21

BRENNENDGOLD

Bringt meinen bogen brennendgold!
Bringt meine pfeile der begehr!
Bringt meinen speer! oh wolkenspalt!

Bringt meinen feuerwagen her!

WILLIAM BLAKE, »JERUSALEM«

Tessa hatte im Institut nie trainiert, mit einer Waffe an der Seite weite Strecken zu laufen. Bei jedem Schritt schlug der Dolch gegen ihren Oberschenkel und ritzte ihr mit der Spitze durch die Montur hindurch die Haut auf. Tessa wusste, dass die Klinge eigentlich in einer Scheide transportiert werden sollte, wie etwa an Wills Gürtel, aber es hatte keinen Zweck, jetzt lange darüber nachzudenken. Will und Magnus stürmten Hals über Kopf durch die Felsgänge unter dem Cadair Idris und Tessa tat ihr Möglichstes, um mit ihnen Schritt zu halten.

Magnus führte ihre kleine Gruppe an, da er zumindest eine halbwegs klare Vorstellung davon hatte, in welche Richtung sie laufen mussten. Tessa war nur mit einer Augenbinde durch das Wirrwarr aus Tunneln und Höhlen geschleppt worden und Will musste einräumen, dass er sich nicht an viele Dinge erinnern konnte, die er während seiner Suche innerhalb dieses unübersichtlichen Labyrinths gesehen hatte.

Auch jetzt verengten und weiteten sich die Gänge ohne sichtbaren Grund oder erkennbares Muster. Endlich erreichten die drei einen breiteren Tunnel, als sie plötzlich ein Geräusch hörten – das Geräusch eines weit entfernten, entsetzten Aufschreis.

Magnus verspannte sich am ganzen Körper und Will hob ruckartig den Kopf. »Cecily«, stieß er hervor und dann stürmte er doppelt so schnell durch den Gang wie zuvor, sodass sowohl Magnus als auch Tessa große Mühe hatten, dicht hinter ihm zu bleiben. Dabei kamen sie an seltsamen Zellen vorbei: zuerst eine Höhle, deren Tür mit Blut bespritzt war. Die zweite erkannte Tessa sofort wieder – der Raum mit dem Schreibtisch, in dem Mortmain sie gezwungen hatte, sich in seinen Vater zu verwandeln. Dann eine dritte Höhlenkammer, in der ein riesiges Gitterwerk aus Kupfer und anderem Metall sich in einem unsichtbaren Wind drehte. Während die drei weiterstürmten, schwoll der Kampflärm an und die Schreie wurden immer lauter, bis Will, Magnus und Tessa schließlich auf eine gewaltige kreisrunde Höhle stießen.

Die kuppelartige Höhle war bis zum Rand mit Automaten gefüllt, die in dichten Reihen standen – mindestens so viele Automaten wie in der Nacht zuvor das Dorf niedergebrannt hatten, als Tessa hilflos hatte zusehen müssen. Die meisten der Kreaturen verharrten vollkommen reglos, aber in der Mitte der Höhle waren ein paar von ihnen aus ihrer Starre erwacht und kämpften erbarmungslos. Tessa hatte das Gefühl, den Kampf auf den Stufen vor dem Institut erneut zu beobachten: Die Lightwood-Brüder fochten Seite an Seite, Cecily schwang eine schimmernde Seraphklinge und auf dem Boden lag der zusammengekrümmte Leichnam eines Stillen Bruders. Vage nahm Tessa wahr, dass zwei weitere Brüder der Stille zusammen mit den Schattenjägern kämpften, die Gesichter im Schatten ihrer pergamentfarbenen Kapuzen. Doch dann wanderte Tessas Blick zu Henry, der stumm, schlaff und vollkommen reglos auf dem Boden lag. Daneben kniete Charlotte, die Arme um ihn geschlungen, als könnte sie ihn vor dem erbitterten Kampf schützen, der um sie herum tobte. Aber sein totenbleiches Gesicht und sein bewegungsloser Körper verrieten Tessa, dass es vermutlich zu spät war, um Henry noch vor irgendetwas zu beschützen.

Will stürmte vorwärts. »Keine Seraphklingen!«, brüllte er den Ne-philim zu. »Bekämpft sie mit anderen Waffen! Die Engelsschwerter sind nutzlos!«

Cecily hörte ihn und zuckte zurück, obwohl ihre Seraphklinge gerade auf einen Automaten herabfuhr – und bei der Berührung mit dessen Metallkörper erlosch und wie trockenes Eis zerbrach. Glücklicherweise besaß sie die Geistesgegenwart, unter dem säbelnden Arm der Kreatur hindurchzutauchen, als auch schon Cyril und Bridget zu ihr stießen und Cyril den Automaten mit einem massiven Stab erledigte. Gleichzeitig schlug Bridget mit fliegenden roten Haaren und wirbelnden messerscharfen Klingen eine Schneise zu Charlotte und Henry. Links und rechts flogen abgetrennte Metallarme durch die Luft, bis sie Charlotte erreichte und alles abwehrte, was sich ihr näherte – als sei sie fest entschlossen, die Leiterin des Instituts notfalls mit ihrem eigenen Leben zu verteidigen.

Wills Hände krallten sich plötzlich um Tessas Oberarme. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf sein kreidebleiches, starres Gesicht, als er sie Magnus in die Arme schob und ihm zuknurrte: »Bleib bei ihr!« Tessa setzte zu einem Protest an, aber Magnus packte sie und zog sie zurück, während Will sich in das Getümmel stürzte und sich einen Weg zu seiner Schwester bahnte.

Cecily kämpfte gerade gegen einen wuchtigen Automaten mit breiter Brust und mit zwei Armen auf der rechten Seite. Nach dem Verlust der Seraphklinge besaß sie außer einem Dolch nur noch ein Kurzschwert zu ihrer Verteidigung. Ihre Haare lösten sich aus dem Knoten, als sie einen Ausfallschritt machte und die Kreatur mit dem Schwert an der Schulter traf. Der Automat brüllte auf wie ein Bulle und Tessa erschauderte. Gott, diese Kreaturen gaben Geräusche von sich! Bevor Mortmain sie verändert hatte, waren sie stumm gewesen, unbelebte Dinge. Doch nun waren sie lebendige Wesen – bösartige, blutrünstige Wesen. Tessa setzte sich in Bewegung, als der Automat Cecilys Waffe packte, sie ihrem Griff entwand und die Schattenjägerin zu sich heranzog. Im selben Moment hörte sie Will, der laut den Namen seiner Schwester rief …

Und dann wurde Cecily an den Schultern gepackt und zur Seite gestoßen. Hinter ihr stand einer der Stillen Brüder. Mit wirbelnder Robe wandte er sich dem Automaten zu, den langen Stab vor sich ausgestreckt. Als sich der Dämon auf ihn stürzen wollte, schwang der Stille Bruder den Stab mit solcher Kraft und Schnelligkeit, dass der Automat meterweit rückwärts flog, mit einer tiefen Delle in seinem metallenen Brustkorb. Er versuchte, sich aufzurappeln, doch sein Korpus war zu sehr beschädigt, sodass er nur noch wütend sirren konnte. Hastig richtete Cecily sich auf und stieß einen Warnschrei aus.

