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EIN HERZ,
DAS MIT SICH SELBST UNEINS IST

An meinem ganzen Leibe ist kein Teil,
Bis zu der kleinsten Faser, der noch heil,
Und des zermorschten Stammes letzte Kraft
Fließt durch die Adern unfruchtbar und geil.

ALGERNON CHARLES SWINBURNE, »LAUS VENERIS«

Adressat: Die Kongregation
Absender: Konsul Josiah Wayland

Mit Bekümmerung sehe ich mich genötigt, heute dieses Schreiben aufzusetzen, Gentlemen. Viele von Ihnen kennen mich seit all den Jahren, in denen ich die Kongregation als Konsul geleitet habe. Ich bin der Überzeugung, dass ich die Nephilim stets vorbildlich geführt und dem Erzengel nach bestem Wissen und Vermögen gedient habe. Nichtsdestoweniger ist Irren nun einmal zutiefst menschlich und ich denke, dass ich insofern einen Fehler begangen habe, als dass ich Charlotte Branwell zur Leiterin des Londoner Instituts ernannte.

Als ich sie auf diesen Posten berief, glaubte ich, sie würde in die Fußstapfen ihres Vaters treten und sich als loyale Leiterin erweisen, die die Autorität der Kongregation anerkennt und ihren Anweisungen Folge leistet. Des Weiteren glaubte ich, ihr Ehemann würde Charlottes weiblich-natürlicher Neigung zu Impulsivität und Unbesonnenheit Einhalt gebieten. Bedauerlicherweise hat sich dies jedoch als Irrtum herausgestellt. Henry Branwell mangelt es an der nötigen Charakterstärke, um seine Frau in ihre Schranken zu verweisen, sodass sie – ungehindert von weiblichen Pflichten – die Tugenden des Gehorsams längst hinter sich gelassen hat. Erst kürzlich musste ich erfahren, dass Charlotte Anweisungen gegeben hat, die überführte Spionin Jessamine Lovelace nach der Entlassung aus der Stadt der Stille ins Institut zurückzuholen – entgegen meinem ausdrücklichen Wunsch, sie nach Idris zu schicken. Darüber hinaus hege ich den Verdacht, dass Mrs Branwell bestimmten Personen Gehör schenkt, die dem Auftrag der Nephilim nicht wohlgesinnt sind und sich möglicherweise sogar mit Mortmain verbündet haben, wie beispielsweise der Werwolf Woolsey Scott.

Die Kongregation dient nicht dem Konsul; vielmehr war es schon immer genau umgekehrt. Ich bin ein Symbol für die Macht von Kongregation und Rat. Wenn meine Autorität durch Gehorsamsverweigerung untergraben wird, dann wird damit auch die Autorität der gesamten Schattenjägergemeinschaft untergraben. Lieber einen pflichtgetreuen jungen Mann wie meinen Neffen, der sich bisher noch nicht verdient machen konnte, statt jemanden, dessen Verdienst auf die Probe gestellt und für unzureichend befunden wurde.

Im Namen des Erzengels
Konsul Josiah Wayland

Will erinnerte sich wieder.

Eines Nachmittags, vor Monaten, in Jems Zimmer. Starker Regen prasselte gegen die Fenster des Instituts, lief wie Klarlack an den Scheiben herab.

»Und das ist alles?«, fragte Jem. »Das ist die ganze Geschichte? Die ganze Wahrheit?« Er saß an seinem Schreibtisch, ein Bein unter sich geschlagen, und wirkte dabei sehr jung. Seine Geige ruhte an der Armlehne seines Stuhls. Er hatte darauf gespielt, als Will das Zimmer betrat und ohne lange Vorrede verkündete, es wäre genug der Heuchelei: Er habe ein Geständnis zu machen, und zwar jetzt sofort.

Diese Ankündigung bereitete Bachs Kompositionen ein abruptes Ende. Jem stellte seine Geige beiseite und musterte Will mit zunehmend besorgtem Blick, während dieser unruhig auf und ab lief und ununterbrochen redete, bis ihm die Worte ausgingen.

»Ja, das ist die ganze Geschichte«, beendete Will sein Geständnis. »Und ich nehme es dir nicht übel, wenn du mich jetzt hasst. Ich könnte es durchaus verstehen.«

Daraufhin breitete sich Stille im Zimmer aus. Jems Blick ruhte auf Wills Gesicht, beständig und silbern im flackernden Schein des Kaminfeuers. »Ich könnte dich niemals hassen, William«, sagte er schließlich.

Wills Magen ballte sich zusammen, als er in seiner Erinnerung nun ein anderes Gesicht sah, mit ruhigen blaugrauen Augen, die zu ihm hochschauten. Ich habe es versucht, Will. Aber ich konnte dich einfach nicht hassen, hatte sie ihm mitgeteilt. In dem Moment wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er Jem nicht »die ganze Wahrheit« gesagt hatte. Da war noch mehr. Seine Liebe zu Tessa. Doch diese Last durfte er Jem nicht aufbürden – er musste sie selbst tragen und unter allen Umständen verbergen, damit Jem glücklich sein konnte.

»Ich verdiene es, dass du mich hasst«, hatte er sich mit brechender Stimme zu Jem umgewandt. »Ich habe dich in große Gefahr gebracht. Schließlich war ich davon überzeugt, ich sei verflucht und jeder, der mich liebt, müsste sterben. Ich habe zugelassen, dass du mir ans Herz gewachsen und zu einem Bruder geworden bist – und habe dich damit in Todesgefahr gebracht …«

»Es hat nie eine Todesgefahr bestanden.«

»Aber ich habe fest daran geglaubt. Wenn ich dir einen Revolver an den Kopf halten und abdrücken würde, James, würde es dann wirklich eine Rolle spielen, dass ich vielleicht nicht wusste, dass sich in der Trommel keine Kugeln befinden?«

Jem sah ihn einen Moment mit großen Augen an und lachte dann leise. »Hast du ernsthaft geglaubt, ich hätte nicht gewusst, dass du ein Geheimnis mit dir herumträgst?«, erwiderte er. »Hast du gedacht, ich hätte mich mit geschlossenen Augen auf unsere Freundschaft eingelassen? Ich wusste zwar nicht, welche Bürde genau du mit dir herumschleppst, aber ich wusste, dass irgendetwas dich belastete.« Er stand auf und fuhr fort: »Mir war klar, dass du dich selbst für ein Gift gehalten hast, ein Gift für alle um dich herum. Ich wusste, du hast geglaubt, dass dich irgendeine zerstörerische Kraft umgibt, die mich zugrunde richten würde. Daher beschloss ich, dir zu zeigen, dass ich nicht so leicht zusammenbrechen würde … dass Liebe nicht so zerbrechlich ist. Ist mir das nicht gelungen?«

Statt einer Antwort zuckte Will nur hilflos die Achseln. Fast wünschte er, dass Jem wütend auf ihn wäre. Das hätte die Situation irgendwie vereinfacht. Denn nie zuvor hatte er sich so beschämt gefühlt wie angesichts Jems unerschütterlicher Freundschaft. Unwillkürlich musste er an Miltons Satan denken:Beschämt stand Satan da und fühlte recht, /Wie hehr die Tugend und wie liebenswürdig sie in Gestalt erscheint. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Will.

