18

NUR EINZIG UND ALLEIN

Ich zürn dem Tod nur einzig und allein,
Weil er den Groll in meinem Herzen schürt,
Er hat uns beide nun so weit entrückt,
Dass keiner mehr des andern Wort vernimmt.

ALFRED LORD TENNYSON, »IN MEMORIAM A.H.H.«

Tessa stand am Rand eines Steilhangs in einer ihr unbekannten Landschaft. Die umliegenden grünen Hügel gingen abrupt in schroffe Klippen über, die sich hoch über einem blauen Meer erhoben. Seevögel kreisten und krächzten über ihr. Ein grauer Pfad wand sich durch die Felsen – und dort, nicht weit von ihr entfernt, sah sie Will.

Er trug eine schwarze Schattenjägermontur und darüber einen langen schwarzen Reitmantel. Der Mantel war am Saum mit Schlamm bespritzt, als hätte er eine weite Strecke zurückgelegt, doch sie konnte weder Handschuhe noch einen Hut an ihm entdecken. Seine dunklen Haare waren von der Meeresbrise zerzaust. Der Seewind wehte auch Tessa die Haare ins Gesicht und brachte den Geruch von Salz und Meerwasser mit sich, von Algen, die am Rand der Flutlinie wuchsen – Gerüche, die Tessa an ihre Überfahrt auf der Main erinnerten.

»Will!«, rief sie ihm entgegen. Seine Gestalt umgab eine Aura großer Einsamkeit – so wie Tristan, der auf die Irische See hinausblickte, auf der Suche nach dem Schiff, das Isolde zu ihm zurückbringen würde. Statt sich beim Klang von Tessas Stimme umzudrehen, hob Will nur die Arme, wodurch der Wind in seine Mantelschöße fuhr und sie wie zwei Schwingen aufblähte.

Angst erfasste Tessas Herz. Isolde war zu Tristan gekommen, doch zu spät: Er war vor Gram bereits gestorben. »Will!«, rief sie erneut.

Will machte einen Schritt nach vorn, über die Felskante hinweg. Panisch stürmte Tessa zur Klippe und starrte in die Tiefe, doch Will war verschwunden: Sie sah nur tosende graublaue Wogen mit schäumenden Kronen. Mit jeder Welle schien die Gischt seine Stimme zu ihr hinaufzutragen. »Aufwachen, Tessa. Wach auf.«

»Aufwachen, Miss Gray. Miss Gray!«

Ruckartig fuhr Tessa hoch. Sie war in dem Sessel am Kamin eingeschlafen. Eine grobe blaue Decke lag über ihren Beinen, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass sie sie herbeigeholt hatte. Ihre kleine Gefängniszelle wurde nur vom Licht der Fackeln und der Glut des heruntergebrannten Feuers beleuchtet. Daher ließ sich unmöglich feststellen, ob es Tag oder Nacht war.

Mortmain stand vor ihr. Er hatte einen Automaten an seiner Seite, der menschlicher wirkte als alle Kreaturen, die Tessa zuvor gesehen hatte. Der Klockwerk-Mann war sogar bekleidet – im Gegensatz zu den meisten anderen von Mortmains Automaten. Seine Militäruniform sorgte dafür, dass der Kopf, der aus dem steifen Kragen herausragte, mit seinen zu glatten Zügen und dem kahlen Metallschädel noch unheimlicher wirkte. Und dann erst die Augen…Tessa wusste, dass es sich nur um Glas und Kristall handelte, welches im Schein der Glut rot schimmerte, aber die Art und Weise, wie der Automat sie zu fixieren schien …

»Sie frieren ja«, stellte Mortmain fest.

Tessa schnaubte und ihr Atem stieg in einer weißen Wolke auf. »Die Wärme Ihrer Gastfreundschaft lässt nun einmal zu wünschen übrig.«

Mortmain lächelte schmallippig. »Sehr amüsant.« Er selbst trug einen dicken Persianermantel über einem grauen Anzug – ganz der Geschäftsmann. »Miss Gray, ich wecke Sie nur ungern. Aber ich möchte, dass Sie sehen, was ich dank Ihrer freundlichen Unterstützung und der Erinnerungen meines Vaters erschaffen konnte.« Stolz zeigte er auf den Automaten an seiner Seite.

»Eine weitere Klockwerk-Kreatur?«, fragte Tessa ohne großes Interesse.

»Ach, wie unhöflich von mir.« Mortmain warf der Kreatur einen Blick zu. »Stell dich selbst vor.«

Der Automat öffnete den Mund, der messingfarben aufblitzte, und begann zu sprechen: »Ich bin Armers. Millionen Jahre lang ließ ich mich von den Winden der gewaltigen Abgründe zwischen den Welten tragen. Ich habe in der Brocelind-Ebene gegen Jonathan Shadowhunter gekämpft. Dann war ich weitere tausend Jahre in der Pyxis gefangen. Doch nun hat mein Gebieter mich befreit und ich diene nur noch ihm.«

Bestürzt erhob Tessa sich aus ihrem Sessel, wobei die Wolldecke unbeachtet auf ihre Füße rutschte. Der Automat musterte sie. Aus seinen Augen sprach eine dunkle Intelligenz – ein Bewusstsein, wie Tessa es noch bei keinem anderen Automaten gesehen hatte. »Was ist das für eine Kreatur?«, fragte sie flüsternd.