Eine weitere Kreatur war neben der ersten aufgetaucht. Als sich der Stille Bruder umdrehte, schlug der Automat ihm den Stab aus der Hand, packte ihn, hob ihn hoch und schlang ihm von hinten die Metallarme um die Brust, wie in einer grotesken Parodie einer Umarmung. Die Kapuze des Bruders sackte herunter und sein silbernes Haar leuchtete im Dämmerlicht der Höhle auf wie ein Stern.

Auf einen Schlag wich sämtliche Luft aus Tessas Lungen. Der Bruder der Stille war Jem.

Jem.

Es schien, als hätte die Welt mit einem Ruck angehalten. Jede Gestalt, selbst die Automaten, verharrte vollkommen reglos, als sei die Zeit stehen geblieben. Tessa starrte quer durch die Höhle zu Jem hinüber und er schaute sie an. Jem, in der pergamentfarbenen Robe der Stillen Brüder. Jem, dessen wirres silbernes Haar von dunklen Strähnen durchzogen war. Jem, auf dessen Gesicht zwei identische rote Runenmale prangten, direkt über den Wangenknochen.

Jem, der nicht tot war.

Tessa erwachte schlagartig aus ihrer Starre. Sie hörte, wie Magnus ihr etwas zurief, fühlte, wie er nach ihrem Arm tastete, doch sie riss sich los und stürzte sich ins Getümmel. Der Hexenmeister brüllte ihr etwas nach, aber Tessa hatte nur noch Augen für Jem: Jem, der nach den Armen des Automaten, die ihm nun den Hals zudrückten, zu greifen und sie wegzuziehen versuchte, auf dem glatten Metall aber keinen Angriffspunkt fand. Der Automat verstärkte seinen Griff und Jems Gesicht lief dunkelrot an, während er verzweifelt nach Luft schnappte. Tessa zückte ihren Dolch und hieb auf alles ein, was sich ihr in den Weg stellte. Doch sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde, wusste, dass sie Jem nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte …

Im nächsten Moment stieß der Automat einen brüllenden Schrei aus und kippte nach vorn. Seine Beine waren von hinten durchtrennt worden, und als er vornüberstürzte, tauchte Will hinter ihm auf, ein langes Schwert in der Hand. Hastig streckte er die andere Hand aus, als wollte er ihn aufhalten und seinen Sturz abfangen. Doch der Automat war bereits krachend zu Boden gegangen und hatte Jem, dem der Stab aus der Hand gerutscht war, unter sich begraben. Reglos lag Jem da, eingeklemmt unter der massiven Maschine.

Tessa stürmte los, tauchte unter dem ausgestreckten Arm einer Klockwerk-Kreatur hindurch, hörte Magnus hinter sich etwas rufen, ignorierte ihn aber und rannte weiter. Ihre Gedanken galten nur Jem – sie musste ihn rechtzeitig erreichen, ehe er schwer verletzt oder gar erdrückt wurde. Doch als sie durch die kämpfende Menge lief, fiel von hinten ein Schatten über sie. Abrupt hielt sie inne, hob den Kopf und blickte direkt in das Gesicht eines hämisch grinsenden Automaten, der über ihr aufragte und mit krallenartigen Fingern nach ihr griff.

Die Wucht des Aufpralls und das Gewicht des Automaten auf seinem Rücken raubten Jem den Atem, als er auf dem Boden auftraf. Einen Moment lang sah er nur Sterne und schnappte keuchend nach Luft, während sein Brustkorb sich schmerzhaft zusammenzog.

Vor seiner Wandlung zum Bruder der Stille – bevor die anderen Brüder den ersten Ritualdolch an seine Haut angesetzt und die Runenmale in sein Gesicht geschnitten hatten, die den Transformationsprozess einläuteten – hätten der Sturz und die Verletzungen möglicherweise seinen Tod bedeutet. Doch nun, als die Luft in seine Lungen zurückkehrte, stellte er fest, dass er sich automatisch drehte und nach seinem Stab griff, obwohl sich die Hand der Kreatur um seine Schulter schloss …

Dann ging ein Schlag durch seinen Körper, begleitet vom Klirren von Metall auf Metall. Jem packte seinen Stab und stieß ihn nach oben, wodurch er den Kopf des Automaten zur Seite beförderte; gleichzeitig wurde dessen Rumpf von seinem Rücken gehoben und weggeschleudert. Grimmig trat er gegen das Gewicht, das seine Beine noch immer einklemmte – und dann war auch das verschwunden und Will kniete neben ihm auf dem Boden.

Sein Gesicht war kreidebleich. »Jem«, flüsterte er.

Eine Stille breitete sich um sie aus, eine Pause im Kampfgetümmel, ein unheimliches, lautloses Fenster in der Zeit. Das Gewicht unendlich vieler Dinge schwang in Wills Stimme mit: Unglaube und Verwunderung, Erleichterung und Betrug.

Jem stemmte sich gerade auf die Ellbogen, um sich aufzurichten, als Wills ölverschmiertes und eingedelltes Schwert mit einem lauten Klirren auf den Boden fiel.

»Du bist tot«, stammelte Will. »Ich habe es gespürt, als du gestorben bist.« Er legte seine Hand auf sein Herz, auf sein blutverschmiertes Hemd, unter dem sich die Parabatairune befand. »Genau hier.«

Hastig tastete Jem nach Wills Hand, nahm sie und drückte dessen Finger auf die Innenseite seines eigenen Handgelenks. Mithilfe seiner Gedanken sprach er stumm zu ihm: Fühl meinen Puls, das Rauschen des Bluts unter der Haut. Die Brüder der Stille besitzen ein Herz – und es schlägt. Fassungslos riss Will die Augen auf. »Ich bin nicht gestorben. Ich habe mich nur verändert. Wenn ich es dir hätte mitteilen können … wenn es irgendeine Möglichkeit gegeben hätte …«

Will starrte ihn an; seine Brust hob und senkte sich rasch. Der Automat hatte ihm die Wange aufgerissen und er blutete aus mehreren tiefen Wunden, aber er schien das gar nicht wahrzunehmen. Langsam zog er seine Hand zurück und ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen. »Roeddwn i’n meddwl dy fod wedi mynd am byth«, sagte er automatisch auf Walisisch. Doch Jem verstand die Worte trotzdem. Die Runen der Stillen Brüder bedeuteten, dass ihm keine Sprache mehr fremd war.