Ein Lächeln breitete sich auf Jems Gesicht aus, so leuchtend wie der Sonnenaufgang über der Themse. »Mehr habe ich nie gewollt.«

»Will?«

Eine leise Stimme riss Will aus seinen Gedanken – Tessa, die auf der gegenüberliegenden Polsterbank saß. Im schwachen Licht der Kutsche schienen ihre großen Augen grau wie der Regen, der die Scheiben hinunterlief.

»Woran denkst du gerade?«, fragte sie.

Angestrengt riss er sich aus seinen Erinnerungen und heftete seinen Blick auf ihr Gesicht. Tessas Gesicht. Sie trug keinen Hut und die Kapuze ihres Brokatumhangs war nach hinten gerutscht. Ihr Gesicht – breiter an den Wangenknochen, leicht spitz zulaufendes Kinn – wirkte bleich. Nie zuvor hatte er ein Antlitz gesehen, das so ausdrucksstark war: Jedes Lächeln ging ihm tief ins Herz, wie ein Blitz in einen mächtigen Baumstamm. Und das Gleiche galt für jede bekümmerte Miene. Im Moment betrachtete sie ihn mit einem Ausdruck wehmütiger Sorge, der ihm das Herz wärmte. »An Jem«, erklärte er vollkommen ehrlich. »Ich habe gerade daran gedacht, wie er reagiert hat, als ich ihm von Marbas’ Fluch erzählt habe.«

»Er war deswegen nur traurig«, beteuerte Tessa sofort. »Das hat es mir selbst gesagt.«

»Traurig, aber nicht mitleidig«, sagte Will. »Jem hat mir immer genau das gegeben, was ich gerade brauchte, und auch auf die genau richtige Art und Weise – sogar wenn nicht einmal ich selbst wusste, was mir fehlte. Alle Parabatai sind einander in aufrichtiger Liebe zugetan. Das müssen wir auch sein, um einander so viel von uns selbst geben zu können; erst dadurch gewinnen wir zusätzliche Kraft. Aber mit Jem ist das noch etwas anderes. So viele Jahre lang habe ich ihn lebend gebraucht…lebend an meiner Seite, und er hat mich wiederum am Leben erhalten. Ich habe immer gedacht, er würde vielleicht nichts davon ahnen, aber vermutlich hat er es gewusst.«

»Vermutlich«, bestätigte Tessa. »Aber er hätte es niemals als Zeitverschwendung betrachtet.«

»Hat er mit dir nie darüber gesprochen?«

Tessa schüttelte den Kopf. Ihre kleinen Hände in den weißen Handschuhen lagen zu Fäusten geballt auf ihrem Schoß. »Er spricht von dir immer nur voller Stolz, Will«, versicherte sie. »Jem bewundert dich mehr, als du auch nur ahnst. Als er von dem Fluch erfuhr, hat ihm das – vor Trauer um dich – beinahe das Herz gebrochen, aber er empfand auch noch etwas anderes … beinahe eine gewisse …«

»Genugtuung?«

Tessa nickte. »Er war immer davon überzeugt, dass du ein guter Mensch bist«, sagte sie. »Und das war für ihn der Beweis.«

»Ach, ich weiß nicht«, entgegnete Will bitter. »Ein guter Mensch zu sein und mit einem Fluch belegt zu sein … das ist nicht dasselbe.«

Tessa beugte sich vor, nahm Wills Hand und hielt sie zwischen ihren eigenen.

Die Berührung schoss ihm wie weiß glühendes Feuer durch die Adern. Will konnte zwar ihre Haut nicht spüren, nur den Stoff ihrer Handschuhe, aber das spielte keine Rolle. Und doch gab ich der Schwäche nach und sie hat noch immer Macht über mich zu wünschen, dass Sie erfahren möchten, mit welcher plötzlichen Gewalt Sie den Aschenhaufen, der ich bin, in helle Lohe umgewandelt haben. Früher hatte er sich oft gefragt, warum die Liebe immer mit Begriffen wie »Feuer« und »brennen« beschrieben wurde. Doch das Flammenmeer in seinen eigenen Adern gab ihm nun eine eindeutige Antwort darauf.

»Du bist ein guter Mensch, Will«, beharrte Tessa. »Niemand weiß das besser als ich.«

Er schwieg einen Moment, wollte nicht, dass sie ihre Hände wegnahm, und sagte dann gedehnt: »Als Jem und ich fünfzehn waren, wurde Yanluo – der Dämon, der Jems Eltern ermordet hatte – endgültig vernichtet. Jems Onkel war fest entschlossen, von China nach Idris umzuziehen, und lud Jem ein, zu ihm zu kommen und dort mit ihm zu leben. Das lehnte Jem jedoch ab … meinetwegen. Er sagte, man verließe seinen Parabatai nicht einfach. Das ist auch Bestandteil des Eids, den wir abgelegt haben: ›Dein Volk ist mein Volk.‹ Doch ich frage mich: Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, zu meiner Familie zurückzukehren, hätte ich dann für ihn das Gleiche getan?«

»Aber das tust du doch bereits«, warf Tessa ein. »Glaub nicht, dass ich nicht wüsste, dass Cecily mit dir zusammen nach Hause zurückkehren möchte. Und dass du wegen Jem hierbleibst.«

»Und deinetwegen«, murmelte er, bevor er die Worte zurückhalten konnte. Als Tessa ihre Hände fortzog, verfluchte Will sich innerlich: Wie konntest du nur so töricht sein? Nach zwei langen Monaten? Du bist die ganze Zeit so vorsichtig gewesen. Deine Liebe zu ihr belastet sie bloß, sie erträgt sie aus reiner Höflichkeit. Vergiss das nicht.

