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DIE KLOCKWERK-PRINZESSIN

Oh Lieb, die erhärtest
Wie zart sich hier alles gehab, –
Was korest Du das Zärtest
Dir zur Wiege, zum Nest und zum Grab?

PERCY BYSSHE SHELLEY, »WENN DIE LAMPE VERGOSSEN«

Adressat: Konsul Josiah Wayland
Absender: Charlotte Branwell

Verehrter Konsul Wayland,

in ebendiesem Moment habe ich Informationen von höchster Dringlichkeit erhalten, die ich Ihnen schnellstmöglich zukommen lasse. Ein Informant, dessen Namen ich zu diesem Zeitpunkt nicht preisgeben kann, für dessen Zuverlässigkeit ich mich jedoch verbürge, hat mir Details eröffnet, die den Schluss nahelegen, dass Miss Gray keineswegs eine von Mortmains vorübergehenden Grillen ist, sondern der Schlüssel zu seinem Hauptziel: die endgültige Vernichtung aller Nephilim.

Mortmain arbeitet an der Konstruktion von Geräten mit größerer Macht, als wir je gesehen haben. Und ich befürchte, dass Miss Grays einzigartige Fähigkeiten ihm bei diesem Experiment helfen werden. Obwohl sie uns nie absichtlich Schaden zufügen würde, wissen wir nicht, welchen Drohungen oder Demütigungen Mortmain sie aussetzen wird. Sofortiges Handeln ist dringend geboten: Miss Gray muss umgehend befreit werden – nicht nur um ihretwillen, sondern um unser aller willen.

Im Hinblick auf diese neuen Informationen ersuche ich Sie ein weiteres Mal, sämtliche zur Verfügung stehenden Truppen zusammenzuziehen und sofort nach Cadair Idris zu schicken.

Ihre zutiefst besorgte
Charlotte Branwell

Tessa erwachte nur langsam, als würde ihr Bewusstsein am Ende eines langen dunklen Tunnels warten, durch den sie sich im Schneckentempo und mit ausgestreckter Hand bewegte. Endlich erreichte sie den Ausgang, drückte die Tür auf und schaute …

… in ein blendendes Licht, mit einem goldenen Schimmer, wenn auch nicht so hell und weiß wie das von Elbenlichtfackeln. Tessa setzte sich auf und sah sich um.

Sie saß in einem schlichten Messingbett, mit einem dicken Unterbett über einer doppelten Matratze. Irgendjemand hatte sie mit einer weichen Daunendecke zugedeckt. Der Raum machte den Eindruck, als hätte man ihn aus einer Höhle gemeißelt. In einer Ecke standen eine hohe Kommode mit einem Waschtisch und einer blauen Kanne sowie ein Kleiderschrank, durch dessen leicht geöffnete Tür Tessa eine Reihe von Kleidungsstücken erkennen konnte. Der Raum hatte keine Fenster, doch dafür einen offenen Kamin, in dem ein warmes Feuer knisterte. Über dem Sims hingen mehrere Familienporträts.

Tessa ließ sich aus dem Bett gleiten und zuckte zusammen, als ihre nackten Füße den kalten Steinboden berührten. Allerdings bereitete ihr das Aufstehen weniger Schmerzen als erwartet, wenn man bedachte, wie zerschlagen ihr Körper war. Ein rascher Blick an sich herab versetzte ihr jedoch einen doppelten Schock: Zum einen trug sie nichts außer einem voluminösen Morgenmantel aus schwarzer Seide. Zum anderen schienen ihre Verletzungen und Blutergüsse größtenteils verheilt zu sein. Tessa fühlte sich zwar immer noch etwas wund, aber ihre Haut war wieder makellos und leuchtete ihr blass unter der schwarzen Seide entgegen. Als sie ihr Haar berührte, stellte sie fest, dass es nicht länger mit Blut und Schlamm verfilzt, sondern sauber war und ihr locker um die Schultern fiel.

Das warf die Frage auf, wer sie gewaschen, verarztet und in dieses Bett gebracht hatte. Tessas Erinnerung reichte nur bis zu dem Moment, in dem sie sich gegen die Automaten in dem kleinen Farmhaus zu wehren versucht und Mrs Black höhnisch gelacht hatte. Irgendwann hatte sie das Bewusstsein verloren und war in eine gnädige Dunkelheit versunken. Aber die Vorstellung, dass Mrs Black sie entkleidet und gebadet hatte, war grauenvoll – wenn auch etwas weniger schrecklich als der Gedanke, Mortmain könnte diese Aufgabe persönlich übernommen haben.

Das meiste Mobiliar im Raum stand entlang einer der Wände der Höhle; die andere Seite hatte man größtenteils frei gelassen. Aber Tessa konnte an der hinteren Wand den Schatten eines dunklen Türrahmens erkennen. Nach einem kurzen Blick durch den Raum machte sie sich auf in Richtung Tür …

Nur um in der Raummitte plötzlich und brutal aufgehalten zu werden. Sie taumelte einen Schritt zurück und zog den Morgenmantel fester um sich; ihre Stirn schmerzte an der Stelle, an der sie gegen irgendetwas geprallt war. Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und ertastete den leeren Raum vor ihr.

Und dann spürte sie einen soliden Widerstand unter ihren Fingerspitzen – als stünde eine perfekt durchsichtige Glaswand zwischen ihr und der anderen Seite der Höhle. Tessa presste ihre Hände dagegen. Das Hindernis mochte zwar unsichtbar sein, aber es fühlte sich hart und glatt an, wie ein Diamant. Tastend bewegte Tessa ihre Hände in Richtung Höhlendecke; sie fragte sich, wie hoch diese Wand wohl reichen mochte …

»Sparen Sie sich die Mühe«, sagte in dem Moment eine kalte, vertraute Stimme an der Tür. »Diese Konfiguration erstreckt sich durch die gesamte Höhle, von Wand zu Wand und von der Decke bis zum Boden. Sie sind dahinter vollständig eingesperrt.«

Tessa, die sich weit hinaufgereckt hatte, sank wieder auf ihre Füße und trat einen Schritt zurück.

