ALLES ÜBEL UND UNGLÜCK IN DER WELT
Wie blass du bist! Von
hinnen weiche!
Ich folge, doch mein Herz bleibt
hier,
Gebettet gut ist seine Leiche,
Ich bin nun nutzlos für und für.
[…]
Abschiedsgeläute hör ich dröhnen
Wo ich auch bin zu jeder Zeit,
Und »Ave, Ave, Ave« tönen:
Leb wohl, leb wohl in Ewigkeit.
ALFRED LORD TENNYSON, »IN MEMORIAM A.H.H.«
Tessa zitterte; um sie herum war alles dunkel und kaltes Wasser floss um ihren Körper herum. Möglicherweise befand sie sich ja auf dem Grund des Universums, wo der Fluss des Vergessens die Welt in zwei Hälften teilte? Oder lag sie noch immer in dem Wildbach, in dem sie nach dem tiefen Sturz aus der Kutsche gelandet war – und waren sämtliche Ereignisse danach nichts als ein Traum gewesen? Cadair Idris, Mortmain, die Klockwerk-Armee, Wills Arme um ihren Körper …
Eine Mischung aus Schuld und Kummer jagte wie ein Speer durch ihren Leib. Sie bäumte sich auf und ihre Hände suchten krampfhaft nach Halt in der Finsternis. Feuer rann durch ihre Adern – Ströme heißer Höllenqualen. Keuchend schnappte sie nach Luft. Plötzlich spürte sie eine Kälte an ihrem Mund, die ihre Lippen öffnete und wie eisige Säure in ihren Rachen floss. Sie begann, zu würgen und zu schlucken …
Und dann erlosch das Feuer in ihren Adern und wurde durch Eis ersetzt. Ruckartig riss sie die Augen auf, während die Welt sich wie wild um sie drehte und dann langsam zum Stehen kam. Als Erstes sah sie blasse, schlanke Hände, die eine Phiole hielten – die Kälte in ihrem Mund, der Säuregeschmack auf ihrer Zunge –, und dann die Konturen ihres Zimmers im Institut.
»Tessa«, sagte eine vertraute Stimme. »Dieses Mittel wird dich eine Weile bei Bewusstsein halten, aber du darfst nicht zulassen, dass du wieder in das Reich der Dunkelheit und der Träume zurücksinkst.«
Sie erstarrte, wagte nicht, in Richtung der Stimme zu blicken. »Jem?«, flüsterte sie.
Sie hörte, wie die Phiole auf dem Nachttisch abgestellt wurde – und dann einen Seufzer. »Ja«, bestätigte er. »Tessa, bitte schau mich an.«
Tessa drehte den Kopf … und hielt den Atem an: Jem. Er war es tatsächlich – und dann auch wieder nicht.
Er trug die pergamentfarbene Robe der Stillen Brüder, unter der am Kragen jedoch ein ganz normales Hemd hervorschaute. Die Kapuze war nach hinten geschlagen und zeigte sein Gesicht. Tessa konnte nun deutliche Veränderungen darin erkennen, die sie im Lärm und im Chaos der Schlacht unter dem Cadair Idris nur flüchtig wahrgenommen hatte. Auf seinen eleganten Wangenknochen prangten die beiden Runenmale, die ihr zuvor schon aufgefallen waren: lange Schnittwunden, die mit den herkömmlichen Schattenjägerrunen nichts gemein hatten. Sein Haar leuchtete nicht länger durchgehend silbern, sondern war von dunklen Strähnen durchzogen – zweifellos die Haarfarbe, mit der er zur Welt gekommen war. Auch seine einst hellen Wimpern schimmerten nun blauschwarz. Sie wirkten wie feine Seidenfäden auf seiner blassen Haut, die jedoch nicht annähernd mehr so bleich war wie zuvor.
