. « Charlotte durchquerte die Krypta im Keller des Instituts, die von Elbenlichtfackeln so stark beleuchtet wurde, dass der Gewölberaum fast taghell wirkte, obwohl die Uhr bald Mitternacht schlagen musste.
Ihr Mann stand über den größten der vielen Holztische gebeugt, die die Mitte des Raums beherrschten. In einem Becherglas kokelte irgendeine ekelerregende Substanz und sonderte hohe lavendelblaue Rauchwolken ab. Ein gewaltiger Papierbogen – von der Sorte, die die Metzger zum Einwickeln ihrer Waren verwendeten – lag ausgebreitet auf dem Tisch und war mit rätselhaften Zahlen und Formeln bedeckt, zu denen Henry weitere hinzufügte und dabei leise vor sich hin murmelte.
»Henry, Liebster, bist du denn nicht erschöpft? Du arbeitest jetzt schon seit Stunden hier unten.«
Erschrocken zuckte Henry zusammen und schaute auf, wobei er sich die Brille, die er bei seinen Laborarbeiten trug, in die roten Haare schob. »Charlotte!« Er wirkte erstaunt, aber auch erfreut, sie zu sehen.
Nur Henry war in der Lage, sich darüber zu wundern, seine eigene Frau in seinem eigenen Haus zu sehen, dachte Charlotte amüsiert.
»Mein Engel. Was führt dich her? Hier unten ist es doch viel zu kalt. Das kann für das Baby bestimmt nicht gut sein.«
Charlotte lachte, protestierte aber nicht, als Henry zu ihr eilte und sie zärtlich umarmte. Seit er wusste, dass sie ein Kind erwarteten, behandelte er sie wie ein rohes Ei.
Jetzt drückte er ihr sanft einen Kuss auf den Scheitel, lehnte sich dann leicht zurück und betrachtete ihr Gesicht. »Ich finde, du wirkst schmaler als sonst. Vielleicht solltest du auf das Diner lieber verzichten und dir stattdessen von Sophie eine kräftige Fleischbrühe aufs Zimmer bringen lassen. Ich werde mich sofort darum kümmern und …«
»Henry. Wir haben schon vor Stunden beschlossen, dass Sophie das Abendessen heute nicht im Speisesaal serviert, sondern lieber Sandwiches auf die jeweiligen Zimmer bringt. Jem ist noch immer zu krank, um unten zu essen, und auch die Lightwood-Brüder sind zu aufgewühlt. Und du kennst ja Will: Wenn es Jem nicht gut geht … Das Gleiche gilt natürlich auch für Tessa. Also wirklich, ich habe den Eindruck, dass sich der ganze Haushalt auflöst und in alle Winde zerstreut.«
»Sandwiches?«, hakte Henry nach, der dies offenbar als den wesentlichen Bestandteil von Charlottes Rede herausgegriffen hatte. Wehmütig schaute er sie an.
Charlotte lächelte. »In der Küche liegen noch ein paar für dich … falls du dich von deiner Arbeit losreißen kannst. Vermutlich sollte ich das nicht sagen, schließlich habe ich selbst Stunden mit Benedicts Büchern verbracht, was durchaus faszinierend war … Aber woran genau arbeitest du eigentlich?«
»An einem Portal«, erklärte Henry eifrig. »Eine besondere Form des Transports. Etwas, das es unter Umständen ermöglicht, einen Schattenjäger im Nu von einem Standort auf dem Globus zum nächsten zu transportieren. Mortmains Ringe haben mich auf die Idee gebracht.«
Verwundert schaute Charlotte ihn an. »Aber bei Mortmains Ringen handelt es sich zweifellos um schwarze Magie …«
»Aber hierbei nicht. Ach ja, da ist noch etwas anderes. Komm, ich habe etwas für Buford entwickelt.«
Charlotte ließ sich von ihrem Mann beim Handgelenk nehmen und quer durch den Raum ziehen. »Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, Henry, mein Sohn wird nicht auf den Namen Buford getauft, auf keinen Fall … Beim Erzengel, ist das etwa eine Krippe?«
Henry strahlte. »Es ist besser als eine Krippe!«, verkündete er und zeigte mit ausgestreckten Armen auf ein solide wirkendes Kinderbett, das zwischen zwei Stützen hing. Charlotte musste sich eingestehen, dass es ein wirklich schönes Möbelstück war. »Das hier ist eine selbstschaukelnde Wiege!«, erklärte Henry.