Aber Tessa schob nur den Vorhang beiseite, da die Kutsche langsamer geworden war. Sie rollten in eine Straße mit Kutscherhäusern, an deren Eingang ein Schild hing: ALLE FAHRER VON FUHRWERKEN SIND GEHALTEN, IHRE PFERDE VON HAND UNTER DIESEM TORBOGEN HINDURCHZUFÜHREN. »Wir sind da«, bemerkte sie, als hätte Will überhaupt nichts gesagt.

Und vielleicht hatte er ja auch wirklich nichts gesagt, überlegte Will. Vielleicht hatte er gar nicht laut gesprochen. Vielleicht verlor er nur allmählich den Verstand – was unter den gegebenen Umständen durchaus möglich war.

Als der Kutschschlag geöffnet wurde, wehte der Wind kalte Chelsea-Luft ins Innere. Will sah zu, wie Tessa den Kopf hob, während Cyril ihr aus der Kutsche half; dann gesellte er sich zu ihr auf das Kopfsteinpflaster. Das gesamte Viertel roch nach der Themse. Vor der Errichtung des Embankment hatte der Fluss viel weiter hinaufgereicht – bis kurz vor die Häuserreihen, deren Konturen im trüben Schein der Gaslaternen verschwammen. Durch die gemauerte Uferstraße war die Themse nun deutlich zurückgedrängt worden, aber ihr typischer Geruch, diese Mischung aus Salz, Schlick und Fäulnis, hing noch immer in der Luft.

Das Haus mit der Nummer 16, ein elegantes Ziegelsteingebäude im georgianischen Stil, besaß einen imposanten Erker, der über die Eingangstür hinausragte. Davor lag ein gepflasterter Vorgarten, umgeben von einem schmiedeeisernen Zaun. Das kunstvoll verzierte Tor stand bereits einen Spalt offen. Tessa drängte sich hindurch, marschierte – dicht gefolgt von Will – zur Eingangstreppe und zog an der Glocke.

Kurz darauf wurde die Tür von Woolsey Scott geöffnet, der einen kanariengelben Morgenrock aus chinesischem Seidenbrokat über Hemd und Hose trug. Vor einem seiner Augen klemmte ein goldenes Monokel, durch das er die beiden nun missbilligend musterte. »Verflixt«, murrte er. »Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich den Lakai öffnen und euch sofort wieder wegschicken lassen. Aber ich dachte, es wäre jemand anderes.«

»Wer denn?«, fragte Tessa interessiert, was nach Wills Dafürhalten eigentlich nichts zur Sache tat. Aber so war Tessa nun einmal: Sie stellte ständig Fragen. Wenn man sie nur ein paar Minuten allein in einem Raum ließ, musste man damit rechnen, dass sie sogar den Möbelstücken und Pflanzen Fragen zu stellen begann.

»Jemand mit Absinth.«

»Wenn du nur genug von dem Zeug schluckst, dauert es nicht lange, bis du davon überzeugt bist, du selbst seist jemand anderes«, bemerkte Will. »Wir sind auf der Suche nach Magnus Bane. Falls er nicht hier ist, genügt ein Wort und wir werden deine kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

Woolsey seufzte, als sei das wirklich sehr viel von ihm verlangt. »Magnus!«, rief er dann nach hinten. »Hier ist jemand für dich … dein blauäugiger Jüngling.«

Im nächsten Moment ertönten Schritte im Flur hinter Woolsey und Magnus erschien in eleganter Abendgarderobe, als wäre er gerade von einem Ball heimgekehrt: schwarzer Frack, darunter ein gestärktes weißes Hemd mit Manschetten. Die seidig schimmernden schwarzen Haare hatte er nach hinten gekämmt. Sein Blick wanderte von Will zu Tessa und wieder zurück. »Und womit habe ich zu so später Stunde diese Ehre verdient?«

»Ein Gefallen«, sagte Will und verbesserte sich selbst, als er sah, wie Magnus’ Augenbrauen in die Höhe gingen: »Eine Bitte.«

Woolsey seufzte erneut und trat beiseite. »Na schön. Kommt in den Salon.«

Da niemand anbot, ihnen Mantel und Hut abzunehmen, ging Tessa ihm hinterher, zog im Salon die Handschuhe aus und stellte sich leicht zitternd ans Kaminfeuer, um sich die Hände zu wärmen. Ihre dichten Haare wellten sich feucht im Nacken und Will musste den Blick abwenden, damit er sich nicht an das Gefühl erinnerte … an das Gefühl, mit den Händen durch diese Locken zu fahren und die Strähnen durch die Finger gleiten zu lassen. Im Institut, wo Jem und die anderen ihn ablenkten, fiel es ihm leichter, sich zu ermahnen, dass er nicht auf diese Art an Tessa denken durfte. Doch hier, wo er den Eindruck hatte, mit ihr an seiner Seite gegen die ganze Welt anzutreten … wo er das Gefühl hatte, dass sie seinetwegen hier war und nicht auf der Suche nach Hilfe für ihren Verlobten – hier war das nahezu unmöglich.

Woolsey ließ sich in einen bunt geblümten Ohrensessel fallen. Er hatte das Monokel vom Auge genommen und wirbelte es an einer langen Goldkette um den Finger. »Ich kann es gar nicht erwarten, endlich zu erfahren, worum es diesmal geht.«

Magnus trat an den Kamin und lehnte sich an das Sims – das Idealbild eines jungen Gentlemans. Der Raum war in einem hellen Blau gehalten und mit Gemälden ausgestattet, die endlose Gebirgszüge, glitzernde blaue Ozeane und Männer und Frauen in antiker Kleidung zeigten. Will glaubte, die Reproduktion eines Porträts von der Hand des Künstlers Lawrence Alma-Tadema zu erkennen – es musste sich um eine Nachbildung handeln, oder nicht?