Ich dachte, du wärst für immer von mir gegangen.

»Ich bin immer noch hier«, erwiderte Jem. Plötzlich nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und wirbelte blitzschnell zur Seite. Eine Metallaxt flog durch die Luft und prallte auf den Steinboden, genau auf die Stelle, wo Jem Sekunden zuvor noch gelegen hatte. Die Automaten hatten sie umzingelt, ein Kreis aus sirrendem Metall.

Sofort war Will auf den Beinen, sein Schwert in der Hand. Und dann kämpften sie Rücken an Rücken, während Will rasch erklärte: »Gegen die Automaten hilft keine Rune; sie müssen mit brutaler Gewalt zerhackt werden …«

»Das habe ich mir schon gedacht.« Jem packte seinen Stab, wirbelte ihn durch die Luft und traf einen Automaten so fest, dass dieser gegen die Höhlenwand geschleudert wurde und Funken sprühte.

Will schwang sein Schwert und durchtrennte mit einem Hieb gleich zwei Kreaturen die Knie. »Mir gefällt dein Stock«, bemerkte er zu Jem.

»Das ist ein Stab.« Jem holte aus und stieß einen weiteren Automaten zur Seite. »Geschmiedet von den Eisernen Schwestern und nur für Stille Brüder bestimmt.«

Einen Moment lang konzentrierte Will sich auf den Kampf und trennte dem nächsten Automaten mit einem sauberen Schlag den Kopf ab. Der Metallschädel rollte über den Boden und eine Mischung aus Öl und Dampf sprühte aus dem zerklüfteten Halsstumpf. Will wandte sich wieder an Jem: »Jeder kann einen Stock anspitzen.«

»Das ist ein Stab«, wiederholte Jem und sah aus dem Augenwinkel, wie Will breit grinste. Jem hätte sein Lächeln gern erwidert – vor nicht allzu langer Zeit hätte er ganz natürlich zurückgegrinst. Doch irgendetwas an seiner Verwandlung zum Stillen Bruder erzeugte bei ihm das Gefühl, dass zwischen ihm und solch schlichten, menschlichen Gesten inzwischen Welten lagen.

Eine undurchdringliche Menge aus wogenden Körpern und wirbelnden Waffen toste durch die Höhle. Jem konnte keine einzelnen Schattenjäger ausmachen. Er war sich nur Wills Gegenwart neben ihm bewusst, der seine Geschwindigkeit ihm anglich und jeden Schwerthieb den Schlägen von Jems Stab anpasste. Und als Metall auf Metall traf, verspürte Jem tief in seinem Inneren etwas, das verloren gewesen war, ohne dass er den Verlust auch nur geahnt hätte: Er spürte die Freude am gemeinsamen Kampf mit Will, genoss sie ein letztes Mal.

»Wie du meinst, James«, sagte Will. »Wie du meinst.«

Tessa wirbelte herum, stieß den Dolch aufwärts und rammte ihm der Kreatur in den Korpus. Die Klinge bohrte sich mit einem hässlichen Knirschen in das Metall, allerdings begleitet von einem grollenden, heiseren Lachen. Tessa sank der Mut.

»Miss Gray«, sagte eine tiefe Stimme. Ein Blick in das glatte Metallgesicht bestätigte Tessas Befürchtung: Armers. »Eigentlich sollten Sie es doch besser wissen: Keine so kleine Waffe kann mich zerteilen. Außerdem besitzen Sie gar nicht die Kraft dazu.«

Bestürzt öffnete Tessa den Mund, doch Armers packte sie mit seinen Krallenfingern, riss sie hoch und presste ihr eine Hand auf den Mund, um ihren Schrei zu unterdrücken. Durch das Flirren der Kämpfenden, das Aufblitzen von Schwertern und Metall hindurch sah Tessa, wie Will den Automaten zerhackte, der auf Jem gestürzt war. Er bückte sich zu ihm hinunter, während Armers ihr gleichzeitig ins Ohr raunte: »Ich mag zwar aus Metall bestehen, aber ich habe das Herz eines Dämons – und mein Dämonenherz sehnt sich danach, sich mit Ihrem Körper zu vergnügen.« Dann schleppte er Tessa rückwärts durch das Getümmel, unempfindlich gegen ihre wütenden Stiefeltritte. Als sie keine Ruhe gab, riss er ihren Kopf zur Seite und grub ihr die scharfen Krallen tief in die Wange, bis das Blut hervorschoss.

»Du kannst mich nicht töten«, keuchte Tessa. »Der Engel an meinem Hals beschützt mich …«

»Oh ja, das stimmt. Ich kann Sie zwar nicht töten, aber ich kann Ihnen Schmerzen bereiten. Außerordentliche Schmerzen. Mir fehlt der Körper, um Lust zu empfinden – daher bleibt mir nur noch ein Vergnügen: anderen Schmerzen zuzufügen. Solange der Engel an Ihrer Kehle Sie schützt – und solange ich dem Befehl des Magisters gehorchen muss –, kann ich keine Hand an Sie legen. Aber sollte die Kraft des Engels je nachlassen, sollte seine Schutzwirkung je versagen, werde ich Sie mit meinen Metallklauen zerfetzen.«

Inzwischen befanden sie sich außerhalb des Kreises der Kämpfenden. Der Dämon trug Tessa in eine Nische, die zum Teil von einer Gesteinssäule verdeckt wurde.

»Dann tu es! Lieber sterbe ich durch deine Klauen als Mortmain zu heiraten.«

»Keine Sorge«, stieß Armers hervor. Und obwohl er ohne Atem sprach, empfand Tessa seine Worte wie ein heiseres Flüstern auf ihrer Haut, das ihr einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Kalte Metallfinger krallten sich wie Handschellen um ihre Arme, als er sie tiefer in die Schatten zog. »Ich werde dafür sorgen, dass beides geschieht.«

Cecily sah, wie ihr Bruder den Automaten zerstückelte, der Bruder Zachariah angegriffen hatte. Das Dröhnen des Metalls bei seinem Aufprall auf dem Boden schmerzte ihr in den Ohren. Dennoch wollte sie Will zu Hilfe eilen: Sie zog einen Dolch aus ihrem Waffengürtel … und taumelte vorwärts, als sich irgendetwas um ihr Fußgelenk schloss und sie aus dem Gleichgewicht brachte.