»Der Korpus eines Automaten, dem nun die Seele eines Dämonen innewohnt. Die Schattenweltler kannten schon immer Mittel und Wege, Dämonenenergie einzufangen und zu nutzen. Ich selbst habe eine dieser Methoden angewandt, um die Automaten, die Sie ja bereits kennen, zum Leben zu erwecken. Doch Armers und seine Brüder sind anders. Bei ihnen handelt es sich um Dämonen im Korpus eines Automaten. Sie können selbstständig und logisch denken und lassen sich nicht leicht überlisten. Und sie sind sehr schwer zu töten.«

Armers hob seinen Arm und Tessa musste feststellen, dass seine Bewegungen viel flüssiger, geschmeidiger und weniger abgehackt wirkten als bei den anderen Automaten … fast wie bei einem Menschen. Er zog das Schwert, das an seiner Seite hing, und reichte es Mortmain. Die Klinge war mit den Runen versehen, deren Anblick Tessa in den vergangenen Monaten so vertraut geworden war: die Runen, die sämtliche Schattenjägerwaffen zierten. Die Runen, die sie erst zu Schattenjägerwaffen machten. Die Runen, die eine tödliche Wirkung auf Dämonen ausübten. Armers hätte kaum in der Lage sein dürfen, einen Blick auf die Klinge zu werfen – ganz zu schweigen davon, ein solches Schwert in die Hand zu nehmen.

Tessa zog sich der Magen zusammen. Mortmain nahm die Waffe entgegen und handhabte sie mit der Präzision eines langjährigen Marineoffiziers: Er wirbelte die Klinge herum, machte einen Ausfallschritt und rammte sie dem Dämon in die Brust.

Das Geräusch knirschenden Metalls hallte durch den Raum. Tessa war daran gewöhnt, dass Automaten bei einem solchen Angriff taumelten, schwarze Flüssigkeit versprühten und zusammenbrachen. Aber der Dämon wich keinen Millimeter zurück. Er stand ungerührt und reglos da, wie eine Echse in der Sonne. Mit einem Ruck drehte Mortmain das Schwert in der Dämonenbrust, dann riss er die Waffe zurück.

Die Klinge war zu Asche zerbröselt, wie ein Holzscheit in einem Kaminfeuer.

»Sie sehen also: Diese Klockwerk-Kreaturen bilden eine Armee, die dazu geschaffen wurde, die Nephilim zu vernichten«, wandte Mortmain sich an Tessa.

Armers war der erste Automat, den Tessa lächeln sah. Sie hatte noch nicht mal gewusst, dass ihre Gesichter dazu überhaupt in der Lage waren. »Die Nephilim haben viele unserer Art vernichtet«, sagte der Dämon. »Es wird mir ein Vergnügen sein, sie alle zu töten.«

Tessa musste heftig schlucken und versuchte verzweifelt, sich nichts anmerken zu lassen, damit Mortmain ihre Furcht entging. Sein Blick glitt von ihr zu dem Dämonenautomaten und wieder zurück und Tessa vermochte nicht zu sagen, wessen Anblick ihn mehr erfreute. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, sich auf ihn gestürzt und ihm das Gesicht zerkratzt. Doch die unsichtbare Wand schimmerte zwischen ihnen und Tessa wusste, dass sie sie nicht durchbrechen konnte.

Ach, Sie werden mehr als nur seine Braut sein, Miss Gray, hatte Mrs Black gesagt. Sie werden der Ruin aller Nephilim sein. Nur aus diesem Grund wurden Sie erschaffen.

»Die Schattenjäger sind nicht so leicht zu vernichten«, erwiderte Tessa. »Ich habe gesehen, wie sie Ihre Automaten in Stücke gehackt haben. Vielleicht können diese hier nicht von den runengezeichneten Schwertern gefällt werden, aber jede Klinge vermag, Metall zu zerschneiden und Drähte zu durchtrennen.«

Mortmain zuckte die Achseln. »Die Nephilim sind es nicht gewohnt, gegen Kreaturen zu kämpfen, denen ihre Runenwaffen nichts anhaben können. Das wird sie langsamer machen. Davon abgesehen, habe ich eine unendliche Anzahl dieser Automaten geschaffen. Die Schattenjäger werden das Gefühl haben, mit bloßen Händen eine Flut zurückdrängen zu müssen.« Versonnen neigte er den Kopf zur Seite. »Erkennen Sie nun die wahre Größe meiner Erfindung? In jedem Fall muss ich Ihnen danken, Miss Gray – für das letzte Teil dieses Puzzles. Ich hatte wahrlich gehofft, Sie würden vielleicht sogar … Bewunderung für das empfinden, was wir gemeinsam erschaffen haben.«

Bewunderung? Tessa suchte in Mortmains Augen nach einem Anzeichen von Spott, doch darin spiegelte sich eine ernst gemeinte Frage – eine Mischung aus Neugier und seiner üblichen Eiseskälte. Sie überlegte, wie lange es wohl her sein mochte, dass er von einem anderen menschlichen Wesen Lob erhalten hatte, und holte tief Luft. »Ganz offensichtlich sind Sie ein großer Erfinder«, sagte sie.

Mortmain lächelte erfreut.