»Eine was?«, fragte Charlotte matt.
»Pass mal auf!« Stolz trat Henry einen Schritt vor und betätigte einen unsichtbaren Mechanismus. Sofort setzte sich die Krippe in Bewegung und schaukelte sanft hin und her.
Charlotte schnappte erstaunt nach Luft. »Das ist wundervoll, Henry. «
»Gefällt sie dir?« Henry strahlte. »So, und jetzt lassen wir das Ding ein wenig flotter schaukeln.«
Und tatsächlich schwang die Wiege nun schneller hin und her, aber etwas ruckelig, sodass Charlotte das Gefühl hatte, sich an Bord eines Schiffs in rauer See zu befinden. »Hm«, meinte sie und fügte dann hinzu: »Henry, ich habe etwas mit dir zu besprechen. Etwas Wichtiges.«
»Wichtiger als eine Krippe, die unser Kind abends sanft in den Schlaf wiegt?«
»Der Rat hat beschlossen, Jessamine auf freien Fuß zu setzen«, erklärte Charlotte. »Sie wird hierher ins Institut zurückkehren. Übermorgen.«
Ungläubig drehte Henry sich zu Charlotte um. Hinter ihm schaukelte die Wiege jetzt noch schneller, wie eine Kutsche, die mit Höchstgeschwindigkeit durch enge Gassen raste. »Sie kommt hierher zurück?«
»Henry, sie kann sonst nirgendwohin.«
Aufgebracht öffnete Henry den Mund, doch bevor er etwas erwidern konnte, ertönte ein schreckliches Knirschen, die Wiege löste sich aus der Verankerung, flog quer durch die Krypta, knallte krachend gegen die Wand und zersplitterte in tausend Stücke.
Bestürzt schlug Charlotte sich eine Hand vor den Mund.
Henry dagegen runzelte nur die Stirn und meinte: »Vermutlich sollte ich hier und dort noch ein paar Verbesserungen vornehmen, aber …«
»Nein, Henry«, beschied Charlotte ihm resolut.
»Aber …«
»Auf keinen Fall.« Charlottes Stimme hatte einen messerscharfen Ton angenommen.
Henry seufzte. »Wie du wünschst, meine Liebe.«
Die Höllengeräte kennen keine Gnade. Die Höllengeräte kennen keine Reue. Die Höllengeräte kennen keine Grenzen. Die Höllengeräte werden niemals aufgeben.
Die Worte an der Wand von Benedikts Studierzimmer gingen Tessa nicht mehr aus dem Kopf, während sie an Jems Bett saß und ihn im Schlaf betrachtete. Sie war sich nicht ganz sicher, wie spät es war – bestimmt »in den frühen Morgenstunden«, wie Bridget es formuliert hätte, und auf jeden Fall weit nach Mitternacht. Als sie das Zimmer betreten hatte, war Jem wach gewesen und hatte aufrecht im Bett gesessen. Es ging ihm so gut, dass er etwas Tee und Toast zu sich nehmen konnte, auch wenn er blasser und kurzatmiger war, als es Tessa gefiel.
Nach einer Weile war Sophie gekommen, um das Tablett abzuräumen. Sie hatte Tessa ein Lächeln geschenkt und ihr zugeraunt »Schütteln Sie doch einmal seine Kissen auf«, was Tessa getan hatte, obwohl Jem sich über ihre Bemühungen zu amüsieren schien. Tessa hatte nicht viel Erfahrung mit der Versorgung von Kranken – wenn man einmal von ihrem Bruder absah, um den sie sich immer gekümmert hatte, wenn er betrunken nach Hause gekommen war. Aber es machte ihr nichts aus, jetzt an Jems Bett zu sitzen und seine Hand zu halten, während er flach ein- und ausatmete, mit halb geschlossenen Lidern und flatternden Wimpern.