Mit Knien und Ellbogen traf sie auf dem Boden auf. Als sie sich herumwarf, sah sie, dass eine abgetrennte Automatenhand sie gepackt hatte. Schwarze Flüssigkeit pumpte aus den Schläuchen, die aus dem zerklüfteten Handgelenk herausragten, während sich die Metallfinger in ihre Kampfmontur krallten. Cecily wand sich hin und her und hackte wütend auf das Ding ein, bis die Finger sich öffneten und die Hand klirrend zu Boden fiel, wo sie wie eine verendende Krabbe noch ein paar Mal schwach zuckte.

Cecily stöhnte angewidert und rappelte sich auf, musste aber feststellen, dass sie Will und Bruder Zachariah aus den Augen verloren hatte. Ein wildes, chaotisches Gemenge tobte durch die Höhle. Schließlich entdeckte Cecily Gabriel – Rücken an Rücken mit seinem Bruder und einen Haufen toter Automaten vor ihren Füßen. Gabriels Montur war an der Schulter eingerissen und er blutete aus einer Wunde. Cyril lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Sophie stand in seiner Nähe und schwang ihr Schwert wie einen Dreschflegel; ihre Narbe leuchtete rot auf ihrer blassen Haut. Den Hexenmeister konnte Cecily zunächst nicht sehen, aber sie entdeckte eine Spur blauer Funken in der Luft, die für gewöhnlich Magnus’ Anwesenheit verrieten. Und dann fiel ihr Blick auf Bridget, die mit blitzender Waffe wie ein roter Wirbelwind zwischen den kämpfenden Körpern der Klockwerk-Kreaturen auftauchte. Und zu ihren Füßen …

Cecily machte sich daran, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Nach wenigen Metern warf sie ihren Dolch weg und griff sich eine langstielige Axt, die einer der Automaten verloren hatte. Die Axt war erstaunlich leicht und erzeugte ein befriedigendes Knirschen, als Cecily die Schneide in die Brust eines Dämons rammte, der die Klauen nach ihr ausstreckte. Der Aufprall ließ die Kreatur rückwärts taumeln und umkippen.

Im nächsten Moment sprang Cecily über einen lang gezogenen Haufen zertrümmerter Automaten, die fast alle zerstückelt waren und deren Gliedmaßen weit verstreut lagen – zweifellos die Quelle der abgetrennten Hand, die sich um ihr Fußgelenk gekrallt hatte. Am anderen Ende des Haufens stand Bridget und schlug abwechselnd nach links und nach rechts, um die Flut der Automaten zurückzudrängen, die sich auf Charlotte und Henry stürzen wollten. Bridget schenkte Cecily nur einen kurzen Blick, als diese an ihr vorbeistürmte und neben der Leiterin des Instituts auf die Knie sank.

»Charlotte«, wisperte Cecily.

Und Charlotte schaute auf. Ihr Gesicht war vor Schock kreidebleich, ihre Pupillen so geweitet, dass das Hellbraun ihrer Iris beinahe verschwunden schien. Sie hatte die Arme um Henry geschlungen, dessen Kopf haltlos gegen ihre schmächtige Schulter lehnte, und die Hände vor seiner Brust verschränkt. Sein Körper war völlig erschlafft.

»Charlotte«, sagte Cecily erneut. »Wir können diesen Kampf nicht gewinnen. Wir müssen uns zurückziehen.«

»Ich kann Henry nicht von hier fortbringen!«

»Charlotte, ihm … ihm ist nicht mehr zu helfen.«

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Charlotte wild. »Ich kann noch immer seinen Puls fühlen.«

Cecily streckte eine Hand aus. »Charlotte …«

»Ich bin nicht verrückt! Henry lebt noch! Er lebt und ich werde ihn nicht hier zurücklassen!«

»Charlotte, denk an das Baby«, drängte Cecily. »Henry hätte gewollt, dass du euch beide rettest.«

Irgendetwas flackerte in Charlottes Augen auf und sie verstärkte den Griff um ihren Mann. »Ohne Henry kommen wir nicht von hier fort«, sagte sie. »Denn wir können kein Portal erschaffen. Wir sind in diesem Berg gefangen.«

Cecily schnappte keuchend nach Luft. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Ihr Herz begann, wild zu schlagen, und pumpte eine beißende Nachricht durch ihre Adern: Wir werden hier sterben. Wir werden alle hier sterben. Warum nur hatte sie sich für dieses Leben entschieden? Mein Gott, was hatte sie getan? Sie hob den Kopf und sah aus dem Augenwinkel einen blauen und schwarzen Schatten – Will? Das Blau erinnerte sie an etwas…an Funken, die sich über Rauch erhoben … »Bridget«, wandte sie sich an die Köchin. »Hol Magnus.«

Doch Bridget schüttelte den Kopf. »Wenn ich Sie hier allein zurücklasse, sind Sie in fünf Minuten tot«, erwiderte sie. Und wie zur Unterstreichung ihrer Worte ließ sie ihre Waffe auf einen attackierenden Dämon herabsausen, als würde sie Kleinholz für den Kamin hacken. Die Kreatur zerfiel in zwei Hälften, sauber in der Mitte gespalten.

»Du verstehst das nicht«, wandte Cecily ein. »Wir brauchen Magnus …«

»Bin schon hier«, sagte eine Stimme und der Hexenmeister ragte so plötzlich und geräuschlos vor Cecily auf, dass sie einen Schrei unterdrücken musste. Blut strömte aus einer langen, aber glücklicherweise flachen Schnittwunde an seinem Hals. Offensichtlich besaß das Blut von Hexenwesen die gleiche Farbe wie das von Menschen, überlegte Cecily. Magnus’ Blick fiel auf Henry und eine schreckliche, abgrundtiefe Trauer zeichnete sich auf seinem Gesicht ab: der Ausdruck eines Mannes, der Hunderte hatte sterben sehen, der wieder und wieder Freunde verloren hatte und nun einem weiteren Verlust gegenüberstand. »Bei Gott«, sagte er leise. »Henry war ein guter Mann.«

»Nein«, protestierte Charlotte. »Ich versichere euch: Ich habe seinen Puls gespürt. Hört auf, von ihm zu reden, als wäre er bereits tot …«