Tessa spürte den Blick des mechanischen Dämons auf sich, seine Anspannung und Kampfbereitschaft, doch Mortmains Anwesenheit war sie sich noch deutlicher bewusst. Ihr Herz pochte wie wild in ihrer Brust. Genau wie in ihrem Traum schien sie am Rand eines Abgrunds zu stehen. Es war gewagt, auf diese Weise mit Mortmain zu sprechen, und sie würde entweder fliegen oder fallen, aber sie musste dieses Risiko eingehen. »Ich verstehe nun, warum Sie mich hierher gebracht haben«, sagte sie. »Nämlich nicht nur zur Entschlüsselung der Geheimnisse Ihres Vaters.«

Zorn sprach aus Mortmains Augen, aber auch eine gewisse Verwirrung: Tessa verhielt sich nicht so, wie er es von ihr erwartete. »Was meinen Sie damit?«

»Sie sind einsam«, stellte Tessa fest. »Sie haben sich mit Kreaturen umgeben, die nicht real sind, nicht leben. Doch erst in den Augen anderer sehen wir unsere eigene Seele. Wann hat man Ihnen zum letzten Male gezeigt, dass Sie eine Seele haben?«

Mortmain kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Ich hatte einst eine Seele. Doch sie verbrannte bei der Verfolgung dessen, dem ich mein ganzes Leben gewidmet habe: dem Streben nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.«

»Sie sollten nicht nach Vergeltung trachten und das Gerechtigkeit nennen.«

Der Dämon lachte leise, allerdings nicht verächtlich; eher so, als würde er die Streiche eines kleinen Kätzchens beobachten. »Sie gestatten ihr, auf diese Weise mit Ihnen zu sprechen, Gebieter?«, bemerkte er. »Wenn Sie wollen, kann ich ihr die Zunge abschneiden, sie für immer zum Schweigen bringen.«

»Es würde nichts nutzen, sie zu verstümmeln. Sie besitzt Kräfte, von denen du nichts ahnst«, erwiderte Mortmain, den Blick noch immer auf Tessa geheftet. »In China gibt es eine alte Redensart, mit der Sie Ihr teurer Verlobter ja vielleicht vertraut gemacht hat: ›Ein Mann soll mit dem Mörder seines Vaters nicht unter demselben Himmel leben.‹ Ich werde alle Schattenjäger unter diesem Himmel vernichten, sie werden nicht länger auf Erden wandeln. Versuchen Sie erst gar nicht, an mein besseres Ich zu appellieren, Tessa, denn ich besitze keines.«

Tessa musste unwillkürlich an Eine Geschichte aus zwei Städten denken und an Lucie Manettes Appelle an Sydney Cartons besseres Ich. Lange Zeit hatte sie Will mit Sydney verglichen, verzehrt von Sünde und Hoffnungslosigkeit, wider besseres Wissen, wider seinen eigenen Wunsch. Aber Will war ein guter Mensch, viel besser als Carton es je gewesen war. Und Mortmain konnte man kaum noch als Menschen bezeichnen. Deswegen appellierte Tessa auch nicht an sein besseres Ich, sondern an seine Eitelkeit: Alle Menschen hielten sich letztendlich für gut, niemand sah sich selbst als einen Schurken. Sie holte tief Luft und erwiderte: »Gewiss trifft das nicht zu; gewiss können Sie sich wieder als guter und wertvoller Mensch erweisen. Sie haben erreicht, was Sie erreichen wollten: Sie haben diesen … diesen Höllengeräten Leben und Intelligenz eingehaucht. Sie haben etwas erschaffen, das die Nephilim vernichten könnte. Ihr Leben lang haben Sie nach Gerechtigkeit getrachtet, weil Sie davon überzeugt waren, die Schattenjäger seien verdorben und skrupellos. Aber wenn Sie jetzt einhalten, erringen Sie damit den größten aller Siege: Sie zeigen der ganzen Welt, dass Sie besser sind als die Nephilim.« Tessa musterte Mortmains Gesicht eindringlich. War da vielleicht ein Zögern zu erkennen? Bebten seine Lippen und konnte sie die Anspannung des Zweifels in der Haltung seiner Schultern sehen?

Ein Lächeln umspielte Mortmains Mundwinkel. »Dann glauben Sie also, dass ich ein besserer Mensch werden kann? Und wenn ich das täte, was Sie sagen…wenn ich mich zurückhielte, dann wollen Sie mich glauben machen, Sie würden aus Bewunderung bei mir bleiben und nicht zu den Schattenjägern zurückkehren?«

»Aber ja, Mr Mortmain. Das schwöre ich.« Tessa kämpfte gegen den bitteren Geschmack in ihrer Kehle an. Wenn sie bei Mortmain bleiben musste, um damit Will und Jem zu retten und Charlotte und Henry und Sophie, dann würde sie das auf sich nehmen. »Ich bin davon überzeugt, dass Sie Ihr besseres Ich wiederfinden können. Ich glaube, dass wir alle das können.«

Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Es ist bereits spät am Nachmittag, Miss Gray«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht früher wecken. Begleiten Sie mich bitte auf einen kleinen Ausflug. Kommen Sie und sehen Sie selbst, was wir an diesem Tag geschaffen haben – denn es gibt da etwas, das ich Ihnen zeigen möchte.«

Ein eisiger Finger strich Tessas Rücken hinab und sie richtete sich auf. »Und das wäre?«

Das Lächeln erfasste nun sein ganzes Gesicht. »Das, worauf ich immer gewartet habe.«

Adressat: Konsul Josiah Wayland
Absender: Inquisitor Victor Whitelaw

Josiah, vergib mir meine Formlosigkeit, aber ich schreibe in größter Eile. Ich bin mir sicher, dass dies nicht der einzige Brief bleiben wird, den Du in dieser Angelegenheit erhältst; vermutlich ist er nicht einmal der erste. Ich selbst habe inzwischen eine ganze Anzahl von Schreiben empfangen und jedes befasst sich mit derselben Frage, die auch mich bewegt: Sind Charlotte Branwells Informationen korrekt? Denn falls dies so ist, erscheint es mir mehr als wahrscheinlich, dass der Magister sich tatsächlich in Wales aufhält. Ich weiß, dass Du an William Herondales Aufrichtigkeit zweifelst, aber wir haben beide seinen Vater gekannt: ein Mann von hitzigem Temperament, der sich zu sehr von seinen Leidenschaften beherrschen lässt, aber eine durch und durch ehrliche Haut. Daher glaube ich nicht, dass der junge Herondale ein Lügner ist.