Mortmain.

Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung gehabt hatte: ein kleiner, drahtiger Mann mit einem wettergegerbten Gesicht und ordentlich gestutzten Koteletten. Erstaunlich gewöhnlich, bis auf die Augen, die so kalt und grau waren wie ein Winterschneesturm. Er trug einen taubengrauen, nicht allzu förmlichen Anzug, als wäre er ein Gentleman, der den Nachmittag in seinem Club verbringt. Seine auf Hochglanz polierten Schuhe schimmerten im Feuerschein.

Tessa schwieg und zog lediglich ihren schwarzen Morgenmantel fester um sich. Das Seidengewand war voluminös und bedeckte ihren gesamten Körper, aber ohne ihre Unterkleidung aus Hemd, Korsett, Strümpfen und Turnüre fühlte sie sich irgendwie nackt und ungeschützt.

»Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen«, fuhr Mortmain fort. »Sie können die Wand zwar nicht durchdringen, aber das Gleiche gilt auch für mich. Ich kann Sie nicht erreichen, ohne zuvor die Beschwörungsformel aufzuheben – und das erfordert Zeit.« Er schwieg einen Moment und meinte dann: »Ich wollte, dass Sie sich hier sicher fühlen.«

»Wenn Sie an meiner Sicherheit interessiert wären, hätten Sie mich nicht aus dem Institut entführt«, konterte Tessa eisig.

Darauf erwiderte Mortmain nichts. Schließlich neigte er den Kopf etwas zur Seite und betrachtete sie mit leicht zusammengekniffenen Augen, wie ein Seemann, der den Horizont absucht. »Mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihres Bruders. Das war nie meine Absicht gewesen.«

Tessa spürte, wie sich ihr Mund zu einer Grimasse verzog. Es waren zwei Monate vergangen, seit Nate in ihren Armen gestorben war, aber sie hatte weder vergessen noch vergeben. »Ich will Ihr Mitleid nicht und auch nicht Ihre Beileidsbezeugungen. Sie haben Nate benutzt, ihn zu Ihrem Werkzeug gemacht und dann ist er gestorben. Das ist Ihre Schuld – so als hätten Sie ihn auf offener Straße erschossen.«

»Vermutlich hat es wenig Zweck, darauf hinzuweisen, dass er mich aufgesucht hat.«

»Nate war doch nur ein Junge«, erwiderte Tessa. Am liebsten wäre sie auf die Knie gesunken und hätte mit den Fäusten gegen das unsichtbare Hindernis getrommelt. Doch sie hielt sich kerzengerade und fügte eisig hinzu: »Er war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt.«

Mortmain schob die Hände in die Taschen. »Wissen Sie, wie es für mich gewesen ist … als ich noch ein Junge war?«, fragte er in ruhigem Ton, als säße er bei einer Dinnerparty an ihrer Seite und würde höflich Konversation machen.

Tessa dachte an die Bilder, die sie in Aloysius Starkweathers Verstand gesehen hatte:

Der Mann war groß, breitschultrig – und grünhäutig wie eine Echse. Seine Haare schimmerten tiefschwarz. Dagegen wirkte das Kind, das er an der Hand hielt, vollkommen normal – klein, mit winzigen Pummelhändchen und rosiger Haut.

Tessa wusste den Namen des Mannes, weil Starkweather ihn kannte.

John Shade.

Shade hievte sich das Kind auf die Schultern, als eine Reihe merkwürdig aussehender Metallkreaturen durch die Haustür ins Freie drängte. Die gesichtslosen Gestalten erinnerten an Gliederpuppen, allerdings lebensgroß und aus glänzendem Metall gefertigt. Seltsamerweise waren sie bekleidet – manche trugen den groben Overall der Landarbeiter, andere ein schlichtes Musselinkleid. Die Klockwerk-Automaten reichten einander die Hände und begannen, sich im Kreis zu drehen, wie bei einem Volkstanz. Das Kind lachte und klatschte in die Händchen.

»Sieh sie dir genau an, mein Sohn«, sagte der grünhäutige Mann, »eines Tages werde ich ein Königreich dieser Klockwerk-Kreaturen regieren und du wirst sein Prinz sein.«

»Ich weiß, dass Ihre Adoptiveltern Hexenwesen waren«, sagte Tessa. »Ich weiß, dass sie Sie geliebt haben. Und ich weiß, dass Ihr Vater diese Klockwerk-Kreaturen erfunden hat, von denen Sie so fasziniert sind.«

»Dann wissen Sie ja auch, was mit ihnen geschehen ist.«

Ein verwüstetes Zimmer, überall zerbrochene Zahnräder, Riemen, Getriebe und Metallteile, eine langsam sickernde Flüssigkeit, so schwarz wie Blut, und dann der grünhäutige Mann und die blauhaarige Frau … tot inmitten der Trümmer …

Tessa wandte den Blick ab.

»Lassen Sie mich Ihnen ein wenig von meiner Kindheit erzählen«, sagte Mortmain. »Meine Adoptiveltern, wie Sie sie nennen, waren mir bessere Eltern, als alle Blutsverwandte es jemals hätten sein können. Sie haben mich mit großer Fürsorge und Liebe aufgezogen, genau wie Ihre Eltern Sie.« Mortmain deutete auf den Kamin.