Magnus sank auf die Knie und streckte die Hand aus, um Henrys Lider zu berühren. Cecily fragte sich, ob er nun »ave atque vale« sagen würde, den klassischen Abschiedsgruß für Schattenjäger. Doch stattdessen riss der Hexenmeister seine Hand zurück und musterte Henry mit zusammengekniffenen Augen. Einen Moment später drückte er seine Finger an Henrys Hals. Er murmelte etwas in einer Sprache, die Cecily nicht verstand, rutschte dann näher heran und umfasste Henrys Unterkiefer. »Langsam«, sagte er wie zu sich selbst, »sehr langsam, aber sein Herz schlägt tatsächlich.«

Charlotte schnappte gequält nach Luft. »Das hab ich doch gesagt.«

Magnus heftete seine Augen auf sie. »Stimmt. Das haben Sie in der Tat. Tut mir leid, dass ich nicht zugehört habe.« Sein Blick wanderte wieder zu Henry. »Und jetzt brauch ich einen Moment Ruhe.« Er hob eine Hand und schnippte mit den Fingern. Sofort schien sich die Luft um sie herum zu verdichten und Schlieren zu ziehen, wie altes Fensterglas. Eine massive Kuppel breitete sich über ihnen aus und umschloss Henry, Charlotte, Cecily und Magnus in einer schimmernden, transparenten Blase. Auf der anderen Seite konnte Cecily die Höhle sehen, die kämpfenden Automaten und Bridget, die mit ihrer ölverschmierten Klinge links und rechts alles niedermähte. Doch im Inneren der Blase herrschte völlige Stille.

Rasch warf Cecily dem Hexenmeister einen Blick zu. »Sie haben einen Schutzwall erschaffen.«

»Ja.« Magnus konzentrierte sich auf Henry. »Sehr gut.«

»Könnten Sie nicht einfach einen ähnlichen Wall um uns alle errichten und uns so vor Angriffen schützen?«

Magnus schüttelte den Kopf. »Magie benötigt Kraft und Energie, meine Kleine. Ich könnte einen solchen Schutzwall nur für kurze Zeit aufrechterhalten – und wenn er zusammenbräche, würden die Kreaturen über uns herfallen.« Er beugte sich vor, murmelte etwas und dann sprang ein blauer Funke von seiner Fingerspitze auf Henry über. Das hellblaue Licht schien sich in seine Haut zu graben und eine Art Feuer in Henrys Adern zu entzünden, so als hätte Magnus ein Streichholz an das Ende einer Lunte gehalten: Züngelnde Flammen rasten seinen Arm hinauf, fuhren ihm durch den Hals bis ins Gesicht. Charlotte, die Henry noch immer umklammert hielt, schnappte keuchend nach Luft, als sein Körper zusammenzuckte und er den Kopf ruckartig anhob.

Henry riss die Augen auf. Sie zeigten dasselbe blaue Feuer, das auch in seinen Adern brannte. »Ich …« Seine Stimme klang heiser. »Was ist passiert?«

Vor Erleichterung brach Charlotte in Tränen aus. »Henry! Oh, mein Liebling! Mein Henry!« Sie klammerte sich an ihn und küsste ihn fieberhaft und Henry schob seine Finger in ihre Haare und hielt sie fest. Sowohl Magnus als auch Cecily schauten verlegen beiseite.

Als Charlotte ihn endlich freigab, wobei sie ihm weiterhin übers Haar strich und leise Dinge zuflüsterte, versuchte Henry, sich aufzusetzen, sackte dann aber hilflos zurück. Sein Blick traf sich mit dem von Magnus. Der Hexenmeister schaute zu Boden, seine Lider schwer vor Erschöpfung und irgendetwas anderem – etwas, das Cecily einen Stich ins Herz versetzte.

»Henry, hast du schlimme Schmerzen?«, fragte Charlotte besorgt. »Kannst du aufstehen?«

»Die Schmerzen sind nicht so schlimm«, stellte Henry fest. »Aber ich kann nicht aufstehen. Ich spüre meine Beine überhaupt nicht mehr.«

Magnus starrte noch immer auf den Boden. »Es tut mir leid«, sagte er. »Aber manche Dinge kann auch die Magie nicht richten … manche Verletzungen lassen sich nicht heilen.«

Ein bestürzter Ausdruck breitete sich auf Charlottes Gesicht aus. »Henry …«

»Ich kann immer noch ein Portal erzeugen«, unterbrach Henry sie. Aus seinem Mundwinkel sickerte Blut, das er ungehalten mit dem Ärmel wegwischte. »Wir können diesem Labyrinth hier immer noch entkommen. Wir müssen uns sofort zurückziehen.« Er versuchte, sich zu drehen und sich umzuschauen, zuckte dann jedoch zusammen und erbleichte. »Was passiert gerade um uns herum?«

»Wir sind ihnen zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen«, erklärte Cecily. »Die anderen kämpfen alle um ihr Leben …«

»Kämpfen um ihr Leben, aber ohne Aussicht auf einen Sieg?«, hakte Henry nach.

Resigniert schüttelte Magnus den Kopf. »Wir können nicht gewinnen … nicht die geringste Chance. Es sind einfach viel zu viele.«

»Was ist mit Tessa und Will?«

»Magnus hat sie gefunden«, erklärte Cecily. »Sie sind beide hier… irgendwo hier in der Höhle.«

Henry schloss die Augen, holte ein paar Mal tief Luft und schlug die Lider wieder auf. Der blaue Schimmer in seinen Pupillen begann bereits zu verblassen. »Dann müssen wir sofort das Portal erzeugen. Aber zuerst benötigen wir die Aufmerksamkeit der anderen; sie müssen sich von den Automaten lösen können, damit wir nicht mit den Kreaturen zusammen ins Institut teleportiert werden. Diese Höllengeräte auf Londons Straßen ist das Letzte, was wir jetzt brauchen.« Henry wandte sich an Magnus: »Bitte greifen Sie einmal in meine Manteltasche.«

Als Magnus die Hand ausstreckte, sah Cecily, dass sie leicht zitterte. Offensichtlich begann die Anstrengung, die mit dem Erhalt des Schutzwalls verbunden war, ihren Tribut zu fordern. Dann zog er ein kleines goldenes Kästchen aus Henrys Manteltasche hervor, das keine sichtbare Öffnung oder Scharniere besaß.