»Wie ist das möglich?«, flüsterte Tessa. »Wie kommt es, dass du hier bist?«
»Die Kongregation hat mich aus der Stadt der Stille hierher geschickt.« Auch seine Stimme klang anders als früher. Sie besaß nun einen kühlen Unterton, etwas, das Tessa nie zuvor an Jem wahrgenommen hatte. »Charlotte hat offenbar ihren Einfluss geltend gemacht. Ich habe exakt eine Stunde, um mit dir zu reden, länger nicht.«
»Eine Stunde«, wiederholte Tessa benommen. Verlegen schob sie sich die Haare aus dem Gesicht. Wie schlimm sie aussehen musste, in ihrem zerknitterten Nachthemd, mit den wirren Zöpfen und den trockenen, spröden Lippen. Automatisch griff ihre Hand zu dem Klockwerk-Engel an ihrem Hals – eine vertraute, gewohnte Geste, die ihr immer Trost gespendet hatte. Doch der Engel war nicht länger dort. »Jem. Ich hab gedacht, du wärst tot.«
»Ja«, sagte Jem. Wieder schwang diese Unnahbarkeit in seinem Tonfall mit – eine distanzierte Kälte, die Tessa an die Eisschollen erinnerte, welche sie von Bord der Main aus gesehen hatte und die einsam und weit verstreut durch die eisigen Fluten getrieben waren. »Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich nicht in der Lage war … dass ich es dir nicht sagen konnte.«
»Ich dachte, du seist tot«, sagte Tessa erneut. »Und jetzt kann ich es kaum glauben, dass du hier wirklich bei mir bist. Ich habe von dir geträumt, wieder und wieder. Da war dieser dunkle Gang und du hast dich von mir entfernt…und so laut ich auch gerufen habe, du konntest, wolltest dich nicht zu mir umdrehen. Vielleicht ist das hier ja auch nur ein Traum.«
»Nein, dies hier ist kein Traum.« Jem erhob sich und trat direkt an ihr Bett, die blassen Hände vor dem Schoß verschränkt. Unwillkürlich musste Tessa daran denken, dass er auf die gleiche Weise dagestanden hatte, als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte: direkt vor ihr, während sie auf dem Bett gesessen und ungläubig zu ihm hochgeschaut hatte, genau wie jetzt auch.
Langsam öffnete er die verschränkten Hände. Auf den Innenflächen entdeckte Tessa dicke schwarze Runen, die genau wie die Runen auf seinen Wangen in die Haut geritzt waren. Da sie mit dem Codex noch nicht allzu vertraut war, konnte sie die Male nicht sofort zuordnen, doch sie erkannte instinktiv, dass es sich nicht um herkömmliche Schattenjägerrunen handelte: Diese Runenmale sprachen von Kräften und Mächten, die weit darüber hinausgingen.
»Du hast mir gesagt, dass es nicht möglich sei … dass du kein Bruder der Stille werden könntest«, flüsterte sie.
Jem wandte sich von ihr ab. Auch seine Bewegungen erschienen ihr nun anders. Seine Motorik hatte bereits etwas von der gleitenden Schwerelosigkeit der Stillen Brüder – ein Anblick, der so schön war wie schrecklich. Was hatte er vor? Konnte er es nicht ertragen, sie anzuschauen?
»Ich habe dir damals das erzählt, von dem ich selbst überzeugt war«, erwiderte Jem, die Augen auf das Fenster geheftet. An seinem Profil konnte Tessa erkennen, dass sein Gesicht nicht mehr so erschreckend hager war wie früher. Die Wangenknochen stachen nicht länger deutlich hervor und seine Schläfen waren nicht mehr so eingefallen. »Und das war auch tatsächlich die Wahrheit, denn das Yin Fen in meinem Blut hat verhindert, dass die Runen der Bruderschaft auf meine Haut aufgetragen werden konnten.« Tessa bemerkte, wie schnell sich seine Brust unter der Robe hob und senkte, und war beinahe verblüfft darüber: Die Notwendigkeit zu atmen erschien ihr so zutiefst menschlich. »Jeder frühere Versuch, einen langsamen Entzug durchzuführen, hatte damit geendet, dass ich fast gestorben wäre. Als meine Yin-Fen-Vorräte aufgebraucht waren und ich nichts mehr nehmen konnte, spürte ich, wie mein Körper von innen nach außen verfiel. Also wusste ich, dass ich nun nichts mehr zu verlieren hatte.« Die Anspannung ließ seine Stimme wärmer klingen. Schwang da etwas Menschliches mit, nahm sie etwa einen Riss in der Rüstung der Bruderschaft wahr? »Ich drängte Charlotte, die Brüder der Stille zu rufen, und als sie im Institut eintrafen, bat ich sie, die Runen der Bruderschaft im letztmöglichen Moment aufzutragen – in dem Moment, in dem das Leben meinen Körper verließ. Ich wusste, dass diese Runen möglicherweise einen qualvollen Tod bedeuteten. Aber es war meine einzige Chance.«
»Du hast mir gesagt, dass du kein Stiller Bruder werden wolltest. Dass du nicht ewig leben wolltest …«
Inzwischen hatte Jem den Raum durchquert und stand nun neben Tessas Frisierkommode. Er beugte sich vor und hob etwas metallisch Glitzerndes aus einem flachen Schmuckschälchen. Überrascht stellte Tessa fest, dass es sich um ihren Klockwerk-Engel handelte. »Er tickt nicht mehr«, bemerkte er. Tessa konnte seine Stimme nicht deuten; sie klang distanziert und so glatt und kalt wie ein Kieselstein.