»Nicht besonders heldenhaft«, sagte er plötzlich und ohne die Augen zu öffnen, allerdings mit ruhiger Stimme.
Tessa zuckte zusammen und beugte sich vor. Sie hatte ihre Finger mit Jems verschränkt und ihre beiden Hände lagen neben ihm auf dem Bett. Seine Finger fühlten sich kalt an und sein Puls ging langsam. »Was meinst du damit?«, fragte sie.
»Heute …«, erklärte er mit schwacher Stimme und begann dann zu husten. »Ich meine, dass ich heute zusammengebrochen bin und das ganze Anwesen der Lightwoods mit Blut besudelt habe …«
»Wenn du mich fragst, hast du das Haus dadurch eher verschönert«, erwiderte Tessa.
»Jetzt klingst du genau wie Will.« Jem schenkte ihr ein schläfriges Lächeln. »Und du wechselst das Thema, ebenfalls wie Will.«
»Natürlich klinge ich wie er. Als ob ich jemals geringer von dir denken würde, nur weil du krank bist; du weißt genau, dass das nicht stimmt. Und außerdem hast du heute sogar ziemlich heldenhaft gehandelt. Obwohl Will ja meinte, dass alle Helden ein böses Ende finden würden und er nicht wisse, warum jemand auch nur den Wunsch verspüren könnte, ein Held zu sein«, fügte Tessa hinzu.
»Ah.« Jem drückte Tessas Hand leicht und gab sie dann frei. »Nun ja, Will sieht das Ganze aus der Perspektive des Helden, oder? Aber was den Rest von uns anbelangt, fällt die Antwort leicht.«
»Ach ja?«
»Natürlich. Helden erdulden das alles, weil wir sie brauchen. Nicht um ihrer selbst willen.«
»Du redest von ihnen, als ob du keiner wärst.« Tessa beugte sich vor und strich Jem die Haare aus der Stirn, worauf er sich an ihre Finger schmiegte und die Augen schloss. »Jem … hast du je …« Tessa zögerte. »Hast du je daran gedacht, dein Leben mit etwas anderem als einem Heilmittel zu verlängern?«
Bei diesen Worten öffnete er ruckartig die Augen. »Was meinst du damit?«
Tessa musste an Will denken, wie er auf dem Dachboden Weihwasser gespuckt hatte. »Nun ja, du könntest dich beispielsweise in einen Vampir verwandeln. Dann würdest du ewig leben …«
Hastig setzte Jem sich auf. »Tessa, nein. Du solltest…du darfst so etwas nicht denken.«
Verlegen wandte sie den Blick ab. »Ist dir die Vorstellung, dich in einen Schattenweltler zu verwandeln, wirklich so zuwider?«
»Tessa …« Jem seufzte. »Ich bin ein Schattenjäger. Ein Nephilim. Genau wie meine Eltern es vor mir gewesen sind. Es ist Teil meines Erbes, so wie die chinesische Herkunft meiner Mutter ein Teil von mir ist. Das bedeutet nicht, dass ich meinen Vater gehasst hätte. Aber ich respektiere das Geschenk, das sie mir gemacht haben: das Blut des Erzengels, das Vertrauen, das in mich gesetzt wurde, die Gelöbnisse, die ich abgelegt habe. Außerdem würde ich vermutlich keinen guten Vampir abgeben. Vampire verabscheuen uns im Großen und Ganzen. Manchmal verwandeln sie einen Nephilim nur so zum Spaß, aber so ein Vampir wird von den anderen verachtet. Wir Schattenjäger tragen das Licht und das Feuer von Engeln in unseren Adern, also all das, was Vampire hassen. Sie würden mich meiden und auch die Nephilim würden sich von mir fernhalten. Ich könnte nicht länger Wills Parabatai sein, wäre im Institut nicht mehr willkommen. Nein, Tessa. Ich würde lieber sterben und wiedergeboren werden und das Licht der Sonne erneut erblicken, als bis ans Ende aller Tage ohne Tageslicht zu leben.«
»Was wäre denn mit einem Bruder der Stille?«, schlug Tessa vor. »Im Codex steht, dass die Runen, mit denen die Stillen Brüder sich versehen, so mächtig sind, dass sie ihre Sterblichkeit außer Kraft setzen.«
»Stille Brüder können nicht heiraten, Tessa.« Jem hatte das Kinn gehoben.