Mit einem Schock erkannte Tessa, dass es sich bei den Porträts, die über dem Sims hingen, um Bildnisse ihrer Eltern handelte: ihre hellhaarige Mutter und ihr nachdenklich wirkender Vater, mit den braunen Augen und der schiefen Krawatte.

»Und dann wurden meine Eltern von Schattenjägern getötet«, fuhr Mortmain fort. »Mein Vater wollte diese wundervollen Automaten erschaffen, diese Klockwerk-Kreaturen, wie Sie sie nennen. Er träumte davon, die großartigsten Maschinen zu erfinden, die die Welt je gesehen hatte, damit sie die Schattenweltler vor den Nephilim beschützten, welche regelmäßig raubend und mordend über sie herfielen. Sie haben die Trophäen in Starkweathers Institut ja selbst gesehen.« Verbittert fügte er hinzu: »Damit haben Sie etwas von meinen Eltern zu Gesicht bekommen. Starkweather hat das Blut meiner Mutter in einem Gefäß aufbewahrt.«

Eine andere Vitrine enthielt die Überreste von Hexenwesen. Mumifizierte krallenbewehrte Hände, wie die von Mrs Black. Ein skalpierter Kopf, der wie ein menschlicher Totenschädel aussah, aber statt normalen Eckzähnen riesige Hauer besaß. Eine Reihe weiter standen Phiolen mit trübem Blut.

Tessa musste schlucken. Das Blut meiner Mutter in einem Gefäß. Sie konnte nicht behaupten, dass sie seinen Zorn nicht verstand. Und dennoch … sie musste an Jem denken, dessen Eltern man vor seinen Augen ermordet hatte und dessen eigenes Leben zerstört war. Trotzdem hatte er nie Rache geschworen. »Ja, das ist wahrhaftig schrecklich«, räumte Tessa ein, »aber noch lange keine Entschuldigung für das, was Sie getan haben.«

Tief in Mortmains Augen flackerte etwas auf: Wut, die er allerdings schnell wieder zügelte. »Ich will Ihnen erzählen, was ich getan habe«, erwiderte er. »Ich habe eine Armee erschaffen. Eine Armee, die – sobald das letzte Teil des Puzzles an seinem Platz liegt – unbesiegbar sein wird.«

»Und das letzte Teil des Puzzles …«

»Sind Sie«, verkündete Mortmain.

»Das behaupten Sie schon die ganze Zeit, weigern sich aber, es genauer zu erklären«, entgegnete Tessa. »Sie verlangen meine Kooperation, wollen mir aber nichts erzählen. Sie mögen mich hier zwar eingesperrt haben, Sir, aber Sie können mich nicht zum Gespräch oder gar zur Zusammenarbeit zwingen …«

»Sie sind zu gleichen Teilen Nephilim und Dämon«, sagte Mortmain unvermittelt. »Das ist das Erste, was Sie wissen sollten.«

Tessa, die sich bereits halb von ihm abgewandt hatte, hielt abrupt inne. »Das ist nicht möglich. Der Nachwuchs von Dämonen und Nephilim kommt tot zur Welt.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Mortmain. »Das stimmt in der Tat. Das Blut der Nephilim, die Runen auf dem Körper der Schwangeren, sind für das Lilithkind im Mutterleib tödlich. Aber Ihre Mutter war nicht mit Runenmalen versehen.«

»Meine Mutter war keine Schattenjägerin!«, erwiderte Tessa und warf einen hektischen Blick auf das Porträt von Elizabeth Gray über dem Kamin. »Oder wollen Sie etwa behaupten, sie hätte meinen Vater angelogen, hätte ihr ganzes Leben lang allen etwas vorgemacht …«

»Sie hat es nicht gewusst«, sagte Mortmain. »Und die Schattenjäger haben nichts von ihr gewusst. Es gab niemanden, der es ihr hätte erzählen können. Mein Vater hat übrigens Ihren Klockwerk-Engel konstruiert; er war als Geschenk für meine Mutter gedacht. Der Anhänger trägt einen winzigen Teil der Seele eines Engels in sich, eine große Seltenheit … etwas, das er seit den Kreuzzügen immer bei sich getragen hatte. Der Mechanismus sollte auf meine Mutter eingestellt werden, damit der Engel jedes Mal, wenn sie in Lebensgefahr schwebte, eingreifen und sie beschützen würde. Aber mein Vater hatte keine Gelegenheit mehr, sein Werk zu vollenden, denn er wurde kaltblütig ermordet.« Mortmain begann, unruhig auf und ab zu laufen. »Natürlich waren meine Eltern nicht die einzigen Mordopfer. Starkweather und seinesgleichen hatten ihren Spaß daran, Schattenweltler niederzumetzeln; die sogenannte Kriegsbeute hat ihnen großen Reichtum beschert. Sie nahmen selbst den geringsten Grund für brutale Überfälle zum Anlass. Und dafür wurde Starkweather von der gesamten Schattenwelt gehasst. Die Feenwesen haben mir damals zur Flucht verholfen und mich bei ihnen versteckt, bis die Schattenjäger die Suche nach mir einstellten.« Gequält holte er Luft. »Jahre später, als sie beschlossen, Rache zu nehmen, habe ich ihnen wiederum geholfen. Die Nephiliminstitute sind gegen den unerwünschten Zutritt von Schattenwesen geschützt, aber nicht gegen Irdische und natürlich nicht gegen Automaten.« Mortmain lächelte sardonisch. »Ich war derjenige, der sich mithilfe einer der Erfindungen meines Vaters Zutritt zum Yorker Institut verschaffte und das Baby in der Krippe gegen ein Kind irdischer Abstammung austauschte. Starkweathers Enkelin, Adele.«

»Adele«, wisperte Tessa. »Ich hab ein Bild von ihr gesehen.«

Ein sehr junges Mädchen in einem altmodischen Kinderkleidchen, mit langen blonden Haaren und einer gewaltigen Schleife auf dem kleinen Kopf. Das schmale Gesicht des Mädchens wirkte blass und kränklich, aber ihre Augen strahlten hell.