Ungeachtet dessen hat Charlottes Nachricht innerhalb der Nephilimgemeinschaft großen Aufruhr ausgelöst. Ich bestehe darauf, dass wir sofort eine Sitzung der Kongregation anberaumen. Andernfalls wird das Vertrauen der Schattenjäger in ihren Konsul und ihren Inquisitor unwiederbringlich zerrüttet werden. Ich überlasse es Dir, die Versammlung einzuberufen – aber das ist keine Bitte. Wenn die Einladung zur Vollversammlung nicht umgehend erfolgt, werde ich meinen Posten aufkündigen und die Gründe dafür jedermann kundtun.

Victor Whitelaw

Will wurde durch laute Schreie geweckt.

Sein jahrelanges Training machte sich sofort bemerkbar: Noch bevor er richtig wach war, kauerte er bereits kampfbereit auf dem Boden neben dem Bett. Rasch schaute er sich um, doch das kleine Zimmer im Dorfgasthof war leer und die Möbel – ein schmales Bett und ein schlichter Holztisch, im dämmrigen Licht kaum zu erkennen – standen unverändert an Ort und Stelle.

Die Schreie ertönten erneut, dieses Mal noch lauter. Sie drangen durch das Fenster herein. Will richtete sich auf, durchquerte geräuschlos das Zimmer und zog vorsichtig den Vorhang zur Seite, um einen Blick nach draußen zu werfen.

Er konnte sich kaum daran erinnern, wie er Balios, der erschöpft hinter ihm hergetrottet war, zum Dorf geführt hatte. Ein kleiner walisischer Weiler, wie so viele andere kleine Ortschaften in Wales, unauffällig und nichtssagend. Der Gasthof war mühelos zu finden gewesen. Will hatte sein Pferd in die Obhut des Stalljungen gegeben und ihm aufgetragen, Balios sorgfältig trocken zu reiben und ihm einen warmen Kleiebrei zu bringen, um seine Lebensgeister zu wecken. Die Tatsache, dass Will Walisisch sprach, hatte dafür gesorgt, dass der Wirt ihn weniger misstrauisch musterte und ihn rasch in ein Einzelzimmer führte, wo Will sich vollständig bekleidet auf das Bett hatte fallen lassen und sofort in einen traumlosen Schlaf versunken war.

Inzwischen war der Mond aufgegangen. Seine Position am dunklen Himmel deutete darauf hin, dass die Nacht noch nicht weit fortgeschritten war. Ein grauer Schleier schien über dem Dorf zu hängen. Im ersten Augenblick hielt Will die Schwaden für Nebel, doch dann erkannte er, dass es sich um Rauch handelte. Roter Lichtschein flackerte zwischen den Häusern des Weilers auf. Will kniff die Augen leicht zusammen und ließ den Blick über die Umgebung streifen: Dunkle Gestalten bewegten sich schnell zwischen den Schatten. Weitere Schreie … ein aufblitzendes Licht, das nur von einer Klinge stammen konnte …

Einen Sekundenbruchteil später war Will bereits aus der Tür, die Stiefel nur notdürftig zugeschnürt, eine Seraphklinge in der Hand. Er stürmte die Treppe hinunter und durch eine weitere Tür in den Schankraum. Hier war es kalt und dunkel – im Kamin brannte kein Feuer und ein paar der Fensterscheiben waren zerschlagen. Eisige Nachtluft drang herein. Glassplitter lagen wie dicke Eisbrocken auf dem Boden verstreut. Die Wirtshaustür hing schräg in den Angeln, und als Will leise hindurchschlüpfte, sah er, dass die Tür fast aus der Verankerung gerissen war – als hätte jemand versucht, sie mit Gewalt zu öffnen …

Geräuschlos trat Will aus dem Gebäude und schlich an der Seite entlang zum Stall. Hier schlug ihm deutlicher Rauchgeruch entgegen, woraufhin er seine Schritte beschleunigte und fast über eine zusammengekrümmte Gestalt am Boden gestolpert wäre. Will sank auf die Knie: Vor ihm lag der Stalljunge, mit aufgeschlitzter Kehle, in einer Lache aus Blut und aufgeweichter Erde. Seine toten Augen blickten starr zum Himmel; seine Haut war bereits kalt. Will schluckte die Galle, die in seiner Kehle aufstieg, hinunter und richtete sich auf.

Automatisch lief er zum Stall, während sich seine Gedanken förmlich überschlugen. Handelte es sich um einen Dämonenangriff? Oder war er in etwas hineingeraten, das keineswegs übernatürlich war … irgendeine Fehde zwischen den Dorfbewohnern oder weiß der Himmel, was? Auf jeden Fall hatte niemand gezielt nach ihm gesucht, so viel stand fest.

Er hörte Balios’ angsterfülltes Wiehern, als er den Stall betrat. Rasch schaute Will sich um, von der verputzten Decke bis hin zum gepflasterten Boden mit den Abflussrinnen, doch der Raum schien unversehrt. Die anderen Pferdeboxen waren leer – was ein Glück war, denn in dem Moment, in dem er die Stalltür öffnete, preschte Balios vor und hätte Will fast umgerannt. Er konnte gerade noch aus dem Weg springen, als das Pferd auch schon an ihm vorbeistürmte und in die dunkle Nacht verschwand.

»Balios!« Will fluchte unterdrückt und lief seinem Pferd nach, um das Gasthaus herum und auf die Hauptstraße des Dorfs.