»Cecily«, brachte Henry mühsam heraus. »Nimm es und wirf es von dir – so kräftig und so weit du nur kannst.«

Magnus reichte Cecily das Kästchen mit zitternden Fingern. Es fühlte sich warm an – allerdings konnte sie nicht sagen, ob das an einer inneren Wärmequelle lag oder nur daran, dass sich das Kästchen in Henrys Tasche befunden hatte. Sie schaute Magnus an. Sein Gesicht war vor Anstrengung ganz angespannt. »Ich werde den Schutzwall jetzt aufheben, Cecily«, sagte er. »Und dann werfen Sie das Ding!« Er hob die Hände, Funken flogen und die durchsichtige Kuppel begann erst zu schimmern und verschwand dann mit einem Schlag.

Cecily holte weit aus und schleuderte das Kästchen quer durch die Höhle.

Einen Moment lang geschah gar nichts. Doch dann erfolgte das gedämpfte Geräusch einer Implosion – ein Gurgeln und Schlürfen, als würden alle Dinge in der Höhle in einen gewaltigen Abfluss gesogen. Cecilys Trommelfelle knackten. Sie krümmte sich zusammen und presste sich die Hände auf die Ohren. Auch Magnus war auf die Knie gefallen und die kleine Gruppe drängte sich dicht zusammen, als sich ein gewaltiger Wind erhob und durch die Höhle toste.

Unter das ohrenbetäubende Heulen des Sturms mischte sich das Knirschen und Knarren von Metall, als die Klockwerk-Kreaturen zu schwanken und taumeln begannen. Cecily sah, wie Gabriel einem Automaten aus dem Weg sprang, der vornüber stürzte und unkontrolliert zuckte; seine Metallglieder schlugen wild umher, als erlitte der Automat einen Krampf. Cecilys Blick huschte weiter zu Will und dem Stillen Bruder an seiner Seite, dessen Kapuze nach hinten gerutscht war. Trotz der chaotischen Situation um Cecily herum verspürte sie einen elektrisierenden Schock: Bruder Zachariah war … Jem. Sie und die anderen Institutsbewohner hatten zwar gewusst, dass Jem zur Stadt der Stille gereist war, um ein Stiller Bruder zu werden oder bei dem Versuch zu sterben. Aber sie hätte nie gedacht, dass es ihm inzwischen gut genug ging, um hier mit ihnen zu kämpfen, Seite an Seite mit Will, so wie früher…dass er genügend Kraft dafür haben würde …

Ein lautes Krachen ertönte, als ein Klockwerk-Monster zwischen Will und Jem zu Boden stürzte und sie zwang, hektisch auseinanderzuspringen. Ein Geruch wie kurz vor einem Gewitter breitete sich in der Höhle aus.

»Henry …« Der heftige Wind wirbelte Charlotte die Haare in die Augen.

Henrys Gesicht war weiß vor Schmerz. »Das Kästchen … ist eine Art Pyxis. Um Dämonenseelen … von ihren Körpern zu trennen. Bevor sie sterben. Ich hatte keine Zeit…um es zu perfektionieren. Aber es erschien mir … einen Versuch wert.«

Magnus rappelte sich auf. Seine Stimme erhob sich über das Dröhnen von Metall und die schrillen Schreie der Dämonen. »Alle mal herhören! Kommt alle her! Sammelt euch, Schattenjäger!«

Bridget hielt ihre Position und kämpfte weiterhin gegen zwei Automaten, deren Bewegungen abgehackt und unkoordiniert geworden waren. Doch die anderen kamen sofort in ihre Richtung gelaufen: Will, Jem, Gabriel … Aber Tessa, wo war Tessa? Cecily erkannte, dass Will Tessas Abwesenheit im selben Moment bemerkte wie sie. Er drehte sich um, eine Hand auf Jems Arm, und seine blauen Augen sondierten die Höhle. Cecily konnte sehen, wie seine Lippen das Wort »Tessa« formten, doch sie hörte nichts außer dem anwachsenden Heulen und Tosen des Winds, dem Klirren und Dröhnen von Metall …

»Halt!«

Ein silberhelles Licht wie von einem grellen Blitzschlag zuckte von der Kuppel herab, explodierte auf dem Boden und sprühte wie ein Feuerrad Funken in alle Richtungen. Der Sturm legte sich schlagartig und tauchte den Raum in eine unheimliche Stille, die förmlich in den Ohren dröhnte.

Ruckartig hob Cecily den Kopf. Auf dem kreisförmigen Gang entlang der Kuppelwand stand ein Mann in einem dunklen Maßanzug, ein Mann, den sie sofort erkannte.

Mortmain.

»Halt!«

Jetzt senkte sich Totenstille über den Raum. Tessa versuchte verzweifelt, sich loszureißen, sich aus den Metallarmen zu befreien, um in die Höhle zu laufen und herauszufinden, ob jemand von ihren Freunden, von ihren Lieben, verwundet oder gar getötet worden war. Doch genauso gut hätte sie auch gegen eine Wand ankämpfen können. Trotzdem trat sie wie wild um sich, als Mortmains Stimme erneut ertönte:

»Wo ist Miss Gray? Bring sie zu mir.«

Armers stieß ein grollendes Geräusch aus und setzte sich dann in Bewegung: Er hob Tessa an und trug sie aus der Nische in die Haupthöhle.

Hier herrschte das reinste Chaos. Die Automaten standen erstarrt da, den Blick zu ihrem Gebieter erhoben. Viele lagen zusammengekrümmt oder zerstückelt auf dem Boden, der mit einer glitschigen Mischung aus Öl und Blut bedeckt war.

In der Raummitte hatten sich die Schattenjäger und ihre Gefährten zu einem Kreis zusammengedrängt: Cyril kniete mit einem notdürftigen, blutigen Verband am Bein auf dem Steinboden. Daneben befand sich Henry, halb sitzend und halb liegend in Charlottes Armen. Er war bleich, so schrecklich bleich … Tessas Blick traf sich mit Wills, als er den Kopf hob und sie entdeckte. Ein bestürzter Ausdruck zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und er wollte zu ihr stürmen, doch Jem hielt ihn am Ärmel zurück. Auch er starrte gebannt in ihre Richtung und schaute sie aus großen dunklen, entsetzten Augen an. Tessa zwang sich, den Blick von beiden abzuwenden und sich auf Mortmain zu konzentrieren.

Er stand auf dem Gang hoch über ihnen, die Hände auf das Geländer gestützt, wie ein Priester auf seiner Kanzel, und schaute grinsend hinab. »Miss Gray«, bemerkte er spöttisch. »Zu gütig von Ihnen, sich zu uns zu gesellen.«

Angewidert spuckte Tessa auf den Boden; sie schmeckte Blut, das von der Wunde auf ihrer Wange in ihren Mund gelaufen war.