»Hör auf, die Wände anzustarren, Will«, tadelte Magnus. »Du hast dich seit Monaten nicht hier blicken lassen. Was führt dich ausgerechnet jetzt her?«

»Ich wollte dir nicht zur Last fallen«, murmelte Will. Das entsprach allerdings nur zum Teil der Wahrheit: Nachdem Magnus den Fluch, den Will auf sich ruhen glaubte, als Irrtum enttarnt hatte, war Will ihm aus dem Weg gegangen – nicht weil er wütend auf den Hexenmeister war oder seine Hilfe nun nicht mehr benötigte, sondern einfach deshalb, weil Magnus’ Anblick in ihm schmerzhafte Erinnerungen weckte. Will hatte ihm einen kurzen Brief geschickt, in dem er die darauf folgenden Ereignisse rasch geschildert und ihm mitgeteilt hatte, dass sein Geheimnis nicht länger geheim war. Außerdem hatte er Magnus von Jems Verlobung mit Tessa berichtet und ihn gebeten, auf seinen Brief nicht zu antworten. Jetzt holte Will tief Luft und meinte: »Aber das hier … das ist eine Krisensituation.«

Magnus schaute ihn aus großen Katzenaugen an. »Welche Art von Krisensituation?«

»Es geht um Yin Fen«, sagte Will.

»Gütiger Himmel«, warf Woolsey ein, »sag mir nicht, dass mein Rudel schon wieder dieses Zeug einnimmt?!«

»Nein«, erwiderte Will. »Denn es ist nichts mehr da, was man einnehmen könnte.« Als er sah, dass Magnus die Bedeutung seiner Worte zu begreifen begann, fuhr er fort und erklärte die Situation so genau wie möglich. Während er sprach, schaute Magnus ihn mit unveränderter Miene an; genauso gut hätte Will sich auch an Church wenden können…Der Hexenmeister musterte ihn lediglich aus seinen goldgrünen Augen, bis Will seinen Bericht beendet hatte.

»Und ohne das Yin Fen?«, fragte Magnus schließlich.

»Wird er sterben«, sagte Tessa und wandte sich vom Kamin ab. Ihre Wangen glühten förmlich, doch Will vermochte nicht zu sagen, ob dies der Wärme des Feuers oder der Aufregung geschuldet war. »Zwar nicht sofort, aber…innerhalb einer Woche. Ohne das Pulver wird sein Körper schwächer und schwächer.«

»Wie nimmt er es ein?«, hakte Woolsey nach.

»In Wasser aufgelöst oder mithilfe eines Inhalators … Aber was hat das damit zu tun?«, fragte Will fordernd.

»Nichts«, meinte Woolsey. »Ich war nur neugierig. Dämonengifte sind eine interessante Sache.«

»Für uns, die Jem lieben, sind sie mehr als nur interessant«, erwiderte Tessa. Sie hatte das Kinn gehoben und Will erinnerte sich daran, wie er sie einmal mit Boadicea verglichen hatte. Und sie war mutig – wofür er sie bewunderte, selbst wenn sie ihren Mut dafür einsetzte, ihre Liebe zu einem anderen Mann zu verteidigen.

»Warum kommt ihr mit dieser Geschichte zu mir?«, fragte Magnus mit leiser, ruhiger Stimme.

»Sie haben uns schon einmal geholfen«, erklärte Tessa. »Und wir dachten, Sie wären vielleicht auch jetzt dazu in der Lage. Sie haben bei dieser Sache mit de Quincey assistiert … und Will mit diesem Fluch …«

»Ich bin nicht euer Lakai«, beschied Magnus ihr. »Ich habe bei der Sache mit de Quincey mitgemacht, weil Camille mich darum gebeten hatte. Und Will war ich ein einziges Mal behilflich, weil er mir im Gegenzug einen Gefallen versprochen hat. Ich bin ein Hexenmeister. Ich diene den Nephilim nicht ohne Entgelt.«

»Und ich bin keine Nephilim«, konterte Tessa.

Daraufhin herrschte einen Moment Stille. Schließlich meinte Magnus »Hm«, wandte sich vom Feuer ab und fragte: »Wenn ich es richtig verstehe, Tessa, darf man Ihnen gratulieren?«

»Ich …«

»Zu Ihrer Verlobung mit James Carstairs.«

»Oh.« Tessa errötete und griff sich unwillkürlich an die Kehle, wo sie stets den Anhänger von Jems Mutter trug, sein Verlobungsgeschenk an sie. »Ja. Vielen Dank.«

Will spürte förmlich, wie Woolseys Augen von Magnus zu Tessa und dann zu ihm wanderten, während sein Verstand alles erfasste, messerscharfe Schlüsse zog und die Situation genoss. »Ich bin bereit, dir alles zu geben«, wandte Will sich angespannt an Magnus. »Einen weiteren Gefallen oder was auch immer du verlangst – für etwas Yin Fen. Wenn du Geld willst, das ließe sich arrangieren … das heißt, ich könnte es versuchen …«

»Ich hab dir zwar in der Vergangenheit helfen können …«, setzte Magnus an, »aber dieses Mal …?« Er seufzte. »Denkt doch mal nach, ihr beiden. Wenn jemand sämtliche Yin-Fen-Vorräte im ganzen Land aufkauft, dann handelt es sich dabei um jemanden, der seine besonderen Gründe dafür hat. Und wer hat besondere Gründe für so etwas?«

»Mortmain«, wisperte Tessa, noch bevor Will es laut aussprechen konnte.

Sofort erinnerte er sich an seine eigenen Worte: »Mortmains Lakaien sind dabei, im gesamten East End alle Yin-Fen-Vorräte aufzukaufen. Ich habe mich selbst davon überzeugt. Wenn du also kein Pulver mehr gehabt hättest und Mortmain die einzige Bezugsquelle gewesen wäre …«

»Dann wären wir von ihm abhängig geworden und hätten uns in seiner Macht befunden«, beendete Jem den Satz. »Es sei denn, du wärst bereit, mich sterben zu lassen – was das einzig Vernünftige wäre.«

Mit seinem üppigen Vorrat an Yin Fen, der normalerweise für zwölf Monate gereicht hätte, war Will gar nicht der Gedanke gekommen, dass diese Gefahr weiterhin bestand. Er hatte angenommen, Mortmain würde andere Mittel und Wege suchen, sie zu quälen und zu peinigen; denn es musste ihm doch klar sein, dass dieser Plan nicht funktionieren würde … Aber Will hatte nicht damit gerechnet, dass Jems Jahresvorrat innerhalb von acht Wochen aufgebraucht sein würde.