»Sie starb, als man sie mit den Ersten Runen versehen wollte«, erzählte Mortmain genüsslich. »Sie starb laut schreiend und qualvoll – so wie viele Schattenweltler vor ihr durch die Hand der Nephilim. Jetzt hatten sie ein Wesen getötet, das sie liebten. Eine passende Strafe.«

Entsetzt starrte Tessa Mortmain an. Wie konnte er nur glauben, dass der qualvolle Tod eines unschuldigen Kindes eine passende Strafe darstellte? Erneut musste sie an Jem denken, an seine sanften Hände auf der Geige.

»Elizabeth, Ihre Mutter, wuchs unter Irdischen auf, ohne von ihrer Schattenjägerherkunft auch nur zu ahnen. Deshalb erhielt sie auch keinerlei Runenmale. Selbstverständlich habe ich ihre Entwicklung aus der Ferne genau verfolgt, und als sie Richard Gray geheiratet hat, habe ich dafür gesorgt, dass er eine Stelle in meinem Unternehmen bekam. Ich war fest davon überzeugt, dass Ihre Mutter aufgrund der fehlenden Runenmale ein Kind empfangen und gebären konnte, welches halb Dämon, halb Nephilim war. Um diese Theorie zu überprüfen, habe ich einen Dämon in Gestalt ihres Mannes zu ihr geschickt. Sie hat den Unterschied überhaupt nicht gemerkt.«

Nur die Tatsache, dass Tessa einen leeren Magen hatte, verhinderte, dass sie sich übergeben musste. »Sie…haben was getan? Einen Dämon zu meiner Mutter geschickt? Ich bin eine Halb-Dämonin?«

»Er war ein Dämonenfürst, falls Sie das tröstet. Und von denen sind die meisten ja gefallene Engel. Ihr Erzeuger war auf seine Weise durchaus attraktiv.« Mortmain grinste. »Bevor Ihre Mutter schwanger wurde, hatte ich jahrelang an dem Klockwerk-Engel meines Vaters gearbeitet und sein Werk schließlich vollendet. Und nach Ihrer erfolgreichen Empfängnis habe ich den Engel auf Ihr Leben abgestimmt. Meine größte Erfindung.«

»Aber warum sollte meine Mutter bereit gewesen sein, den Anhänger zu tragen?«

»Um Sie zu retten«, erläuterte Mortmain. »Ihre Mutter hat in der Schwangerschaft gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein Lilithkind unter dem Herzen zu tragen, ist etwas anderes, als ein menschliches Kind zu erwarten. Und genau zu dem Zeitpunkt bin ich zu ihr gegangen und habe ihr den Klockwerk-Engel gegeben. Ich habe ihr erklärt, dass sie durch das Tragen des Anhängers das Leben ihres ungeborenen Kindes schützen könne. Und sie hat mir geglaubt. Schließlich habe ich ja nicht gelogen. Sie, junge Dame, sind zwar unsterblich, aber nicht unverwundbar. Auch Sie können getötet werden. Der Engel ist auf Ihr Leben abgestimmt; er wurde dafür geschaffen, Sie zu retten, wenn Sie in Lebensgefahr schweben. Vermutlich hat er Sie schon vor Ihrer Geburt hunderte Male vor dem Tod bewahrt – und Ihnen auch danach bereits mehrfach das Leben gerettet. Denken Sie einmal an die vielen Situationen, in denen Sie dem Tode nahe waren! Erinnern Sie sich daran, wie er Ihnen geholfen hat!«

Tessa rief sich diese Momente ins Gedächtnis zurück: Ihr Engel hatte den Automaten attackiert, der ihr die Luft abgeschnürt und sie fast erdrückt hatte; der Engel hatte die vielgliedrige Metallklaue der Kreatur abgewehrt, die sie in der Nähe von Ravenscar Manor angegriffen hatte; und er hatte ihren lebensgefährlichen Sturz in die Schlucht abgefangen. »Aber er hat mich weder vor Folterungen noch vor Verletzungen bewahrt.«

»Nein. Denn diese sind Teil des menschlichen Lebens.«

»Genau wie der Tod«, erwiderte Tessa. »Ich bin kein Mensch und dennoch haben Sie zugelassen, dass die Dunklen Schwestern mich folterten. Das werde ich Ihnen nie verzeihen. Selbst wenn Sie mich davon überzeugen würden, dass der Tod meines Bruders selbstverschuldet, dass Thomas’ Tod gerechtfertigt, dass Ihr Hass angemessen war – aber das könnte ich Ihnen niemals verzeihen.«

Mortmain hob die Kiste zu seinen Füßen an und drehte sie auf den Kopf. Mit lautem Klirren und Rasseln fiel der Inhalt auf den Boden: Zahnräder, Nockenscheiben und Getriebe, abgetrennte, mit schwarzer Flüssigkeit beschmierte Messingteile und schließlich etwas, das wie ein roter Gummiball auf dem Metallhaufen landete und hochhüpfte: ein abgetrennter Schädel.

Mrs Blacks Kopf.