»Sein Herz ist verschwunden. Als ich mich in den Engel verwandelt habe, da habe ich ihn aus seinem Klockwerk-Gefängnis befreit. Ithuriel ist nicht mehr darin. Er beschützt mich nicht länger.«
Jems Hand schloss sich um den Engel und die scharfen Kanten der Schwingen gruben sich in seine Haut. »Ich muss dir etwas gestehen: Als ich Charlottes Anweisung erhielt, hierher zum Institut zu kommen, geschah das gegen meinen ausdrücklichen Wunsch.«
»Du wolltest mich nicht sehen?«
»Nein. Ich wollte nicht, dass du mich so ansiehst, wie du mich jetzt ansiehst.«
»Jem …« Tessa musste schlucken und schmeckte auf ihrer Zunge noch immer den bitteren Geschmack des Heiltranks, den er ihr verabreicht hatte. Im nächsten Moment drohte eine Flut von Erinnerungen, sie zu überwältigen: die Dunkelheit unter dem Cadair Idris, das brennende Dorf, Wills Arme um ihren Körper … Will. Aber sie hatte geglaubt, Jem sei tot. »Jem«, setzte sie erneut an. »Als ich dich in diesem Höhlenlabyrinth wiedergesehen habe, stark und lebendig, da dachte ich, es müsse ein Traum oder eine Illusion sein. Ich hatte dich für tot gehalten, und das war die dunkelste Stunde meines ganzen Lebens. Bitte, eines musst du mir glauben: Mein Herz jubelt bei deinem Anblick – wo ich doch befürchtet hatte, ich würde dich nie wiedersehen. Es ist nur so … «
Er lockerte den Griff um den Metallengel und Tessa sah Blut in seiner Hand, dort, wo sich die Spitzen der Schwingen in seine Haut gegraben hatten, direkt über die Runen der Bruderschaft. »Ich bin dir fremd«, beendete er den Satz für sie. »Ich erscheine dir nicht menschlich.«
»Du wirst für mich immer ein Mensch bleiben«, wisperte Tessa. »Aber ich erkenne meinen Jem kaum in dir.«
Er schloss die Augen. Tessa rechnete mit dem Anblick dunkler Schatten auf seinen Lidern, doch diese waren verschwunden. »Mir blieb keine andere Wahl. Du warst fort und Will war dir an meiner Stelle nachgeritten. Den Tod habe ich nicht gefürchtet, aber ich fürchtete mich davor, euch beide im Stich zu lassen. Die Bruderschaft war das Einzige, was mir noch blieb. Um weiterzuleben und weiterzukämpfen.« Irgendetwas hatte sich in seine Stimme geschlichen: Leidenschaft schwang darin mit, deutlich spürbar hinter der kühlen Distanz der Stillen Brüder. »Aber ich wusste, was ich damit aufgeben würde«, fuhr er fort. »Einst hast du meine Musik verstanden. Nun siehst du mich so an, als würdest du mich überhaupt nicht kennen. Als ob du mich nie geliebt hättest.«
Rasch schob Tessa die Füße unter der Bettdecke hervor und stand auf – was ein Fehler war. Denn plötzlich wurde ihr furchtbar schwindlig und ihre Knie gaben nach. Hastig streckte sie eine Hand aus, um an einem der Bettpfosten Halt zu suchen, und stellte dann fest, dass sie stattdessen einen Stück von Jems pergamentfarbener Robe umklammerte. Er war ihr blitzschnell zu Hilfe geeilt, mit der anmutigen, lautlosen Bewegungsweise der Brüder, die Tessa immer an wallenden Rauch erinnerte. Dann schlang er die Arme um sie und hielt sie aufrecht.