»Du willst uns nicht helfen«, stieß Will nun hervor. »Weil du dich nicht in eine Position bringen willst, die dich zu Mortmains erklärtem Feind macht.«

»Nun ja, kann man ihm das verübeln?« Als Woolsey sich erhob, raschelte die gelbe Seide seines Morgenrocks. »Was habt ihr ihm denn zu bieten, dass es das Risiko wieder wettmachen würde?«

»Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen«, wandte Tessa sich mit derart leiser, ernster Stimme an den Hexenmeister, dass es Will durch Mark und Bein ging. »Alles … wenn Sie uns nur helfen, Jem zu helfen.«

Magnus fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarzen Haare. »Gott … ihr alle beide! Also schön, ich kann ein paar Erkundigungen einziehen. Den ein oder anderen ungewöhnlicheren Handelsweg ausfindig machen. Die alte Molly …«

»Bei ihr war ich schon«, warf Will ein. »Aber irgendetwas hat ihr eine solche Heidenangst eingejagt, dass sie nicht einmal aus ihrem Grab kriechen wollte.«

Woolsey schnaubte. »Und das gibt dir nicht zu denken, kleiner Schattenjäger? Ist es das wirklich alles wert, nur um das Leben deines Freundes um ein paar Monate oder ein Jahr zu verlängern? Er stirbt doch ohnehin. Und je eher er das Zeitliche segnet, desto eher kannst du seine Verlobte haben, das Mädchen, das du liebst.« Er warf einen amüsierten Blick in Tessas Richtung. »Eigentlich solltet ihr eifrig die Tage zählen, bis er endlich sein Leben aushaucht.«

Will wusste nicht, was danach geschah – um ihn herum wurde plötzlich alles weiß, dann flog Woolseys Monokel quer durch den Salon. Will stieß mit dem Kopf gegen irgendetwas und im nächsten Moment befand sich der Werwolf tretend und fluchend unter ihm. Sie rollten über den Teppich und ein stechender Schmerz durchzuckte Wills Handgelenk, als Woolsey mit ausgefahrenen Krallen nach ihm schlug. Der Schmerz brachte Klarheit in seinen umnebelten Kopf und er erkannte, dass Woolsey ihn auf den Boden drückte. Seine Augen funkelten gelblich und er hatte die scharfen Zähne gebleckt, bereit, jeden Moment zuzubeißen.

»Hört auf! Hört auf!«, rief Tessa und griff sich den Schürhaken, der neben dem Kamin lag.

Will schnappte nach Luft und stieß Woolsey die Hand ins Gesicht, um ihn wegzudrücken. Der Werwolf schrie auf und plötzlich verschwand das schwere Gewicht, das auf Wills Brust gelastet hatte. Magnus hatte Woolsey gepackt, ihn hochgezogen und beiseitegestoßen. Dann krallten sich Magnus’ Hände in den Rücken von Wills Jackett und er spürte, wie er aus dem Raum gezerrt wurde. Woolsey starrte ihm nach, eine Hand aufs Gesicht gepresst – auf die Stelle, wo Wills Silberring ihm den Wangenknochen versengt hatte.

»Lass mich los! Lass mich los!« Will zappelte und strampelte, konnte sich Magnus’ eisernem Griff aber nicht entwinden. Der Hexenmeister schob ihn durch den Flur in die nur schwach beleuchtete Bibliothek. Will riss sich in dem Moment los, als Magnus ihn freigab, sodass er ungelenk in den Raum stolperte, bis er von der Rückenlehne eines roten Samtsofas aufgefangen wurde. »Ich darf Tessa nicht mit Woolsey allein lassen …«, knurrte er.

»Er stellt wohl kaum eine Gefahr für ihre Tugend dar«, erwiderte Magnus trocken. »Woolsey wird sich schon benehmen – was mehr ist, als ich von dir behaupten kann.«

Langsam drehte Will sich um und wischte sich das Blut von der Lippe. »Warum starrst du mich so wütend an? Du siehst aus wie Church, kurz bevor er jemanden beißt.«

»Einfach so einen Streit mit dem Oberhaupt der Praetor Lupus vom Zaun zu brechen …«, entgegnete Magnus bitter. »Du weißt doch, was die Mitglieder seines Rudels mit dir anstellen würden, wenn sie nur den geringsten Vorwand hätten. Du willst unbedingt sterben, stimmt’s?«

»Nein, will ich nicht«, erwiderte Will zu seiner eigenen Überraschung.

»Ich weiß nicht, warum ich dir je geholfen habe.«

»Du magst nun mal zerbrochene Dinge.«

Mit zwei großen Schritten durchquerte Magnus die Bibliothek, packte Wills Gesicht mit seinen langen Fingern und hob sein Kinn an. »Du bist nicht Sydney Carton«, sagte er. »Was würde es dir bringen, für James Carstairs zu sterben, wenn er ohnehin dem Tod geweiht ist?«

»Wenn ich ihn damit retten könnte, dann wäre es das wenigstens wert gewesen …«

»Herrgott noch mal!« Magnus kniff die Augen zu Schlitzen. »Was wäre es wert gewesen? Was um alles in der Welt könnte eine solche Tat wert sein?«

»Alles, was ich verloren habe!«, brüllte Will. »Tessa!«

Bestürzt ließ Magnus seine Hand sinken. Er trat ein paar Schritte zurück und atmete langsam ein und aus, als würde er innerlich bis zehn zählen. »Ich bitte um Entschuldigung«, meinte er schließlich, »für das, was Woolsey gesagt hat.«

»Wenn Jem stirbt, werde ich niemals mit Tessa zusammen sein können«, erklärte Will. »Denn das wäre so, als hätte ich nur darauf gewartet, dass er stirbt. Oder als würde ich mich über seinen Tod freuen, weil mir dies den Weg zu ihr ebnet. Aber diese Person will und werde ich nicht sein. Ich will und werde nicht von seinem Tod profitieren. Also muss Jem am Leben bleiben.« Er ließ den Arm sinken; Blut klebte an seinem Hemdsärmel. »Das ist die einzige Möglichkeit, die bleibt, damit all das wenigstens irgendeine Bedeutung hat. Denn sonst wäre alles nur …«

»… sinnloser, unnötiger Kummer und Schmerz? Ich nehme nicht an, dass es dir hilft, wenn ich dir sage: So ist das Leben nun mal. Die Guten leiden, die Bösen gedeihen und alles Irdische ist vergänglich.«

»Das reicht mir nicht – ich will mehr«, stieß Will hervor. »Du selbst hast dafür gesorgt, dass ich mehr will als nur das. Du hast mir gezeigt, dass ich nur deshalb verflucht war, weil ich mich entschieden hatte, an diesen Fluch zu glauben. Du hast mir gesagt, dass da mehr ist…Hoffnung, Bedeutung. Aber nun wendest du dich ab von dem, den du geschaffen hast.«

Magnus lachte kurz auf. »Du bist unverbesserlich.«

»Das höre ich nicht zum ersten Mal.« Will drückte sich vom Sofa ab und zuckte vor Schmerz zusammen. »Heißt das, du wirst mir helfen?«

»Ja, ich werde dir helfen.« Magnus griff in seinen Hemdkragen und zog etwas an einer Kette hervor – etwas, das in einem sanften Rot zu glühen schien. Ein massiver Rubin. »Hier, nimm das«, sagte er und drückte Will den Anhänger in die Hand.