»Ich habe sie vernichtet«, sagte Mortmain. »Für Sie. Ich wollte Ihnen beweisen, dass es mir ernst ist, Miss Gray.«

»Ernst? Womit?«, fragte Tessa fordernd. »Warum haben Sie all das getan? Wozu haben Sie mich erschaffen?«

Seine Lippen zuckten, brachten aber kein richtiges Lächeln zustande. »Aus zwei Gründen. Zunächst einmal, damit Sie Kinder gebären können.«

»Aber Hexenwesen können keine …«

»Nein, das können sie in der Tat nicht«, sagte Mortmain. »Aber Sie sind kein normales Hexenwesen. In Ihnen haben sich das Dämonenblut und das Engelsblut eine himmlische Schlacht geliefert und die Engel haben gesiegt. Sie sind keine Schattenjägerin, aber Sie sind auch kein Hexenwesen. Sie sind etwas Neues, vollkommen anderes.« Er hielt einen Moment inne und fuhr dann verächtlich fort: »Schattenjäger … Alle Mischlinge aus Schattenjägern und Dämonen sterben – und darauf sind die Nephilim sehr stolz. Sie sind froh, dass ihr Blut nicht verseucht wird, ihr Geschlecht nie von Magie befleckt. Aber Sie…Sie können Magie betreiben. Sie können wie jede andere Frau Kinder bekommen. Nicht in den nächsten Jahren, aber sobald Sie Ihre vollständige Reife erlangt haben. Das haben mir die größten Hexenmeister unserer Zeit versichert. Gemeinsam werden wir eine neue Rasse erschaffen, mit der Schönheit der Schattenjäger, aber ohne Lilithmal. Es wird eine Rasse sein, die die Arroganz der Schattenjäger brechen und sie letztendlich auf dieser Erde ersetzen wird.«

Tessa versagten die Beine. Sie sackte auf dem Boden zusammen, umgeben von ihrem Morgenmantel, der sich wie eine schwarze Wasserlache um sie herum ausbreitete. »Sie … Sie wollen mich dazu benutzen, Ihre Kinder zu gebären?«

Nun grinste Mortmain breit. »Ich bin kein unehrenhafter Mann«, sagte er. »Ich biete Ihnen die Ehe an. Etwas anderes war nie meine Absicht.« Mit einer Hand deutete er auf den armseligen Haufen aus zerklüftetem Metall und grauen Gewebefetzen, der einst Mrs Black gewesen war. »Ich würde es vorziehen, wenn Sie aus freien Stücken einwilligen. Und ich kann Ihnen versprechen, dass ich mit all Ihren Feinden gleichermaßen verfahren werde.«

Meine Feinde. Tessa dachte an Nate, seine blutige Hand, die sich um ihre geschlossen hatte, als er auf ihrem Schoß gestorben war. Sie dachte wieder an Jem und daran, dass er nie mit seinem Schicksal gehadert, sondern sich ihm tapfer gestellt hatte; sie dachte an Charlotte, die Jessamines Tod beweint hatte, obwohl Jessie sie hintergangen hatte; und sie dachte an Will, der ihr sein Herz zu Füßen gelegt hatte, damit sie und Jem darauf zum Altar schreiten konnten – weil er sie beide mehr liebte als sich selbst. Es gab so viel Güte in dieser Welt, dachte sie – zwar verwoben mit Sehnsüchten und Träumen, mit Reue und Bitterkeit, mit Groll und Machtkämpfen, aber dennoch nicht zu übersehen. Nur Mortmain würde das niemals erkennen.

»Sie werden es nie verstehen«, sagte Tessa. »Sie behaupten, dass Sie Dinge erschaffen, Dinge erfinden, aber ich kenne einen Erfinder – Henry Branwell – und Sie sind in nichts mit ihm zu vergleichen. Er erweckt Dinge zum Leben, Sie dagegen zerstören einfach nur. Und nun präsentieren Sie mir einen toten Dämon, als handelte es sich um einen Strauß Blumen statt um einen weiteren Toten. Sie haben keinerlei Gefühle, Mr Mortmain, keinerlei Einfühlungsvermögen. Wenn ich es nicht schon vorher gewusst hätte, wäre es spätestens dann überdeutlich geworden, als Sie versucht haben, James Carstairs’ Krankheit dazu zu benutzen, mich hierher zu zwingen. Obwohl er Ihretwegen im Sterben liegt, wollte er mir nicht erlauben, zu Ihnen zu gehen – wollte Ihr Yin Fen nicht annehmen. So verhalten sich gute Menschen.«

Tessa sah den Ausdruck auf Mortmains Gesicht: Enttäuschung, allerdings rasch ersetzt durch eine gerissene Miene. »So, er wollte es Ihnen also nicht erlauben?«, hakte er nach. »Dann habe ich mich in Ihnen doch nicht getäuscht: Sie hätten es tatsächlich getan, Sie wären hergekommen, zu mir, aus Liebe.«

»Nicht aus Liebe zu Ihnen.«

»Nein«, sagte er nachdenklich, »nicht aus Liebe zu mir.« Dann holte er einen Gegenstand aus der Tasche, den Tessa sofort wiedererkannte.

Angewidert starrte sie auf die entgegenstreckte Taschenuhr, die an ihrer goldenen Kette hin und her baumelte. Die Uhr war eindeutig nicht aufgezogen – die Zeiger hatten schon lange aufgehört, sich zu drehen, und die Zeit schien um Mitternacht stehen geblieben zu sein. Auf der Rückseite des Uhrgehäuses waren die Initialen J.T. S. in einer eleganten Schrift eingraviert.

»Ich sagte ja bereits, dass ich Sie aus zweierlei Gründen erschaffen habe«, fuhr Mortmain fort. »Und das hier ist der zweite Grund. Obwohl es auf der Welt jede Menge Gestaltwandler gibt – Dämonen und Magier, die die äußere Erscheinung anderer Personen annehmen können –, sind Sie die einzige, die sich wahrhaftig in die andere Person verwandeln kann. Diese Uhr hat einst meinem Vater gehört. John Thaddeus Shade. Ich bitte Sie, die Uhr zu nehmen und sich in meinen Vater zu verwandeln, damit ich ein letztes Mal mit ihm sprechen kann. Wenn Sie das tun, werde ich meine gesamten Yin-Fen-Vorräte, und das sind nicht unbeträchtliche Mengen, zum Institut schicken. Für James Carstairs.«

»Er würde das Mittel nicht nehmen«, erwiderte Tessa sofort.