Tessa ahnte schon länger, dass sich unter Jems sanftem Wesen ein Widerspruchsgeist verbarg, der Wills Sturheit in nichts nachstand. Und sie konnte es nun in seinen Augen sehen: wie Stahl unter Seide. »Du weißt, dass es mir lieber wäre, du wärst nicht mit mir vermählt, würdest dafür aber leben, als dass du st…« Das Wort schnürte ihr die Kehle zu.
Jems Augen nahmen einen sanfteren Ausdruck an. »Der Weg der Stillen Bruderschaft steht mir nicht offen. Mit dem Yin Fen in meinem Blut, das jede Faser meines Körpers vergiftet, könnte ich die Runen nicht überleben, mit denen sich die Brüder versehen. Ich müsste die Arznei so lange absetzen, bis auch der letzte Rest der Substanz aus meinem Blutkreislauf verschwunden ist – und das würde mich sehr wahrscheinlich das Leben kosten.« Offenbar hatte er etwas in Tessas Miene gesehen, denn er fuhr mit sanfterer Stimme fort: »Darüber hinaus führen die Stillen Brüder nicht gerade ein erstrebenswertes Leben…nur Schatten und Dunkelheit, Stille und … keine Musik.« Er schluckte. »Und außerdem möchte ich gar nicht ewig leben.«
»Ich werde möglicherweise ewig leben«, sagte Tessa. Das ungeheure Ausmaß dieser Tatsache war etwas, das sie noch immer nicht ganz fassen konnte. Die Vorstellung, dass das eigene Leben niemals enden würde, war genauso schwer zu begreifen wie der Gedanke, dass es eines Tages endete.
»Ich weiß«, sagte Jem. »Und es tut mir leid, denn ich denke, das ist eine Bürde, die niemand tragen sollte. Du weißt ja, dass ich fest an eine Wiedergeburt glaube, Tessa. Ich werde zurückkehren, wenn auch nicht unbedingt in dieser Gestalt. Seelen, die einander lieben, werden auch im nächsten Leben zueinander hingezogen. Ich werde Will wiedersehen, meine Eltern, meine Onkel, Charlotte und Henry …«
»Aber du wirst mich nicht wiedersehen.« Dieser Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal, doch bisher hatte sie ihn immer rasch beiseitegeschoben. Wenn ich unsterblich bin, dann habe ich nur dieses eine Leben. Ich werde nicht am ewigen Kreislauf des Lebens teilnehmen, so wie du, James. Ich werde dich nicht im Himmel wiedersehen oder an den Ufern des großen Flusses oder wo auch immer dein nächstes Leben stattfindet.
»Dafür sehe ich dich jetzt.« Jem streckte den Arm aus und legte ihr die Hand an die Wange, während seine klaren silbergrauen Augen Tessas Blick suchten.
»Und ich sehe dich«, wisperte sie, worauf Jem ermattet lächelte und die Augen schloss. Tessa legte ihre Hand auf seine, sodass ihre Wange in seiner Handfläche ruhte. So saß sie schweigend da und spürte Jems Finger kühl auf ihrer Haut, bis sein Atem langsamer ging und seine Hand erschlaffte; er war wieder eingeschlafen. Mit einem wehmütigen Lächeln nahm Tessa seine Hand herunter und legte sie behutsam auf das Bett.
In dem Moment wurde die Tür geöffnet. Tessa drehte sich in ihrem Sessel um und entdeckte Will, der im Türrahmen stand, noch in Mantel und Hut. Ein Blick auf seine angespannte, verstörte Miene genügte, um sie sofort auf die Beine zu bringen und Will hinaus in den Flur zu folgen.