Verwirrt schaute Will den Hexenmeister an. »Der Edelstein hat doch Camille gehört.«

»Ich habe ihr den Anhänger vor vielen Jahren geschenkt«, bestätigte Magnus mit einem bitteren Lächeln. »Aber letzten Monat hat sie all meine Geschenke zurückgeschickt. Also nimm ihn ruhig. Der Anhänger warnt vor Dämonen, die sich in der Nähe befinden. Vielleicht funktioniert er ja auch bei diesen Klockwerk-Kreaturen.«

»Wahre Liebe stirbt nicht«, übersetzte Will die Inschrift auf der Rückseite, als er den Anhänger umdrehte und im Licht, das aus dem Flur in die Bibliothek fiel, betrachtete. »Diesen Rubin kann ich nicht tragen, Magnus. Der ist viel zu hübsch für einen Mann.«

»Das Gleiche gilt für dich. Und jetzt fahr nach Hause und wasch dich erst mal. Ich werde mich melden, sobald ich irgendwelche Informationen habe.« Dann musterte er Will scharf. »In der Zwischenzeit solltest du dir alle Mühe geben, dich meiner Hilfe würdig zu erweisen.«

»Wenn Sie mir zu nahe kommen, schlage ich Ihnen mit diesem Schürhaken den Schädel ein«, drohte Tessa und schwang die gebogene Eisenstange wie ein Schwert zwischen sich und Woolsey Scott.

»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel«, bestätigte Woolsey und betrachtete Tessa mit einer Art widerwilligem Respekt, während er ein Taschentuch mit Monogramm zückte und sich damit das Blut vom Kinn wischte. Will war ebenfalls mit Blut befleckt gewesen, mit ihrer beider Blut, überlegte Woolsey. Zweifellos befand er sich im Moment mit Magnus in einem anderen Zimmer und schmierte auch dort überall sein Blut hin. Schon unter normalen Umständen nahm der Junge es mit der Sauberkeit nicht so genau – und erst recht nicht, wenn er aufgebracht war. »Wie ich sehe, haben Sie bereits ein paar Eigenschaften von ihnen übernommen … von den Nephilim, die Sie ja offenbar so verehren. Wie kommen Sie bloß dazu, sich mit einem Schattenjäger zu verloben? Noch dazu mit einem, der im Sterben liegt.«

Unbändige Wut flackerte in Tessa auf. Am liebsten hätte sie Woolsey mit dem Schürhaken eins übergezogen, ob er ihr nun zu nahe kam oder nicht. Andererseits hatte er beim Kampf mit Will sehr schnelle Reflexe gezeigt und sie rechnete sich keine allzu großen Chancen aus. »Sie kennen James Carstairs nicht. Also reden Sie gefälligst nicht so über ihn«, knurrte sie.

»Sie lieben ihn, stimmt’s?« Woolsey gelang es, seinen Worten einen unangenehmen Beigeschmack zu verleihen. »Aber Will lieben Sie ebenfalls.«

Tessa erstarrte innerlich. Sie hatte gewusst, dass Magnus über Wills Gefühle für sie im Bilde war, aber die Vorstellung, dass man ihre eigenen Gefühle für Will so deutlich sehen konnte, war zu furchterregend, um auch nur darüber nachzudenken. »Das stimmt nicht«, widersprach sie.

»Sie lügen«, höhnte Woolsey. »Also wirklich, worin liegt denn der Unterschied, ob und welcher der beiden stirbt? Sie haben auf jeden Fall einen wunderbaren Ersatz.«

Tessa dachte an Jem, an die Form seines Gesichts, an seine Augen, die er beim Violinspiel voller Konzentration schloss, an die geschwungenen Konturen seiner Lippen, wenn er lächelte, an seine Finger, wenn er ihre Hand nahm – jeder Teil von ihm war ihr unbeschreiblich lieb und teuer. »Wenn Sie zwei Kinder hätten …«, setzte sie an, »… würden Sie dann behaupten, es wäre kein Problem, falls eines davon sterben würde – denn schließlich hätten Sie ja immer noch das andere?«

»Man kann zwei Kinder gleich stark ins Herz schließen. Aber in der Liebe kann man sein Herz nur an eine Person verschenken«, entgegnete Woolsey. »Das liegt doch in der Natur des Eros, oder nicht? Zumindest erzählen uns das die meisten Romane, auch wenn ich selbst auf diesem Gebiet keinerlei Erfahrung besitze.«

»Von Romanen weiß ich nur eines mit Sicherheit«, sagte Tessa.

»Und das wäre?«

»Sie entsprechen nicht der Realität.«

Spöttisch hob Woolsey eine Augenbraue. »Sie sind ein drolliges kleines Ding«, bemerkte er. »Ich kann beinahe verstehen, was diese beiden jungen Männer an Ihnen finden, aber …« Er zuckte die Achseln und Tessa bemerkte, dass sein gelber Morgenrock einen langen, blutigen Riss hatte. »Frauen zählen nicht zu den Dingen, von denen ich behaupten kann, dass ich sie je verstanden hätte.«

»Und was genau finden Sie an ihnen so rätselhaft, Sir?«

»Ihren Daseinszweck, hauptsächlich.«

»Nun ja, Sie müssen doch auch eine Mutter gehabt haben«, gab Tessa zu bedenken.

»Ja, da war eine Person, die mich geworfen hat«, räumte Woolsey ohne allzu große Begeisterung ein. »Ich erinnere mich kaum an sie.«

»Das mag sein, aber ohne eine Frau würde es Sie gar nicht geben, oder? So wenig Zweck Sie persönlich auch in uns sehen mögen, so sind wir dennoch klüger, entschlossener und geduldiger als Männer. Männer mögen vielleicht stärker sein, aber es sind die Frauen, die ausdauern werden.«

»Ist es das, was Sie gerade tun? Ausdauern? Gewiss sollte eine zukünftige Braut glücklicher sein.« Seine hellen Augen musterten Tessa. »Wie heißt es doch gleich: ›Jedes Herz, das mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen.‹ Sie lieben sie beide, und das zerreißt Sie innerlich.«

»Haus«, sagte Tessa.