Abrupt hielt er inne. Auf der Straße herrschte Chaos. Überall lagen Leichen, wie Abfall achtlos an den Straßenrand geschoben. Haustüren waren aus den Angeln gerissen, die Fenster eingeschlagen. Dazwischen liefen schreiende Dorfbewohner panisch umher. Mehrere Häuser brannten lichterloh. Während Will sich entsetzt umschaute, kam eine Familie aus einem brennenden Cottage gerannt – der Familienvater im Nachthemd, keuchend und hustend, dahinter eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand.

Sie hatten kaum die Straße erreicht, als auch schon dunkle Gestalten aus den Schatten hervortraten. Das Mondlicht spiegelte sich auf ihren Metalloberflächen.

Automaten.

Sie bewegten sich flüssig und geschmeidig und trugen Kleidung: ein buntes Sortiment an Militäruniformen, von denen Will nur einige wiedererkannte. In den glänzenden Metallhänden hielten sie Schwerter mit langen Klingen. Drei dieser Gestalten traten auf die Familie zu. Ein Automat in einer zerrissenen roten Uniformjacke schob sich nach vorn und lachte – lachte? –, als der Familienvater versuchte, sich schützend vor seine Frau und seine Tochter zu stellen, während sie strauchelnd über das blutige Kopfsteinpflaster hasteten.

Das Ganze war innerhalb von Sekunden vorbei – selbst für Will zu schnell, um noch etwas unternehmen zu können. Klingen blitzten auf und drei weitere Leichname landeten auf den Haufen am Straßenrand.

»Das genügt«, sagte der Automat in der zerrissenen Uniform. »Brennt alle Häuser nieder und räuchert die Übrigen aus wie die Ratten. Wenn sie zu fliehen versuchen, tötet sie …« Im nächsten Moment drehte er ruckartig den Kopf und schaute in Wills Richtung.

Selbst über die Straße hinweg, die sie voneinander trennte, konnte Will den stechenden Blick spüren. Er hob seine Seraphklinge und raunte: »Nakir.« Sofort flammte die Klinge auf und beleuchtete die Straße – ein weißer Lichtstrahl inmitten roter Flammen. Über das Blut und das Feuer hinweg sah Will, wie der Automat in der roten Uniformjacke auf ihn zumarschierte, ein Langschwert in der linken Hand – die zwar aus Metall bestand, sich aber wie eine menschliche Hand geschmeidig um das Heft schloss.

»Nephilim«, stieß die Kreatur hervor und blieb nur einen Schritt vor Will stehen. »Dich und deinesgleichen haben wir hier nicht erwartet.«

»Offensichtlich«, bestätigte Will. Dann trat er einen Schritt vor und rammte dem Automaten die Seraphklinge in die Brust.

Ein leises, brutzelndes Zischen ertönte, wie von bratendem Frühstücksspeck in einer Pfanne. Während der Automat verwirrt an sich herabschaute, zerbröselte Nakir zu Asche, sodass Will nur noch ein angesengtes Heft in der Hand hielt.

Der Automat lachte leise und blickte zu Will hoch. Seine Augen sprühten vor Leben und Intelligenz – und Will erkannte mit einem beklommenen Gefühl im Magen, dass er etwas gegenüberstand, das er noch nie zuvor gesehen hatte: nicht nur eine Kreatur, die eine Seraphklinge zu Asche verwandeln konnte, sondern auch eine Art Maschine, die genügend logisches und strategisches Denkvermögen besaß, um ein ganzes Dorf niederzubrennen, sodass alle Bewohner auf ihrer Flucht getötet werden konnten.

»Und jetzt dämmert es dir, Nephilim«, höhnte der Dämon, denn darum handelte es sich offensichtlich. »All die Jahre habt ihr uns mit euren runengezeichneten Waffen aus dieser Welt vertrieben. Doch nun besitzen wir Körper, gegen die eure Waffen nichts ausrichten – und diese Welt wird bald uns allein gehören.«

Will hielt den Atem an, als der Dämon sein Langschwert anhob. Er wich einen Schritt zurück … Die Klinge schwang hoch und sauste herab…und Will duckte sich, als im selben Moment etwas an ihm vorbeipreschte, etwas Großes und Schwarzes, das sich aufbäumte und ausschlug und den Automaten mit den Hufen zur Seite trat.

Balios.

Blind streckte Will die Arme aus und ergriff Balios’ Mähne. Der Dämon sprang aus dem Schlamm auf und stürmte mit blitzendem Schwert auf Will zu, während Balios losgaloppierte und Will sich hochzog und auf den Rücken des Pferdes schwang. Gemeinsam preschten sie die Straße hinunter, Will tief über Balios’ Hals gebeugt. Der Wind riss an seinen Haaren und trocknete die feuchten Spuren auf seinen Wangen – Will konnte nicht sagen, ob es sich dabei um Blut oder Tränen handelte.

Tessa saß auf dem Boden ihrer Höhle in Mortmains Festung und starrte benommen ins Feuer.

Das Licht der Flammen tanzte über ihre Hände und ihr blaues Kleid – beides mit Blut befleckt. Sie wusste nicht, wie das passiert war; die Haut an ihrem Handgelenk war wund und Tessa erinnerte sich vage an einen Automaten, der sie festgehalten und ihre Haut mit seinen scharfen Metallfingern aufgeschürft hatte, als sie sich aus der Umklammerung zu befreien versuchte.

Dagegen konnte sie die Erinnerung an das, was Mortmain ihr gezeigt hatte, nicht abschütteln: die Zerstörung des Dorfes in dem kleinen Tal. Mehrere Automaten hatten sie mit verbundenen Augen aus dem Berg hinausgeführt und dann kurzerhand auf einen Felsvorsprung mit direkter Sicht auf den Weiler gestoßen.