Will hastete bereits durch den Korridor, getrieben wie ein Mann, dem der Teufel auf den Fersen war. Leise schloss Tessa Jems Zimmertür und eilte Will nach. »Was hast du, Will? Was ist passiert?«
»Ich komme gerade aus dem East End zurück«, sagte Will. Ein Schmerz schwang in seiner Stimme mit, wie Tessa ihn seit ihrem Gespräch im Salon nicht mehr gehört hatte, als sie ihm von ihrer Verlobung mit Jem erzählt hatte. »Ich bin losgezogen, um noch mehr Yin Fen zu besorgen. Aber es gibt keins mehr.«
Tessa hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, als sie die Treppe erreichten. »Was meinst du damit ›Es gibt keins mehr‹? Jem hat doch noch einen Vorrat, oder etwa nicht?«
Will drehte sich zu ihr um und stieg rückwärts die Stufen hinunter. »Komplett aufgebraucht«, erklärte er knapp. »Er wollte nicht, dass du davon erfährst, aber das lässt sich jetzt nicht länger verbergen. Es ist alles aufgebraucht und ich kann nirgends Nachschub auftreiben. Ich habe mich immer darum gekümmert und kenne alle Lieferanten und Händler. Aber entweder waren sie wie vom Erdboden verschluckt oder standen mit leeren Händen da. Ich bin zuerst zu diesem Lokal … dieser Drogenhöhle gegangen, wo ihr beide, du und Jem, mich gefunden habt. Aber dort hatte man nicht ein Gramm Yin Fen.«
»Was ist mit anderen Lokalen …?«
»Ich bin überall gewesen«, erwiderte Will und drehte sich wieder um. Gemeinsam betraten sie den Flur im ersten Geschoss des Instituts, wo sich die Bibliothek und der Salon befanden. Beide Türen standen sperrangelweit auf und gelbliches Licht ergoss sich in den Flur. »Überall. In der letzten Drogenhöhle hat mir einer der Händler erzählt, dass sämtliche Yin-Fen-Vorräte während der vergangenen Wochen systematisch aufgekauft wurden. Es ist nichts mehr übrig.«
»Aber Jem …«, hob Tessa an, während die Bedeutung von Wills Worten ihr einen heißen Schock versetzen. »Ohne das Yin Fen …«
»… wird er sterben.« Vor der Bibliothekstür hielt Will einen Moment inne; sein Blick traf sich mit Tessas. »Dabei hat er mir noch am Nachmittag endlich die Erlaubnis gegeben, mich nach einem Heilmittel umzusehen. Danach zu suchen. Und jetzt wird er sterben, weil ich ihn nicht lange genug am Leben erhalten kann, bis ich das Mittel gefunden habe.«
»Nein«, sagte Tessa bestimmt. »Er wird nicht sterben. Das werden wir nicht zulassen.«
Will betrat die Bibliothek, mit Tessa an seiner Seite. Sein Blick schweifte über den vertrauten Raum, die Tische mit den Leselampen, die Regale mit den alten Wälzern. »Da waren doch diese Bücher …«, murmelte er, als hätte Tessa überhaupt nichts gesagt. »Bücher, auf die ich damals beim Stöbern gestoßen bin, mit Abhandlungen über seltene Gifte.« Hastig marschierte er auf eines der Regale zu und seine Hände fuhren fieberhaft über die dicken Buchrücken. »Das liegt Jahre zurück … bevor Jem mir jede weitere Suche untersagt hat. Aber ich hab die Titel vergessen …«
Mit wehenden Röcken eilte Tessa an seine Seite. »Will, hör auf.«
»Aber es muss mir doch wieder einfallen.« Hektisch ging er zum nächsten Regal und dann zum übernächsten; seine große, schlanke Gestalt warf einen kantigen Schatten auf den Boden. »Ich muss es finden …«
»Will, du kannst nicht mehr rechtzeitig jedes Buch in der Bibliothek lesen. Hör auf.« Tessa war hinter ihn getreten und stand nun so nah bei ihm, dass sie sehen konnte, wo der Regen seinen Mantelkragen durchnässt hatte. »Das wird Jem auch nicht helfen.«
»Aber was denn dann? Was wird ihm denn helfen?« Will zog ein weiteres Buch aus einem der Regale, warf einen kurzen Blick auf den Titel und ließ es dann auf den Boden fallen.