Fragend hob er eine Augenbraue. »Was meinen Sie damit?«

»›Jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen.‹ Nicht jedes Herz. Vielleicht sollten Sie in Zukunft lieber auf Zitate verzichten, wenn Sie sie nicht fehlerfrei wiedergeben können.«

»Und Sie sollten vielleicht aufhören, sich selbst zu bedauern«, konterte er. »Die meisten Leute dürfen sich glücklich schätzen, wenn sie in ihrem Leben auch nur einer einzigen großen Liebe begegnen. Und Sie haben gleich zwei gefunden.«

»Sagt der Mann, der keine gefunden hat.«

»Autsch!« Woolsey fasste sich theatralisch ans Herz und taumelte rückwärts. »Das Täubchen hat Haare auf den Zähnen. Na schön, wenn Sie nicht über Ihre persönlichen Angelegenheiten sprechen wollen, wie wäre es dann mit einem unverfänglicheren Thema? Beispielsweise Ihre eigene Herkunft? Magnus scheint davon überzeugt, dass Sie eine Hexe sind, aber ich bin mir da nicht so sicher. Ich glaube eher, dass Feenblut in Ihren Adern fließt. Denn was wäre die Kunst der Gestaltwandlung anderes als eine Kunst der Illusion? Und wer sind die Meister der Magie und der Illusion, wenn nicht das Lichte Volk?«

Tessa musste an die blauhaarige Elfe auf Benedicts Party denken, die behauptet hatte, ihre Mutter gekannt zu haben, und ihr stockte der Atem. Bevor sie aber auf Woolseys Bemerkung reagieren konnte, kehrten Magnus und Will in den Salon zurück – Will, wie nicht anders zu erwarten, blutbeschmiert wie zuvor und mit finsterer Miene.

Er schaute von Tessa zu Woolsey und stieß dann ein kurzes Lachen aus. »Ich schätze, du hattest recht, Magnus. Von Woolsey hat Tessa keine Gefahr zu befürchten – was man umgekehrt jedoch nicht behaupten kann.«

»Tessa, meine Liebe, bitte legen Sie den Schürhaken weg«, sagte Magnus und streckte ihr seine Hand entgegen. »Woolsey kann in der Tat grässlich sein, aber es gibt bessere Mittel und Wege, mit seinen Launen umzugehen.«

Mit einem letzten scharfen Blick in Woolseys Richtung reichte Tessa Magnus den Schürhaken. Dann ging sie zum Kaminsims und nahm ihre Handschuhe herunter, während Will seinen Mantel suchte. Magnus sagte irgendetwas und Woolsey lachte. Doch Tessa schenkte dem Stimmengewirr hinter ihr kaum Aufmerksamkeit; ihr Blick war auf Will geheftet. Sie konnte seinem Gesicht sofort ansehen, dass das Gespräch zwischen ihm und dem Hexenmeister keine Lösung für Jems Problem gebracht hatte. Will wirkte ruhelos und war gespenstisch blass – die Blutspritzer auf den Wangenknochen ließen das Blau seiner Augen nur noch stärker hervortreten.

Magnus führte sie aus dem Salon zur Haustür, wo Tessa die kalte Luft wie eine Woge traf. Rasch streifte sie ihre Handschuhe über und nickte dem Hexenmeister zum Abschied noch einmal zu, der hinter ihnen die Tür schloss und sie beide in die Dunkelheit verbannte.

Zwischen den Bäumen am Embankment glitzerte die Themse und in ihren Fluten spiegelten sich die Lichter der Battersea Bridge – ein Nachtstück in Blau und Gold. Ihre Kutsche wartete im Schatten des Torbogens. Der Mond hoch über ihnen kam einen kurzen Moment hinter den grauen Wolken zum Vorschein, bevor er wieder verschwand.

Will stand vollkommen regungslos da. »Tessa«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam, eigenartig gepresst.

Rasch trat Tessa die Stufen hinunter, bis sie neben ihm stand und ihn anschauen konnte. Wills Gesicht war häufig wechselhaft wie das Mondlicht am Himmel, doch so still wie in diesem Moment hatte sie ihn noch nie erlebt. »Hat er gesagt, ob er uns helfen wird?«, fragte sie leise. »Magnus, meine ich …«

»Er will es versuchen, aber … wie er mich angesehen hat … er hatte Mitleid mit mir, Tess. Das bedeutet, es besteht keine Hoffnung mehr, stimmt’s? Wenn sogar Magnus glaubt, dass eine Sache zum Scheitern verurteilt ist, dann gibt es nichts mehr, was ich noch tun könnte, oder?«

Behutsam legte Tessa ihm eine Hand auf den Arm. Will rührte sich nicht von der Stelle. Irgendwie fühlte es sich eigenartig an, so dicht bei ihm zu stehen und seine vertraute Nähe zu spüren, während sie sich monatelang aus dem Weg gegangen waren und kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten. Er hatte ihr ja noch nicht einmal in die Augen schauen wollen. Und nun stand er hier, roch nach Seife und Regen und Will … »Du hast schon so viel getan«, flüsterte sie. »Magnus bemüht sich, uns zu helfen, und wir werden ebenfalls weitersuchen. Vielleicht finden wir ja noch einen Weg. Aber du darfst auf keinen Fall die Hoffnung aufgeben.«

»Das weiß ich. Natürlich weiß ich das. Trotzdem empfinde ich tief in meinem Herzen eine Furcht, als hätte mein letztes Stündlein geschlagen. Hoffnungslosigkeit kenne ich von früher, Tess, aber nicht eine solche Angst. Und doch habe ich gewusst … habe ich immer gewusst …«

… dass Jem sterben würde. Tessa beendete den Satz nicht laut. Er hing unausgesprochen zwischen ihnen.