»Sehen Sie hin«, hatte Mortmain selbstgefällig gesagt, ohne sie jedoch anzublicken. »Schauen Sie genau zu, Miss Gray, und dann können wir gern weiter von Wiedergutmachung und Erlösung sprechen.«

Tessa hatte reglos dagestanden, im eisernen Griff eines Automaten, der sie von hinten festhielt und ihr eine Hand auf den Mund presste. Gleichzeitig hatte Mortmain ihr all die Dinge zugeraunt, die er ihr antun würde, falls sie es wagte, den Blick von dem Dorf abzuwenden. Hilflos hatte sie zugesehen, wie die Automaten in den Ort marschiert waren und unschuldige Männer, Frauen und Kinder mitten auf der Straße ermordet hatten. Der Mond war mit rötlichem Schein aufgegangen, als die Klockwerk-Armee systematisch Haus für Haus in Brand gesteckt und die fliehenden Bewohner niedergemetzelt hatte.

Und Mortmain hatte gelacht.

»Jetzt begreifen Sie endlich«, hatte er gesagt. »Diese Kreaturen, diese Kreationen, sind fähig, logisch und strategisch zu denken. Genau wie Menschen. Und dennoch sind sie unzerstörbar. Da, sehen Sie selbst: dieser Narr dort drüben mit dem Gewehr.«

Tessa hatte nicht zuschauen wollen, doch ihr war keine andere Wahl geblieben. Mit trockenen, geröteten Augen und zusammengebissenen Zähnen hatte sie zugesehen, wie eine Gestalt in der Ferne sein Gewehr angehoben und geschossen hatte, um sich zu verteidigen. Die Wucht der Treffer hatte einige der Automaten zurückgeworfen, aber nicht handlungsunfähig gemacht. Sie waren unvermindert auf den Mann zugesteuert, hatten ihm die Waffe aus den Händen geschlagen und ihn auf das Kopfsteinpflaster gestoßen.

Und dann hatten sie ihn in Stücke gerissen.

»Dämonen«, hatte Mortmain gemurmelt. »Sie sind wie wilde Bestien und lieben die Zerstörung.«

»Bitte«, hatte Tessa erstickt gefleht. »Aufhören, bitte. Ich tue alles, was von mir verlangt wird, damit sie nur aufhören und das Dorf verschonen.«

Mortmain hatte nur trocken gelacht. »Klockwerk-Kreaturen haben kein Herz, Miss Gray. Und sie kennen kein Erbarmen, nicht mehr und nicht weniger als Feuer oder Wasser. Genauso gut könnten Sie eine Feuersbrunst oder eine Flut anflehen, ihr zerstörerisches Werk einzustellen.«

»Ich bitte nicht die Dämonen«, hatte Tessa erwidert und gleichzeitig aus dem Augenwinkel ein schwarzes Pferd wahrgenommen, das mit einem Reiter auf dem Rücken aus dem Dorf preschte. Hoffentlich jemand, der dem Gemetzel entkam, hatte sie stumm gebetet. »Ich flehe Sie an.«

Daraufhin hatte Mortmain seine kalten, leeren Augen auf Tessa geheftet. »Auch mein Herz kennt kein Erbarmen. Sie haben schon zuvor an mein besseres Ich zu appellieren versucht. Darum habe ich Sie auch hierher bringen lassen: um Ihnen die Sinnlosigkeit dieser lästigen Bemühungen zu verdeutlichen. Ich besitze kein besseres Ich, an das Sie appellieren können – man hat es mir schon vor Jahren restlos herausgebrannt.«

»Aber ich habe doch alles getan, was Sie verlangt haben«, hatte Tessa verzweifelt protestiert. »Für diese Aktion besteht doch gar kein Anlass … ich gebe Ihnen bestimmt keinen Grund …«

»Das Ganze geschieht nicht Ihretwegen«, hatte er entgegnet und den Blick wieder auf seine Kreaturen geheftet. »Die Automaten mussten getestet werden, bevor ich sie in eine Schlacht schicken kann. Ein simpler wissenschaftlicher Test. Sie verfügen nun über Intelligenz. Die Fähigkeit zum strategischen Denken. Nichts kann sich ihnen jetzt noch in den Weg stellen.«

»Dann werden sie sich bestimmt auch gegen Sie wenden.«

»Das werden sie nicht. Ihr Leben ist mit meinem verknüpft. Wenn ich sterbe, werden auch sie vernichtet. Deshalb müssen sie mich beschützen, um selbst weiterexistieren zu können.« Seine Augen hatten kalt und geistesabwesend in die Ferne geblickt. »Doch genug davon. Ich habe Sie hierher gebracht, um Ihnen zu zeigen, dass ich nun einmal bin, wie ich bin. Und Sie werden das akzeptieren. Ihr Klockwerk-Engel schützt zwar Ihr Leben, aber das Leben vieler anderer Unschuldiger liegt in meinen Händen – in Ihren Händen. Stellen Sie meine Geduld nicht auf die Probe, dann wird es auch kein zweites Dorf geben, das wie dieses dem Erdboden gleichgemacht wird. Ich wünsche, von Ihnen keine weiteren ermüdenden Proteste zu hören.«

Ihr Klockwerk-Engel schützt Ihr Leben. Tessa legte die Hand um den Anhänger und spürte das vertraute Ticken unter ihren Fingerspitzen. Sie schloss die Augen, doch die schrecklichen Bilder wollten nicht weichen. In Gedanken sah sie die Nephilim vor sich, hilflos den Automaten ausgeliefert so wie die Dorfbewohner: Jem von Klockwerk-Monstern gevierteilt, Will von Klingen durchbohrt, Henry und Charlotte lichterloh brennend …

Tessa schloss die Hand fest um den Engel, riss ihn sich mit einem Ruck vom Hals und schleuderte ihn auf den unebenen Felsboden, während im selben Moment ein Holzscheit im Kamin verrutschte und einen roten Funkenhagel in alle Richtungen schickte. Im flackernden Schein der Flammen sah Tessa ihre linke Handfläche – die blasse Narbe der Brandwunde, die sie sich selbst zugefügt hatte, an jenem Tag, als sie Will von ihrer Verlobung mit Jem erzählt hatte.