»Aber warum nicht?« Mortmains Ton klang ruhig und vernünftig. »Schließlich sind Sie nicht länger mit dem Erhalt der Droge verknüpft. Es handelt sich um ein Geschenk, eine freiwillige Gabe. Es wäre töricht, es wegzuwerfen, und würde auch gar nichts bringen. Wohingegen Sie mit diesem kleinen Gefallen gewiss sein Leben retten könnten. Was sagen Sie dazu, Tessa Gray?«

Will. Will, wach auf.

Tessas Stimme, unverkennbar … Sie riss Will aus seinem Dämmerzustand. Ruckartig setzte er sich im Sattel auf, klammerte sich an Balios’ Mähne, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und schaute sich verschlafen um.

Grün, Grau, Blau … die Farben der walisischen Landschaft umgaben ihn. Im Morgengrauen hatte er die Grenze zwischen England und Wales überschritten und kurz darauf Welshpool hinter sich gelassen. Will konnte sich kaum an diesen Teil der Reise erinnern, nur an eine endlose Reihe ständig wechselnder Ortschaften: Norton, Atcham, Emstrey, Weeping Cross, dann die Straße an Shrewsbury vorbei und endlich die Grenze und die Hügel von Wales in der Ferne. In der Morgendämmerung hatte die Landschaft geisterhaft gewirkt – alles war in Nebel gehüllt, bis die aufsteigende Sonne die Schwaden langsam aufgelöst hatte.

Will vermutete, dass er irgendwo in der Nähe von Llangadfan sein musste, auf einer pittoresken Straße, die über einem alten Römerweg angelegt war und durch eine mehr oder weniger verlassene Landschaft führte, abgesehen von verstreut liegenden Farmen in der Ferne. Die Straße schien sich endlos zu ziehen, endloser als der graue Himmel über ihm. Im Gasthaus »Cann Office Hotel« hatte er eine kurze Rast eingelegt und etwas gegessen, war dann aber schnell wieder aufgebrochen. Die Reise war das einzige, was zählte.

Nun, da er sich in Wales befand, konnte er es spüren: das Sehnen in seinen Adern, das ihn zu dem Ort zog, an dem er auf die Welt gekommen war. Trotz Cecilys Beteuerungen hatte er die Verbindung nicht gefühlt – bis jetzt, da er die walisische Luft atmete und die walisischen Farben sah: das Grün der Hügel, das Grau des Schiefergesteins und des Himmels, das Weiß der gekalkten Häuser, die cremefarbenen Tupfen der Schafe auf den grünen Weiden. Kiefern und Eichen leuchteten in einem dunklen Smaragdgrün in der Ferne, wohingegen die Vegetation in der Nähe der Straße bald graugrüne und ockergelbe Schattierungen annahm.

Während Will tiefer ins Landesinnere vordrang, wurden die sanften grünen Hügel immer steiler, die Straße immer unwegsamer und die Sonne sank allmählich in Richtung der nicht mehr weit entfernten Berge. Er wusste jetzt, wo er war, wusste, dass er nun das Dyfi Valley erreicht hatte, mit den ersten hohen, zerklüfteten Gipfeln direkt vor ihm. Zu seiner Linken sah er die Spitze des Car Afron, dessen Flanke wie von einem zerfetzten grauen Spinngewebe aus grauem Schiefer und Schotter überzogen wirkte. Die Straße führte höher und höher, und während Will Balios vorantrieb, sackte er irgendwann im Sattel zusammen und nickte gegen seinen Willen immer wieder ein. Er träumte von Cecily und Ella, die über Hügel und Berge wie diese liefen und ihm zuriefen, Will! Los, komm mit uns, Will! Außerdem träumte er von Tessa; sie streckte ihm die Hände entgegen und er wusste, dass er nicht eher ruhen würde, bis er sie erreicht hatte. Selbst wenn sie ihn im richtigen Leben niemals auf diese Weise ansehen würde, selbst wenn der sanfte Ausdruck in ihren Augen jemand anderem galt. Gelegentlich tastete seine Hand nach dem Anhänger in seiner Tasche – so wie jetzt, da er erneut nach dem Schmuckstück aus Jade griff.

Plötzlich traf ihn etwas hart an der Seite. Im Fallen ließ er den Anhänger los, bevor er auf dem grasbewachsenen Felsgestein am Straßenrand aufschlug. Ein heißer Schmerz schoss seinen Arm hinauf und Will rollte sich zur Seite, gerade noch rechtzeitig, ehe er unter Balios begraben wurde, der neben ihm zu Boden stürzte. Keuchend schaute Will sich um; dann erkannte er, dass man sie nicht attackiert hatte. Sein Pferd, das einfach zu erschöpft war, um auch noch einen Schritt zu machen, war unter ihm zusammengebrochen.

Will hievte sich auf die Knie und kroch zu Balios. Der schwarze Hengst war schaumbedeckt und schaute ihn mit rollenden Augen flehentlich an, als Will sich ihm näherte und die Arme um seinen Hals schlang. Zu seiner Erleichterung ging Balios’ Puls ruhig und beständig. »Balios, Balios«, raunte Will leise und strich dem Tier über die Mähne. »Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht so schinden dürfen.«

Er erinnerte sich daran, wie Henry die Institutspferde gekauft und nach einem passenden Namen für sie gesucht hatte. Will hatte ihn schließlich auf die Idee gebracht: Balios und Xanthos, nach den unsterblichen Pferden des Achill. Wir zwar wollten im Lauf auch Zephyros Atem ereilen,/Welcher doch schnell vor allen daherstürmt.