»Wer bin ich?«, flüsterte Will. »Jahrelang habe ich so getan, als ob ich jemand anders wäre. Und dann habe ich mich schon bei dem Gedanken gefreut, dass ich zu meinem wahren Ich zurückkehren könnte – nur um jetzt festzustellen, dass es kein wahres Ich gibt, zu dem ich zurückkehren kann. Ich war ein ganz gewöhnliches Kind und danach kein besonders guter Mann und jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich das eine oder das andere sein soll. Ich weiß nicht, was ich bin, und wenn Jem nicht mehr ist, gibt es niemanden, der es mir zeigen könnte.«

Tessa antwortete nur: »Ich weiß genau, wer du bist. Du bist Will Herondale.« Und dann spürte sie plötzlich Wills Arme um ihren Körper und seinen Kopf auf ihrer Schulter. Vor Überraschung erstarrte sie im ersten Moment, doch dann erwiderte sie die Umarmung vorsichtig und hielt ihn fest, während er am ganzen Körper zitterte. Allerdings war er nicht in Tränen ausgebrochen; es war eher eine Art Krampf, so als bekäme er keine Luft mehr. Tessa wusste, dass sie ihn eigentlich nicht berühren sollte, aber sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass Jem sich wünschte, sie würde Will in solch einem Moment von sich stoßen. Zwar konnte sie ihm Jem nicht ersetzen, nicht sein Richtungsweiser sein, aber wenn sie sonst schon nichts tun konnte, dann musste sie wenigstens versuchen, ihm seine Bürde ein wenig zu erleichtern.

»Möchtest du diese recht geschmacklose Schnupftabakdose haben, die mir jemand geschenkt hat? Sie ist aus Silber, daher kann ich sie nicht anfassen«, sagte Woolsey.

Magnus stand am Erkerfenster und spähte durch einen schmalen Spalt im Vorhang, der gerade so breit war, dass er Will und Tessa auf der Eingangstreppe sehen konnte. Sie klammerten sich aneinander, als ginge es um ihr Leben. Statt einer Antwort brummte er nur unverbindlich.

Woolsey verdrehte die Augen. »Sie stehen noch immer da draußen, stimmt’s?«

»Sieht ganz so aus.«

»Ziemlich unerfreuliche Angelegenheit, romantische Liebe und das ganze Zeugs«, bemerkte Woolsey. »Da ist unser Weg doch viel besser: Nur das Körperliche zählt und sonst nichts.«

»In der Tat.«

Will und Tessa hatten sich endlich voneinander gelöst, hielten sich aber weiterhin an den Händen. Tessa schien Will die Stufen hinunterzuführen.

»Meinst du, du hättest geheiratet, wenn es deine Neffen nicht gäbe, die den Namen der Familie weitertragen?«, fragte Magnus nachdenklich.

»Vermutlich wäre mir nichts anderes übrig geblieben. ›Ruft: Gott mit Heinrich! England! Sankt Georg und den Praetor Lupus!‹« Woolsey lachte; er hatte sich etwas Rotwein aus der Karaffe auf der Anrichte eingeschenkt, schwenkte das Glas und blickte nachdenklich in das Farbenspiel der samtigen Flüssigkeit. »Du hast Will Camilles Kette gegeben«, bemerkte er nach einem Moment.

»Woher weißt du das?« Magnus war nur halb bei der Sache; seine Aufmerksamkeit galt weiterhin Will und Tessa, die inzwischen zu ihrer Kutsche gingen. Trotz ihres Größenunterschieds und ihrer unterschiedlichen Statur sah es so aus, als würde Tessa Will stützen.

»Als du mit Will aus dem Raum gegangen bist, hast du den Anhänger noch getragen, aber bei deiner Rückkehr nicht mehr. Vermutlich hast du ihm nicht gesagt, was das Ding kostet? Und dass er einen Rubin trägt, der mehr wert ist als das gesamte Institut?«

»Ich wollte den Anhänger nicht«, erwiderte Magnus.

»Eine tragische Erinnerung an eine vergangene Liebe?«

»Er passte nicht zu meinem Teint.«

Will und Tessa waren inzwischen in die Kutsche gestiegen und ihr Fahrer griff nach den Zügeln.

»Glaubst du, es besteht noch eine Chance für ihn?«

»Für wen?«

»Für Will Herondale. Die Chance, jemals glücklich zu werden.«

Woolsey seufzte schwer und stellte das Weinglas ab. »Besteht denn für dich eine Chance, jemals glücklich zu werden, wenn er es nicht ist?«

Magnus schwieg.

»Bist du in ihn verliebt?«, fragte Woolsey. Aus seiner Stimme sprach pure Neugierde, keinerlei Eifersucht.

Magnus fragte sich, wie es wohl sein mochte, ein solches Herz zu besitzen – oder vielmehr gar kein Herz. »Nein«, sagte er. »Ich habe mich das auch schon gefragt, aber die Antwort lautet Nein. Da ist irgendetwas anderes. Ich habe das Gefühl, dass ich ihm etwas schuldig bin. Irgendwo habe ich einmal die Redensart gehört: ›Wenn man ein Leben rettet, ist man für dieses Leben auch verantwortlich.‹ Ich fühle mich verantwortlich für den Jungen. Sollte er niemals glücklich werden, dann werde ich immer das Gefühl haben, ich hätte ihn im Stich gelassen. Sollte er das Mädchen, das er liebt, nicht bekommen, werde ich immer das Gefühl haben, ich hätte ihn im Stich gelassen. Sollte es mir nicht gelingen, seinen Parabatai zu retten, werde ich immer das Gefühl haben, ich hätte ihn im Stich gelassen.«

»Dann wirst du ihn definitiv im Stich lassen«, erwiderte Woolsey. »In der Zwischenzeit, während du Trübsal bläst und nach Yin Fen suchst, werde ich lieber auf Reisen gehen. Hinaus aufs Land oder an die See. Die Stadt deprimiert mich im Winter einfach zu sehr.«

»Ganz wie du willst.« Magnus ließ den Vorhang zufallen, sodass Wills und Tessas davonfahrende Kutsche seiner Sicht entzogen wurde.

Adressat: Konsul Josiah Wayland
Absender: Inquisitor Victor Whitelaw

Josiah,

Dein Schreiben bezüglich Charlotte Branwell hat mich sehr beunruhigt. Als Dein alter Weggefährte hatte ich gehofft, Du würdest Dich mir gegenüber vielleicht offener äußern können als gegenüber der Kongregation. Gibt es in Bezug auf Charlotte irgendwelche strittigen Fragen, die Dir Kopfzerbrechen bereiten? Ihr Vater war uns beiden ein guter Freund und ich wüsste nichts, was darauf hindeuten würde, dass sie etwas Unehrenhaftes tut.

Zutiefst besorgt, Dein
Victor Whitelaw