Tessa erstarrte in seiner Umarmung. Er stand nun dicht vor ihr, so dicht, dass sie eigentlich seine Körperwärme hätte spüren müssen … doch da war nichts. Auch sein typischer Duft nach Kaminfeuer und Karamellzucker war verschwunden. An ihm haftete nur ein schwacher Geruch, kalt und trocken, wie altes Gemäuer oder Papier. Sie konnte den gedämpften Rhythmus seines Herzschlags spüren, den Puls an seiner Kehle sehen. Verwundert schaute sie ihn an, prägte sich die Konturen und Flächen seines Gesichts ein, die Narben auf seinen Wangen, die seidigen Wimpern, die geschwungene Form seines Mundes.
»Tessa.« Ihr Name drang wie ein Stöhnen über seine Lippen, als hätte sie ihn geschlagen. Ein Hauch von Farbe war in seine Wangen zurückgekehrt, wie Blut unter Schnee. »Oh Gott«, stieß er hervor und begrub sein Gesicht in Tessas Halsbeuge, drückte seine Wange in ihr Haar. Seine Hände lagen flach auf ihrem Rücken, pressten sie fest an sich. Tessa konnte spüren, dass er am ganzen Leib zitterte.
Einen Moment lang fühlte sie sich wie berauscht, vor Erleichterung und dem Gefühl, Jems Körper unter ihren Händen zu spüren. Vielleicht konnte man manche Dinge ja erst dann wirklich glauben, wenn man sie berührt hatte. Und hier stand Jem nun, den sie für tot gehalten hatte, und hielt sie in seinen Armen, warm und lebendig.
»Du fühlst dich genauso an wie früher«, murmelte sie. »Aber du siehst so anders aus. Du bist anders.«
Bei diesen Worten löste Jem sich schließlich von ihr, mit einer Anstrengung, die die Stränge seiner Halsmuskeln hervortreten und ihn auf die Lippe beißen ließ. Er nahm sie sanft bei den Schultern und führte sie wieder zum Bett, damit sie sich hinsetzen konnte. Dann gab er sie frei, ballte die Hände zu Fäusten und ging einen Schritt zurück. Tessa konnte seinen stoßweisen Atem und den schnellen Puls an seiner Kehle sehen.
»Ich bin anders«, bestätigte er mit leiser Stimme. »Ich habe mich verändert. Und nicht auf eine Weise, die rückgängig gemacht werden könnte.«
»Aber du bist noch nicht vollständig einer von ihnen«, bemerkte Tessa. »Du kannst reden … und sehen …«
Langsam holte Jem Luft. Er starrte auf den Bettpfosten, als enthielte dieser die Antworten auf alle Geheimnisse des Universums. »Die Wandlung ist ein langwieriger Prozess, mit einer Reihe von Ritualen und Handlungen. Du hast recht: Ich bin noch kein Bruder der Stille. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.«
»Dann hat das Yin Fen diesen Vorgang also doch nicht verhindert.«
»Beinahe wäre das passiert. Die ersten Runen waren mit … Schmerzen verbunden. Großen Schmerzen, die mich fast getötet hätten. Die Brüder haben getan, was sie konnten. Aber ich werde nie wie die anderen Brüder der Stille sein.« Jem schaute zu Boden und seine Wimpern verschleierten seine Augen. »Ich werde nicht … wie sie sein, nicht so mächtig. Denn es wird immer ein paar Runen geben, deren Anwendung ich nicht überleben würde.«
»Aber könnten die Brüder nicht einfach warten, bis das Yin Fen deinen Körper vollständig verlassen hat?«
»Das wird nie geschehen. Was die Substanz betrifft, bleibt mein Körper immer in dem Zustand, in dem er sich befand, als die ersten Runen aufgetragen wurden.« Er deutete auf die Narben in seinem Gesicht. »Aus diesem Grund werde ich bestimmte Fähigkeiten nicht erreichen können. Und es wird mich viel mehr Zeit kosten, ihr Sehvermögen und ihre telepathischen Fähigkeiten zu erlernen.«