Aber diese Pferde waren unsterblich gewesen, im Gegensatz zu seinem Hengst. Natürlich war Balios kräftiger und schneller als herkömmliche Pferde, aber auch er hatte seine Grenzen. Von einem Schwindelgefühl erfasst, legte Will sich auf den Rücken und schaute hinauf in den Himmel: Er wirkte straff gezogen wie ein graues Laken, nur hier und dort mit schwarzen Wolken durchsetzt.

In der kurzen Zeitspanne zwischen der Aufhebung seines »Fluchs« und dem Moment, in dem er von Jems und Tessas Verlobung erfuhr, hatte er überlegt, Tessa hierher nach Wales zu bringen, um ihr all die Orte aus seiner Kindheit zu zeigen. Er hatte darüber nachgedacht, sie nach Pembrokeshire mitzunehmen, um St. David’s Head herumzuwandern und die dortigen Kliffpflanzen mit den kleinen Blütchen zu bewundern; und er wollte ihr das tiefblaue Meer bei Tenby zeigen und an der Flutlinie nach Muscheln suchen. Doch all das erschien ihm jetzt wie ein Kindertraum: Auf ihn wartete nur die Straße, weitere Meilen im Sattel, noch größere Erschöpfung und am Ende vermutlich der Tod.

Erneut tätschelte er Balios beruhigend den Hals, rappelte sich dann auf, bekämpfte das Schwindelgefühl und humpelte den Hügel hinauf, um sich umzuschauen.

Ein kleines Tal lag zu seinen Füßen, in dem sich ein winziges Dorf, kaum größer als ein Weiler, an die Felsen schmiegte. Müde zog Will die Stele aus seinem Gürtel und versah sein linkes Handgelenk mit einer Sehleistungsrune. Das Runenmal verbesserte seine Sehkraft genug, um zu erkennen, dass das Dorf über einen kleinen Platz und eine winzige Kirche verfügte. Sehr wahrscheinlich gab es dort auch ein Wirtshaus, in dem er übernachten konnte.

Jede Faser seines Herzens drängte ihn, weiterzureiten und das hier endlich hinter sich zu bringen; schließlich war er kaum noch zwanzig Meilen von seinem Ziel entfernt. Aber wenn er jetzt weiterritt, würde er damit sein Pferd umbringen und in einem Zustand am Cadair Idris ankommen, der keinen Kampf mit irgendjemandem zuließ. Also kehrte Will zu Balios zurück und überredete ihn mit einer Mischung aus schmeichelnden Worten und verlockendem Hafer dazu, sich aufzurappeln. Dann nahm er die Zügel in die Hand, blinzelte in den Sonnenuntergang und führte Balios den Hügel hinab in Richtung Dorf.

Tessa saß auf einem Stuhl mit hoher, geschnitzter Rückenlehne, der mit massiven Nägeln bestückt war; die abgerundeten Köpfe drückten ihr in den Rücken. Vor ihr stand ein breiter Tisch mit einem Stapel schwerer Bücher auf einer Seite. Daneben lag ein Stapel weißes Papier, ein Tintenfässchen und ein Federhalter. Und neben dem Papier ruhte John Shades Taschenuhr.

Links und rechts von Tessa ragten zwei Automaten auf. Mortmain hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihnen menschliche Züge zu verleihen: Sie waren fast dreieckig geformt, mit dicken Armen, die aus ihrem Rumpf herausragten und in messerscharfen Klingen endeten. Obwohl sie Tessa einen Schauer über den Rücken jagten, musste sie unwillkürlich an Will denken und seine oft lakonischen Bemerkungen: Bestimmt hätte er die Automaten mit Rüben verglichen und vielleicht sogar ein Lied über sie verfasst.

»Nehmen Sie die Uhr«, sagte Mortmain, »und verwandeln Sie sich.«

Er saß Tessa gegenüber auf einem Stuhl, der ihrem ähnelte. Sie befanden sich in einer anderen Höhle, in die die Automaten Tessa geführt hatten. Das einzige Licht im Raum stammte von einem prasselnden Feuer in einem riesigen Kamin, der so groß war, dass man eine ganze Kuh darin am Spieß hätte braten können. Mortmains Gesicht lag in tiefen Schatten und er hatte das Kinn auf die Finger gestützt.

Tessa nahm die Uhr; sie fühlte sich schwer und kalt an. Zögernd schloss Tessa die Augen. Sie hatte nur Mortmains Wort, dass er das Yin Fen zum Institut geschickt hatte, aber sie glaubte ihm. Schließlich hatte er keinen Grund, sein Versprechen zu brechen. Welchen Unterschied machte es schon, ob Jem Carstairs noch etwas länger lebte? Für Mortmain war die Droge immer nur ein Druckmittel gewesen, um Tessa in seine Gewalt zu bringen – und hier saß sie nun, Yin Fen hin oder her.

Sie hörte, wie Mortmain ungeduldig knurrte, und schloss die Finger fester um die Uhr. Auf einmal schien diese zum Leben zu erwachen und zu pulsieren, so wie ihr eigener Klockwerk-Engel. Tessa spürte, dass ihre Hand zuckte, und dann wurde sie plötzlich von der Gestaltwandlung regelrecht überwältigt – sie brauchte sie nicht wie sonst aktiv voranzutreiben oder danach zu suchen. Keuchend schnappte Tessa nach Luft, als sie wie von einem böigen Windstoß erfasst und nach unten gedrückt wurde. Im nächsten Moment war John Shade um sie herum; seine Präsenz umhüllte sie vollständig. Ein stechender Schmerz schoss durch Tessas Arm, woraufhin sie die Uhr fallen ließ. Diese schlug mit einem Dröhnen auf die Tischplatte, doch die Verwandlung ließ sich nicht mehr aufhalten. Tessas Schultern wurden breiter und ihre Finger verfärbten sich grün – die Farbe breitete sich über ihren ganzen Körper aus, wie Grünspan auf Kupfer.