Mortmain hob eine Augenbraue. »Setz sie ab«, befahl er Armers. »Aber halt sie an den Schultern fest.«

Der Dämon gehorchte mit einem leisen Lachen. Als Tessas Stiefel den Boden berührten, richtete sie sich sofort auf, hob das Kinn und funkelte Mortmain wütend an. »Es bringt Unglück, die Braut vor der Hochzeit zu sehen«, fauchte sie.

»In der Tat«, bestätigte Mortmain. »Stellt sich nur die Frage: Wem bringt es Unglück?«

Tessa vermied es, sich noch einmal umzuschauen. Der Anblick dieser gewaltigen Zahl von Automaten vor der kleinen, zusammengewürfelten Truppe von Schattenjägern war einfach zu schmerzhaft. »Die Nephilim haben sich bereits Zugang zu Ihrer Festung verschafft«, sagte sie. »Ihnen werden weitere folgen. Sie werden Ihre Automaten umzingeln und vernichten. Wenn Sie sich jetzt ergeben, können Sie Ihr eigenes Leben vielleicht noch retten.«

Mortmain warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Bravo, Madam«, rief er. »Da stehen Sie nun, im Angesicht einer vernichtenden Niederlage, und verlangen meine Kapitulation.«

»Wir sind nicht vernichtend geschlagen …«, setzte Will an.

Doch Mortmain stieß ein heiseres Knurren zwischen den Zähnen hervor, das in der ganzen Höhle zu hören war. Ruckartig drehten sämtliche Automaten die Köpfe in Wills Richtung – mit Furcht einflößendem Gleichmaß. »Kein Wort mehr, Nephilim«, zischte Mortmain. »Wenn einer von euch das nächste Mal den Mund aufmacht, hat euer letztes Stündlein geschlagen.«

»Lassen Sie sie frei«, sagte Tessa. »Das hier hat doch nichts mit ihnen zu tun. Lassen Sie sie gehen und behalten Sie mich hier.«

»Sie versuchen, mit leeren Händen zu verhandeln«, entgegnete Mortmain. »Und Sie irren sich, wenn Sie glauben, dass Ihnen weitere Schattenjäger zu Hilfe eilen werden. Genau in diesem Moment befindet sich ein nicht unbeträchtlicher Teil meiner Armee im Sitzungssaal der Nephilim und zerstückelt die verehrten Mitglieder der Kongregation.«

Tessa hörte, wie Charlotte aufkeuchte – ein kurzer, unterdrückter Laut.

»Sehr schlau von den Schattenjägern, sich alle an einem Ort zu versammeln, wo ich sie auf einen Schlag vernichten kann.«

»Bitte«, flehte Tessa. »Kämpfen Sie nicht länger gegen sie. Ihr Hass gegen die Nephilim ist gerechtfertigt. Aber wenn sie alle tot sind, wer soll aus Ihrer Vergeltung dann noch lernen? Wer wird dann noch Wiedergutmachung leisten? Wenn es niemanden mehr gibt, der aus den Fehlern der Vergangenheit lernen kann, dann gibt es auch niemanden, der die daraus gezogenen Lehren an andere vermittelt. Lassen Sie sie am Leben. Erlauben Sie ihnen, Ihre Lektion an zukünftige Generationen weiterzureichen. Die Nephilim können Ihr Vermächtnis sein.«

Mortmain nickte nachdenklich, als würde er ihre Worte sorgfältig abwägen. »Ich werde ihr Leben tatsächlich verschonen … Denn ich werde sie hierbehalten, als unsere Gefangenen. Ihre Anwesenheit hier wird Sie bei Laune halten und Sie gefügig machen.« Seine Stimme bekam einen harten Unterton: »Denn Sie lieben sie, und falls Sie jemals versuchen zu fliehen, werde ich sie alle töten.« Er schwieg einen Moment und meinte dann: »Was sagen Sie dazu, Miss Gray? Ich bin doch sehr großzügig und dafür steht mir nun entsprechender Dank zu, finden Sie nicht auch?«

Im Raum herrschte völlige Stille, bis auf das metallische Quietschen einiger Automaten und das Dröhnen des eigenen Blutes in Tessas Ohren. Sie verstand nun, was Mrs Black in der Kutsche mit ihren Worten gemeint hatte: Und je mehr Wissen Sie über die Nephilim besitzen, je mehr Sie mit ihnen fühlen, desto effektiver werden Sie als Waffe, die alle Nephilim vom Angesicht der Erde hinwegfegen wird. Tessa war zwar keine Schattenjägerin, doch dafür Teil der Schattenjägergemeinschaft geworden: Sie sorgte sich um sie und liebte sie – und Mortmain würde diese Sorge und Liebe benutzen, um sie zu erpressen. Durch die Rettung der wenigen Schattenjäger, die sie liebte, würde sie alle Nephilim ins Verderben stürzen. Und dennoch war es vollkommen undenkbar, Will und Jem, Charlotte und Henry, Cecily und die anderen zum Tode zu verurteilen.

»Ja.« Tessa hörte, wie Jem – oder Will – einen unterdrückten Laut ausstieß. »Ja, ich werde Ihr Angebot annehmen.« Sie schaute auf. »Sagen Sie dem Dämon, er soll mich loslassen. Dann komme ich zu Ihnen hinauf.«

Misstrauisch kniff Mortmain die Augen zu Schlitzen. »Nein«, widersprach er. »Armers, bring sie zu mir.«

Die Hände des Dämons verstärkten ihren Griff um Tessas Arme, bis Tessa sich vor Schmerz auf die Lippe biss. Und als würde er mit ihr leiden, zuckte der Klockwerk-Engel an ihrem Hals.

Nur wenige können Anspruch auf einen einzelnen Engel erheben, der sie beschützt. Aber du schon.

Tessa griff sich an die Kehle. Der Engel schien unter ihren Fingern zu vibrieren, als würde er atmen…als würde er ihr etwas mitteilen wollen. Ihre Hand schloss sich um ihn, woraufhin sich die Kanten seiner Schwingen in ihre Handfläche drückten. Unwillkürlich dachte Tessa an ihren Traum:

Ist dies hier deine wahre Gestalt?

Du siehst nur einen Bruchteil meines wahren Ichs. In meiner wahren Gestalt bin ich von alles vernichtender, überwältigender Pracht.

Armers Hände drückten immer fester zu.

Ihr Klockwerk-Engel trägt einen winzigen Teil der Seele eines Engels in sich, hatte Mortmain gesagt. Tessa dachte an das weiße sternförmige Mal, das der Engel auf Wills Schulter hinterlassen hatte. Sie dachte an das glatte, schöne, reglose Gesicht des Engels, die kühlen Hände, die sie gehalten hatten, als sie aus Mrs Blacks Kutsche in die dunkle Schlucht gestürzt war.