»Bedeutet das, dass sie dir nicht die Augen nehmen werden … und deine Lippen nicht mit Nähten verschließen?«
»Ich weiß es nicht.« Jems Stimme klang nun sanft, beinahe so wie früher. Seine Wangen waren gerötet und erinnerten Tessa an eine blasse Marmorstatue, die sich langsam mit Blut füllte. »Ich werde für sehr lange Zeit bei den Stillen Brüdern bleiben. Vielleicht sogar für immer. Aber ich kann dir nicht sagen, was genau geschehen wird. Ich habe ihnen mein Leben anvertraut. Mein Schicksal liegt nun in ihren Händen.«
»Und wenn wir dich von ihnen lossagen könnten …«
»Dann würde das verbliebene Yin Fen in meinem Körper mich von innen verbrennen und ich wäre wieder das, was ich auch vorher war: ein Drogenabhängiger, der im Sterben liegt. Dies hier ist meine eigene Entscheidung, Tessa, denn die Alternative wäre der Tod. Du weißt, dass ich recht habe. Aber es ist nicht so, dass ich dich verlassen wollte. Obwohl ich wusste, dass der Beitritt zur Bruderschaft mein Leben retten würde, habe ich mich lange dagegen gesträubt, als wäre es eine Gefängnisstrafe. Stille Brüder können nicht heiraten. Sie können keinen Parabatai haben. Sie können nur in der Stadt der Stille leben. Sie lachen nicht und können nicht musizieren.«
»Ach, Jem«, sagte Tessa. »Die Brüder können vielleicht nicht musizieren, aber Tote genauso wenig. Wenn dies die einzige Möglichkeit ist, dass du leben kannst, dann freue ich mich mit ganzer Seele für dich, auch wenn mein Herz blutet.«
»Etwas anderes hätte ich von dir auch nie erwartet, dafür kenne ich dich zu gut.«
»Und ich kenne dich zu gut, um nicht zu spüren, dass du von Schuldgefühlen belastet bist. Aber warum? Du hast doch nichts Falsches getan.«
Jem senkte den Kopf, bis seine Stirn gegen den Bettpfosten lehnte. Dann schloss er die Augen. »Das ist der Grund, warum ich nicht herkommen wollte.«
»Aber ich bin doch gar nicht zornig …«
»Ich habe auch nicht gedacht, dass du zornig sein würdest«, platzte Jem heraus; seine Stimme klang wie brechendes Eis, wie das ruckartige Tauen eines erstarrten Wasserfalls, das einen regelrechten Sturzbach freisetzt. »Wir waren verlobt, Tessa. Ein Heiratsantrag – ein Eheversprechen – ist ein Gelöbnis. Das Gelöbnis, einander für immer zu lieben und zu ehren. Ich hatte nicht vor, mein Versprechen an dich zu brechen. Aber ich musste eine Entscheidung treffen: Bruderschaft oder Tod. Ich wollte ja warten, dich heiraten und viele Jahre mit dir glücklich sein, doch das war nicht möglich. Meine Kräfte schwanden zu schnell. Ich hätte mein Leben aufgegeben, hätte alles aufgegeben, nur um einen einzigen Tag mit dir vermählt zu sein. Aber dieser Tag sollte niemals kommen. Dein Anblick ist eine Erinnerung … eine schmerzhafte Erinnerung an all das, was ich verloren habe. An das Leben, das ich nicht führen werde.«
»Dein Leben aufgeben für einen einzigen Tag Ehe – das wäre es nicht wert gewesen«, erwiderte Tessa. Ihr Herz klopfte eine Nachricht, die von Wills Armen um ihren Körper berichtete, von seinen Lippen auf ihren, in dieser dunklen Höhle unter dem Cadair Idris. Sie verdiente Jems sanfte Bekenntnisse, seine Reue und seine Sehnsucht überhaupt nicht. »Jem, ich muss dir etwas sagen.«
Er schaute sie an. Tessa konnte seine dunklen Pupillen sehen, umgeben von schwarzen Punkten in der silberhellen Iris, wunderschön und ungewohnt zugleich.
»Es geht um Will. Um Will und mich«, setzte Tessa an.