Und genau wie damals griff ihre Hand auch dieses Mal zum Schürhaken. Sie hob ihn an, fühlte sein Gewicht in ihrer Hand. Das erwachte Feuer im Kamin schlug nun hohe Flammen. Tessa sah die Welt wie durch einen goldenen Schleier, als sie den Schürhaken hob und mit Wucht auf den Klockwerk-Engel herabfahren ließ.

Obwohl der Schürhaken aus Eisen geschmiedet war, zerbarst er zu feinem Metallstaub – eine Wolke schimmernder Partikel, die auf den Boden herabrieselte und die Oberfläche des Klockwerk-Engels bedeckte, der unberührt und unversehrt vor Tessa auf dem Boden lag.

Und dann begann der Engel, seine Gestalt zu verändern. Seine Schwingen bebten und seine Lider öffneten sich einen Spalt. Darunter drangen dünne Strahlen weißen Lichts hervor. Wie bei einem Gemälde des Sterns von Bethlehem schwoll das Licht an und sandte breite Strahlen in alle Richtungen. Und dann verdichtete es sich langsam zu einer Gestalt – den Konturen eines Engels.

Die strahlende Gestalt war so hell, dass Tessa kaum direkt in das Licht schauen konnte. Dennoch erkannte sie die verschwommenen Umrisse einer männlichen Gestalt. Sie sah zwei Augen, die weder Iris noch Pupillen besaßen – nur gleißende Kristallflächen, die den Schein des Feuers widerspiegelten. Breite Schwingen ragten hinter den Schultern des Engels auf und jede einzelne Feder war mit einer Spitze aus glänzendem Metall bestückt. Seine Hände ruhten auf dem Heft eines eleganten Schwerts.

Dann heftete er seine strahlenden Augen auf Tessa. Warum versuchst du, mich zu zerstören? Seine Stimme klang lieblich und hallte wie Musik durch Tessas Kopf. Ich beschütze dich doch.

Plötzlich musste Tessa an Jem denken, wie er in seinem Bett gesessen hatte, mit bleichem, fieberglänzendem Gesicht gegen die Kissen gelehnt. Das Leben dreht sich um mehr als nur ums nackte Überleben. »Ich will nicht dich zerstören, sondern mich«, erwiderte Tessa.

Aber warum willst du das tun? Das Leben ist ein Geschenk.

»Ich versuche, das Richtige zu tun«, erklärte Tessa. »Dadurch dass du mich am Leben erhältst, erlaubst du gleichzeitig die Existenz des Bösen, die Existenz eines schrecklichen Übels.«

Böse. Die melodiöse Stimme klang nachdenklich. Ich bin schon so lange in meinem Klockwerk-Gefängnis eingesperrt, dass ich nicht mehr weiß, was Gut und Böse ist.

»Klockwerk-Gefängnis?«, wisperte Tessa. »Aber wie kann das sein, dass ein Engel eingesperrt ist?«

John Thaddeus Shade war derjenige, der mich festgesetzt hat. Er hat meine Seele innerhalb einer Beschwörungsformel eingefangen und dann in diesen mechanischen Korpus gesperrt.

»Genau wie eine Pyxis«, murmelte Tessa. »Nur dieses Mal wurde ein Engel eingesperrt statt eines Dämons.«

Ich bin ein Engel des Himmels, sagte der Engel und schwebte direkt vor ihr. Ich bin ein Bruder der Sijil, Kurabi und Zurah, der Fravashi und Dakini.

»Und … ist dies hier deine wahre Gestalt? Siehst du so aus?«

Du siehst nur einen Bruchteil meines wahren Ichs. In meiner wahren Gestalt bin ich von alles vernichtender, überwältigender Pracht. Mir gehörte die Freiheit des Himmels, ehe ich eingesperrt und an dich gebunden wurde.

»Das tut mir leid«, wisperte Tessa.

Du bist nicht diejenige, die dafür verantwortlich ist. Nicht du hast mich eingesperrt. Unsere Seelen sind zwar miteinander verbunden, doch schon in dem Moment, als ich dich zum ersten Mal im Mutterleib beschützt habe, wusste ich, dass dich keine Schuld trifft.

»Mein Schutzengel.«

Nur wenige können Anspruch auf einen einzelnen Engel erheben, der sie beschützt. Aber du schon.

»Ich möchte aber keinen Anspruch auf dich erheben«, sagte Tessa. »Ich möchte zu meinen eigenen Bedingungen sterben und nicht gezwungen werden, zu Mortmains Bedingungen zu leben.«

Ich kann dich nicht sterben lassen. Tiefer Kummer sprach aus der Stimme des Engels. Sie erinnerte Tessa an Jem, der mit seiner Geige die Musik, die in seinem Herzen wohnte, zum Ausdruck brachte. Das ist mein Mandat.

Tessa hob den Kopf. Der Feuerschein strahlte durch den Engel hindurch wie Sonnenlicht durch einen Kristall und warf einen farbigen Strahlenkranz an die Höhlenwände. Dies hier war kein von Grund auf böser Apparat – dies hier war reine Güte, verdreht und verbogen nach Mortmains Willen, doch von himmlischer Herkunft. »Als du noch ein freier Engel warst«, setzte Tessa an, »wie lautete da dein Name?«

Mein Name lautete Ithuriel.