Der Dämon begann, sie hochzuheben.

Tessa konzentrierte sich auf ihren Traum.

Sie holte tief Luft. Sie wusste nicht, ob das, was sie nun versuchen würde, überhaupt möglich war oder nur schierer Wahnsinn. Als Armers sie von den Füßen hob, schloss Tessa die Augen, öffnete ihren Geist und griff in den Klockwerk-Engel hinein. Einen Moment lang taumelte sie durch einen dunklen Raum, gefolgt von einem grauen Niemandsland, immer auf der Suche nach jenem Licht, jenem Funken der Seele, jenem Leben

Und dann sah sie es endlich: ein plötzliches Aufflammen, ein Freudenfeuer, strahlender als jeder Funke, den sie je gesehen hatte. Sie tastete danach und wickelte das Licht um sich, lodernde Flammen eines weiß glühenden Feuers, das ihre Haut versengte und verkohlte. Tessa schrie laut auf …

Und verwandelte sich.

Grelles Feuer raste durch ihre Adern. Sie schoss in die Höhe; ihre Kampfmontur riss auf, die Nähte platzten und die Stofffetzen fielen von ihr herab. Licht strahlte von ihr in alle Richtungen. Sie war Feuer. Sie war eine leuchtende Sternschnuppe. Armers Arme wurden von ihr fortgerissen – lautlos zerschmolz er und löste sich vollständig auf, verbrannt vom Himmlischen Feuer, das durch Tessas ganzen Körper toste.

Sie flog … flog hoch hinauf. Nein, sie gewann an Größe, sie wuchs. Ihre Knochen dehnten und streckten sich wie ein inneres Gitterwerk, das immer weiter und höher aufragte. Ihre Haut hatte eine goldene Tönung angenommen und spannte sich bis zum Zerreißen, während sie in die Höhe schoss wie die Bohnenranke aus dem alten Märchen. Und an den Stellen, an denen ihre Haut aufriss, sickerte goldenes Engelssekret aus den Wunden. Locken wie weiß glühende Metallspäne wuchsen aus ihrem Kopf und umrahmten ihr Gesicht. Und aus ihrem Rücken brachen zwei gewaltige Schwingen hervor – größer als jeder Vogelflügel dieser Welt.

Sie hatte angenommen, dass die Verwandlung sie eigentlich mit Schrecken erfüllen müsste. Und als sie an sich herabblickte, sah sie die Schattenjäger, die sprachlos zu ihr hinaufstarrten. Die gesamte Höhle war durchflutet von gleißendem Licht, Licht, das aus ihr herausbrach. Sie hatte sich in Ithuriel verwandelt. Das Himmlische Feuer der Engel strahlte durch sie hindurch, versengte ihre Knochen, brannte in ihren Augen. Aber sie spürte nichts außer einer eisernen Ruhe.

Inzwischen war sie auf sechs Meter Größe angewachsen und befand sich Auge in Auge mit Mortmain, der starr vor Entsetzen dastand, die Hände um das Geländer geklammert. Der Klockwerk-Engel war schließlich sein Geschenk an ihre Mutter gewesen. Vermutlich hatte er im Leben nicht damit gerechnet, dass der Engel jemals auf diese Weise gegen ihn gewendet werden würde.

»Das ist nicht möglich«, stieß er heiser hervor. »Nicht möglich …«

Du hast einen Engel des Himmels eingeschlossen, sagte Tessa, allerdings nicht mit ihrer eigenen Stimme – Ithuriel sprach durch sie. Seine Stimme hallte durch ihren Körper wie das Dröhnen eines Gongs. Einen kurzen Moment fragte sie sich, ob ihr Herz wohl noch schlug – besaßen Engel ein Herz? Würde diese Verwandlung ihr den Tod bringen? Falls ja, dann war es das auf jeden Fall wert gewesen. Du hast versucht, Leben zu erschaffen. Leben ist das Vorrecht des Himmels. Und der Himmel duldet keine unrechtmäßigen Eindringlinge.

Mortmain wirbelte herum, um zu fliehen. Doch er war langsam … langsam wie alle Menschen. Tessa streckte die Hand – Ithuriels Hand – aus, schloss sie um ihn, als er wegzulaufen versuchte, und hob ihn hoch. Mortmain schrie gellend auf, da die Hand des Engels ihn versengte. Lichterloh brennend wand er sich hin und her, während Tessa ihren Griff um ihn verstärkte und seinen Körper zu einem Brei aus scharlachrotem Blut und weißen Knochen zermalmte.

Sie öffnete die Finger. Mortmains zerquetschter Körper stürzte in die Tiefe, zwischen seine eigenen Automaten. Ein Schaudern ging durch die Kreaturen, dann folgte ein ohrenbetäubendes Knirschen von Metall, als ob ein riesiges Bauwerk einstürzen würde… und im nächsten Moment begannen die Automaten umzukippen. Einer nach dem anderen fiel zu Boden, reglos ohne ihren Gebieter, der ihnen Leben eingehaucht hatte. Ein Garten metallener Blüten, die der Reihe nach verwelkten und starben, während die Schattenjäger inmitten der Automaten standen und sich verwundert umschauten.

Und dann erkannte Tessa, dass sie noch immer ein Herz besaß, denn es machte vor Freude einen Satz, sie alle lebend und unversehrt vor sich zu sehen. Doch als sie ihnen ihre goldenen Hände entgegenstreckte – eine nun mit scharlachroten Flecken bedeckt, wo Mortmains Blut sich mit Ithuriels goldenem Engelssekret vermischt hatte –, wichen die Nephilim demütig vor dem blendenden Licht zurück. Nein, nein, wollte Tessa ihnen zurufen, ich würde euch niemals wehtun. Doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen – sie konnte nicht mehr sprechen, die Verbrennungen waren zu groß. Verzweifelt versuchte sie, wieder zu sich zurückzufinden, sich wieder in Tessa zurückzuverwandeln, aber sie irrte in der sengenden Hitze des Feuers hilflos umher, als wäre sie in das Zentrum einer gewaltigen Sonne gefallen. Gleißend helle Flammen explodierten um sie herum und sie spürte, wie sie den Halt verlor und der Klockwerk-Engel wie eine rot glühende Schlinge an ihrer Kehle brannte. Bitte, dachte sie, doch dann war um sie herum nur noch Feuer und Flammen und Schmerz – und sie stürzte bewusstlos in die Tiefen des Lichts.