Bestürzt machte Tessa einen Satz. »Hör auf«, sagte sie erneut, packte Will am Ärmel und drehte ihn zu sich um. Seine Wangen waren gerötet, sein Atem ging stoßweise und sein Arm fühlte sich vor Anspannung steinhart an. »Als du damals nach einem Heilmittel gesucht hast, wusstest du nicht, was du heute weißt. Und du hattest auch nicht die Verbündeten, die du heute hast. Wir werden zu Magnus Bane gehen und ihn fragen. Er hat seine Augen und Ohren überall in der Schattenwelt und kennt jede nur erdenkliche Form der Magie. Magnus hat dir bei deinem Fluch geholfen; bestimmt kann er uns auch hierbei helfen.«
»Es hat nie einen Fluch gegeben«, erwiderte Will automatisch, als würde er eine Zeile aus einem Theaterstück zitieren; seine Augen schauten glasig.
»Will…hör mir zu! Bitte! Lass uns zu Magnus gehen. Er kann uns weiterhelfen.«
Resigniert schloss Will die Augen und holte tief Luft.
Tessa starrte ihn an. Sie konnte einfach nichts dagegen machen – jedes Mal, wenn sie sich unbeobachtet wusste, betrachtete sie seine Züge ausgiebig: seine dichten schwarzen Wimpern, die wie feine Spinnenbeine über die Wangenknochen streiften, seine blassblau schimmernden Lider.
»Ja«, sagte er schließlich. »Ja, natürlich. Tessa, danke – ich hab nicht richtig nachgedacht.«
»Du bist traurig«, räumte sie beschwichtigend ein. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch immer seinen Arm festhielt. Sie standen so nah beieinander, dass sie ihm mühelos einen Kuss auf die Wange hätte drücken oder ihm tröstend die Arme um den Hals hätte schlingen können. Tessa trat einen Schritt zurück und gab seinen Arm frei, woraufhin er die Augen aufschlug. »Außerdem hast du gedacht, Jem würde dir niemals erlauben, nach einem Heilmittel zu suchen. Du weißt, dass ich mich mit diesem Gedanken nie habe anfreunden können. Deshalb habe ich immer mal wieder daran gedacht, Magnus einzuschalten.«
Eindringlich betrachtete Will ihr Gesicht. »Aber du hast ihn nicht kontaktiert?«
Tessa schüttelte den Kopf. »Jem wollte es nicht. Doch jetzt … jetzt ist alles anders.«
»Ja.« Will nickte, zog sich einen Schritt zurück und ließ seinen Blick noch einen Moment auf Tessas Gesicht ruhen. »Ich laufe schnell nach unten und bitte Cyril, die Kutsche vorzufahren. Wir treffen uns in ein paar Minuten im Innenhof.«
Adressat: Konsul Josiah
Wayland
Absender: Die Kongregation
Verehrter Konsul,
mit größtem Bedauern haben wir den Inhalt Ihres Schreibens zur Kenntnis genommen. Bisher waren wir der Auffassung, dass Charlotte Branwell eine Wahl darstellt, die auch Sie von ganzem Herzen unterstützen würden – zumal sie sich in der Vergangenheit als exzellente Leiterin des Londoner Instituts erwiesen hat. Auch unser Inquisitor Whitelaw spricht nur in den höchsten Tönen von ihr und der Art und Weise, wie sie Benedict Lightwoods Angriff auf ihre Autorität gehandhabt hat.
Dagegen sind wir als Gremium der festen Überzeugung, dass George Penhallow kein geeigneter Anwärter für die Position des Konsuls wäre. Im Gegensatz zu Mrs Branwell hat er sich bisher nicht als fähiger Anführer hervorgetan. Es mag wohl sein, dass Mrs Branwell jung und leidenschaftlich ist, aber die Rolle des Konsuls erfordert gerade Engagement und Leidenschaft. Daher müssen wir Sie eindringlich bitten, von einer Ernennung Ihres Neffen, Mr Penhallow, Abstand zu nehmen und Ihre Vorbehalte gegenüber Mrs Branwell noch einmal gründlich zu überdenken.
Im Namen des
Erzengels
Die Kongregation