Ihr Kopf flog hoch und sie fühlte sich schwer, als würde ein enormes Gewicht auf ihr lasten. Ein Blick an sich herab zeigte ihr, dass sie nun die muskulösen Arme eines Mannes besaß, mit großen, gekrümmten Händen und dunkelgrüner Haut. Ein Hauch von Panik stieg in ihr auf, allerdings nur ein winziger Funke in einem Meer der Dunkelheit. Nie zuvor hatte Tessa sich innerhalb einer Gestaltwandlung so verloren gefühlt.

Mortmain hatte sich kerzengerade aufgesetzt. Er starrte sie gebannt an, die Lippen fest zusammengepresst, ein dunkles Licht in den harten Augen. »Vater«, stieß er hervor.

Tessa brachte keine Antwort zustande. Sie konnte nicht antworten. Die Stimme, die in ihr anschwoll, war nicht ihre; sie gehörte Shade: »Mein Klockwerk-Prinz.«

Das Licht in Mortmains Augen leuchtete auf. Er beugte sich vor und schob den Stapel Papiere begierig über den Tisch zu Tessa. »Vater«, sagte er, »ich brauche deine Hilfe. Und zwar sofort. Ich habe eine Pyxis. Ich habe die Mittel, um sie zu öffnen, und ich habe die Automaten. Jetzt brauche ich nur noch die Beschwörungsformel, die du geschaffen hast, die Verquickungsformel. Bitte schreibe sie für mich auf, dann habe ich auch das letzte Teil des Puzzles.«

Der Anflug von Panik in Tessas Innerem wuchs und verbreitete sich in ihrem ganzen Körper. Das hier war keine rührende Wiedervereinigung von Vater und Sohn. Das hier war etwas, das Mortmain wollte, brauchte … und zwar nicht von seinem Vater, sondern von dem Hexenmeister John Shade. Tessa versuchte, sich zu wehren, versuchte, sich der Verwandlung zu entziehen, doch diese hielt sie mit eisernem Griff gefangen. Seit der Ausbildung bei den Dunklen Schwestern war sie noch jedes Mal in der Lage gewesen, sich wieder zurückzuverwandeln; aber obwohl John Shade tot war, konnte Tessa seine unnachgiebige Willenskraft spüren, die sie zu einer Gefangenen in seinem Körper machte und sie zwang, diesen Körper zu nutzen. Entsetzt sah Tessa, wie ihre Hand nach dem Federhalter griff, die Spitze in die Tinte tauchte und zu schreiben begann.

Die Feder kratzte über das Papier. Mortmain beugte sich vor; sein Atem ging schneller, als würde er laufen. Hinter ihm knisterte das Feuer hoch und orange im Kamin. »Das ist es«, murmelte er und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Ja, das könnte funktionieren. Endlich! Das ist genau das, was noch gefehlt hat.«

Tessa starrte auf den Tisch. Die Tinte, die aus dem Federhalter über das Papier strömte, erschien ihr wie ein unverständliches Kauderwelsch: Zahlen, Zeichen und Symbole, die ihr nichts sagten. Ein weiteres Mal versuchte sie, sich zu widersetzen, erzeugte aber nur einen dicken Tintenfleck. Der Federhalter setzte erneut an – Tinte, Papier, noch mehr Gekritzel. Die Hand mit dem Schreibgerät zitterte unkontrolliert, doch die Symbole quollen ungehindert aus der Spitze. Tessa biss sich auf die Lippe: fest, dann noch fester. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund. Ein paar Blutstropfen landeten auf dem Papier. Doch der Federhalter schrieb ungerührt weiter, verschmierte scharlachrote Flüssigkeit über die Oberfläche.

»Das ist es!«, rief Mortmain. »Vater …«

Im nächsten Moment brach die Spitze des Federhalters mit einem lauten Knall, der wie ein Gewehrschuss von den Wänden der Höhle widerhallte. Das zerbrochene Schreibgerät rutschte Tessa aus der Hand und sie sank erschöpft gegen die Stuhllehne. Die grüne Farbe verblasste in ihrer Haut, ihr Körper schrumpfte, ihre eigenen braunen Haare fielen ihr über die Schultern. Sie konnte noch immer den Geschmack von Blut in ihrem Mund wahrnehmen. »Nein«, keuchte sie und streckte die Hände nach den Papierbögen aus. »Nein …« Aber ihre Bewegungen wurden durch den Schmerz und die Nachwirkungen der Verwandlung behindert.

Und Mortmain war schneller. Lachend riss er den Stapel Papiere unter Tessas Hand hervor und erhob sich. »Sehr schön«, sagte er. »Vielen Dank, mein kleines Hexenmädchen. Das war alles, was ich brauchte. Automaten, begleitet Miss Gray zurück auf ihr Zimmer.«

Eine Metallhand krallte sich von hinten in Tessas Morgenmantel und zog sie auf die Beine. Ihr war schwindlig – die Welt um sie herum schien sich zu drehen. Sie sah, wie Mortmain sich vorbeugte und die goldene Uhr an sich nahm, die auf den Tisch gefallen war.

Ein wildes, boshaftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er die Uhr betrachtete. »Du wirst schon bald sehr stolz auf mich sein, Vater«, sagte er. »Daran besteht kein Zweifel.«

Tessa, die den Anblick nicht länger ertragen konnte, schloss die Augen. Was habe ich getan?, dachte sie, als der Automat sie aus dem Raum zu schieben begann. Mein Gott, was habe ich getan?