»Ithuriel«, flüsterte Tessa und streckte dem Engel die Hand entgegen, als könnte sie ihn berühren und ihm irgendwie Trost spenden. Doch ihre Finger griffen ins Leere. Der Engel schimmerte und verblasste und hinterließ nur einen warmen, strahlenden Schein auf der Innenseite ihrer Lider.

Eine Woge kalter Luft streifte Tessa und sie fuhr mit einem Ruck hoch und riss die Augen auf. Sie lag halb ausgestreckt auf dem Steinboden vor dem fast erloschenen Feuer. Der Raum war dunkel, kaum beleuchtet vom rötlichen Schein der Glut im Kamin. Der Schürhaken hing unberührt an seinem Haken. Hektisch griff Tessa sich an den Hals – und fand den Klockwerk-Engel unversehrt an ihrer Kehle.

Ein Traum. Tessa sank der Mut. Es war alles nur ein Traum gewesen. Da war kein Engel, der sie mit seinem Licht umhüllte. Nur dieser kalte Raum, die langsam vordringende Dunkelheit und der Klockwerk-Engel, der beständig tickte und die Minuten bis zum Ende dieser Welt zählte.

Will stand auf dem Gipfel des Cadair Idris, die Zügel seines Pferds fest in der Hand.

Als er in Richtung Dolgellau geritten war, hatte er die massive Wand des Cadair Idris über dem Mündungsgebiet des Mawddach aufragen sehen. Der Anblick hatte ihm kurz den Atem verschlagen – er war daheim. Während seiner Kindheit war er viele Male mit seinem Vater auf diese Berge gestiegen und die damit verbundenen Erinnerungen waren zurückgekehrt, als er die Straße, die von Dinas Mawddwy weiterführte, verlassen und auf Balios’ Rücken höheres Gelände erklommen hatte. Ihr Weg hatte durch einen unkrautumwucherten Bergsee geführt – in der Ferne schimmerten die silbernen Wogen des Meers und in der anderen Richtung ragte der Snowdon auf – bis hinauf zum Tal von Nant Cadair. Darunter lag die Ortschaft Dolgellau mit funkelnden Lichtern – ein pittoresker Anblick, aber Will war nicht hergekommen, um die Aussicht zu bewundern. Dank der Nachtsichtrune, mit der er sich versehen hatte, konnte er die zahlreichen Spuren der Klockwerk-Kreaturen zurückverfolgen. Der Boden war förmlich aufgerissen an den Stellen, an denen sie den Berg hinabgestiegen waren, sodass Will ohne große Mühe, aber mit klopfendem Herzen dem Pfad der Zerstörung in Richtung Gipfel folgte.

Die Spuren führten an einem Haufen gewaltiger Findlinge vorbei, auch als Moräne bezeichnet, wie Will sich erinnerte. Die Felsbrocken bildeten eine Art Wall, der Cwm Cau schützte, ein kleines Tal oberhalb des Bergs, in dessen Zentrum Llyn Cau lag, ein klarer Gletschersee. Die Fußstapfen der Klockwerk-Armee führten zum Rand des Sees …

Und verschwanden.

Will blickte hinab auf die klaren, kalten Fluten. Er erinnerte sich an den atemberaubenden Anblick, den diese Landschaft bei Tageslicht bot: der tiefblaue Llyn Cau, eingerahmt von grünem Gras, und die Sonne auf den zerklüfteten Spitzen des Mynydd Pencoed – der Höhenrücken, der den See umgab. Will fühlte sich unendlich weit von London entfernt.

Das Spiegelbild des Monds glitzerte ihm von der Oberfläche des Sees entgegen. Will seufzte. Das Wasser schwappte sanft ans Ufer, konnte aber die Spuren der Automaten nicht tilgen. Es war offensichtlich, dass sie genau von hier gekommen sein mussten. Will drehte sich um und tätschelte Balios’ Hals. »Warte hier auf mich«, sagte er. »Und falls ich nicht zurückkehre, lauf zum Institut zurück. Sie werden froh sein, dich wiederzusehen, alter Knabe.«

Balios wieherte leise und knabberte an seinem Ärmel, doch Will holte tief Luft und watete in den Llyn Cau hinein. Die kalten Fluten schwappten über seine Stiefel, schlugen gegen seine Hosenbeine und drangen sofort durch das Gewebe. Der Schock der Kälte ließ ihn nach Luft schnappen.

»Und wieder nass«, bemerkte er mürrisch und tauchte dann in die eisigen Fluten des Sees. Das Wasser schien ihn hinabzuziehen wie Treibsand – und Will hatte kaum Zeit, Luft zu holen, ehe die Kälte ihn in die Dunkelheit hinabriss.

Adressat: Charlotte Branwell
Absender: Konsul Wayland

Mrs Branwell,

Sie sind mit sofortiger Wirkung Ihres Amtes als Leiterin des Londoner Instituts enthoben. Ich könnte jetzt von meiner Enttäuschung reden oder dem Vertrauensbund, der zwischen uns einst bestand und nun zerbrochen ist, doch angesichts des Ausmaßes Ihres Verrats sind Worte sinnlos. Ich erwarte, dass Sie und Ihr Ehemann bei meiner morgigen Ankunft in London das Institut bereits verlassen und alle persönlichen Besitztümer entfernt haben. Jede Zuwiderhandlung wird mit der größtmöglichen Härte des Gesetzes bestraft werden.

Josiah Wayland, Konsul der Nephilimgemeinschaft