»Er liebt dich«, sagte Jem. »Ich weiß, dass er dich liebt. Wir haben darüber gesprochen, bevor er von hier aufbrach.« Obwohl der kühle Ton in seine Stimme zurückgekehrt war, klang er plötzlich fast unnatürlich ruhig.
Tessa war geschockt. »Ich wusste ja gar nicht, dass ihr untereinander darüber gesprochen habt. Will hat nie etwas erwähnt.«
»Genauso wenig hast du mir von seinen Gefühlen erzählt, obwohl du seit Monaten davon wusstest. Wir alle haben unsere Geheimnisse, die wir wahren, um diejenigen nicht zu verletzen, die uns lieben.« Es schien, als würde eine Art Warnung in seiner Stimme mitschwingen. Oder bildete sie sich das nur ein?
»Ich möchte vor dir aber keine Geheimnisse mehr haben«, sagte Tessa. »Ich habe gedacht, du seist tot. Sowohl Will als auch ich … wir haben das beide angenommen. Am Cadair Idris …«
»Hast du mich geliebt?«, unterbrach Jem sie. Die Frage erschien merkwürdig und dennoch stellte er sie ohne Andeutungen oder Feindseligkeit und wartete schweigend auf ihre Antwort.
Sie schaute ihn an und plötzlich hörte sie wieder Woolseys Worte, wie ein geflüstertes Gebet: Die meisten Leute dürfen sich glücklich schätzen, wenn sie in ihrem Leben auch nur einer einzigen großen Liebe begegnen. Und Sie haben gleich zwei gefunden. Für den Moment schob Tessa ihr Geständnis beiseite. »Ja, ich habe dich geliebt. Ich liebe dich noch immer. Und ich liebe auch Will. Ich kann es nicht erklären. Als ich deinen Heiratsantrag angenommen habe, war mir das nicht bewusst. Ich habe dich geliebt, liebe dich noch immer. Und meine Liebe zu ihm hat meine Liebe zu dir nicht ein bisschen geschmälert. Das mag verrückt klingen, aber wenn es irgendjemanden gibt, der es versteht …«
»Ich verstehe es in der Tat«, sagte Jem. »Du brauchst mir nicht mehr über dich und Will zu erzählen. Nichts, was ihr getan haben könntet, kann bewirken, dass ich einen von euch beiden weniger liebe. Will ist ein Teil von mir, ein Teil meiner Seele…und wenn ich nicht länger der Hüter deines Herzens sein kann, gibt es niemand anderen, dem ich diese Ehre lieber anvertrauen würde. Und wenn ich fort bin, musst du Will helfen. Die kommende Zeit wird hart, sehr hart für ihn.«
Tessa musterte Jems Gesicht eindringlich. Das Blut war aus seinen Wangen gewichen; er wirkte blass, aber gefasst, mit einem entschlossenen Zug um die Mundwinkel. Dieser Ausdruck sagte ihr alles, was sie wissen musste: Erzähl mir nicht mehr. Ich will es nicht wissen.
Manche Geheimnisse durfte man nicht wahren, überlegte Tessa, aber andere musste man in seinem Herzen einschließen, damit sie anderen Menschen keinen Schmerz zufügten. Aus diesem Grund hatte sie damals Will auch ihre Liebe nicht gestanden – weder sie noch er hätten irgendetwas an der Situation ändern können.
Tessa schluckte die Worte, die sie eigentlich hatte sagen wollen, hinunter und meinte stattdessen: »Ich weiß nicht, wie ich ohne dich sein soll.«
»Ich stelle mir selbst die gleiche Frage. Ich möchte dich nicht verlassen. Ich kann dich nicht verlassen. Aber wenn ich bleibe, werde ich hier sterben.«
»Nein. Du darfst nicht bleiben. Du darfst auf keinen Fall hierbleiben, Jem. Versprich mir, dass du in die Stadt der Stille zurückkehrst. Werde einer der Stillen Brüder, anstatt hierzubleiben und zu sterben. Ich würde dir ja sagen, dass ich dich hasse – wenn ich wüsste, dass du mir glauben würdest, und wenn ich dich damit zum Gehen bewegen könnte. Ich möchte, dass du lebst. Auch wenn das bedeutet, dass ich dich nie wiedersehen werde.«
»Doch, du wirst mich wiedersehen«, sagte Jem leise und hob den Kopf. »Genau genommen, besteht vielleicht sogar die Chance … nur eine Chance, aber …«
»Aber was?«
Er schwieg, zögerte und schien über irgendetwas nachzudenken. »Nichts. Reine Dummheit.«
»Jem!«
»Du wirst mich wiedersehen, aber nicht oft. Ich habe meinen neuen Weg gerade erst eingeschlagen und das Leben der Bruderschaft unterliegt vielen Vorschriften. Ich werde mich immer weiter von meinem früheren Dasein entfernen, aber ich kann nicht sagen, welche Fähigkeiten ich haben oder welche Narben ich tragen werde. Und ich weiß auch nicht, inwieweit ich mich verändern werde. Ich fürchte, ich werde mich selbst und meine Musik verlieren. Und mich in jemanden verwandeln, der nicht mehr durch und durch menschlich ist. Aber eines weiß ich gewiss: Ich werde nicht mehr dein Jem sein.«
Tessa konnte nur den Kopf schütteln. »Aber die Brüder der Stille…sie besuchen doch regelmäßig andere Schattenjäger…Kannst du denn nicht …?«
»Nicht während der Ausbildung. Und selbst danach haben sie nur selten Kontakt zu anderen Nephilim. Man sieht uns lediglich, wenn jemand krank ist oder im Sterben liegt, bei der Geburt eines Kindes, beim Ritus der Ersten Rune oder bei der Parabatai-Zeremonie … aber sofern wir nicht ausdrücklich dazu aufgefordert werden, kommen wir nicht in die Häuser anderer Nephilim.«
»Dann wird Charlotte dich rufen.«
»Sie hat mich bereits dieses Mal herbestellt, aber das kann sie nicht wieder und wieder tun, Tessa. Ein Schattenjäger kann die Brüder der Stille nicht ohne wichtigen Grund herbeirufen.«
»Aber ich bin keine Schattenjägerin«, warf Tessa ein. »Jedenfalls keine richtige.«
Einen Moment lang herrschte Stille im Raum und die beiden sahen einander an. Beide stur. Beide reglos und unnachgiebig.
Schließlich fragte Jem leise: »Erinnerst du dich noch daran, wie wir gemeinsam auf der Blackfriars Bridge gestanden haben?« Seine Augen schimmerten in denselben Farben, die die Nacht damals gehabt hatte: Schwarz und Silber.
»Natürlich erinnere ich mich daran.«
»Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal erkannt habe, dass ich dich liebe«, erklärte Jem. »Ich werde dir jetzt ein Versprechen geben: Jedes Jahr zur selben Zeit werde ich dich auf dieser Brücke treffen, Tessa. Ich werde die Stadt der Stille verlassen und dich dort treffen. Und wir werden zusammen sein, wenn auch nur für eine Stunde. Aber du darfst niemandem davon erzählen.«
»Eine Stunde jedes Jahr«, sagte Tessa leise, »das ist nicht viel.« Doch dann fasste sie sich und holte tief Luft. »Aber du wirst nicht sterben. Du wirst leben. Und das ist das Wichtigste. Ich werde nicht dein Grab besuchen müssen.«
»Nein. Jedenfalls nicht für lange, lange Zeit«, sagte er und die Distanz war in seine Stimme zurückgekehrt.
»Dann ist das ein Wunder«, sagte Tessa. »Und man hinterfragt schließlich keine Wunder oder beschwert sich darüber, dass sie nicht hundertprozentig den eigenen Wünschen entsprechen.« Ihre Hand griff zum Jadeschmuck an ihrem Hals. »Möchtest du den Anhänger zurück?«
»Nein, behalte ihn«, sagte Jem. »Ich werde niemand anderes mehr heiraten. Und ich möchte das Hochzeitsgeschenk meiner Mutter nicht in die Stadt der Stille mitnehmen.« Er streckte den Arm aus und berührte behutsam Tessas Wange, ein sanftes Streicheln von Haut auf Haut. »Wenn ich in der Dunkelheit bin, möchte ich mir vorstellen, dass er sich im Licht befindet, zusammen mit dir«, fügte er hinzu, straffte dann die Schultern und wandte sich zur Tür. Dabei bewegte sich die pergamentfarbene Robe der Bruderschaft lautlos um seine Füße.
Tessa schaute ihm wie gelähmt nach, während jeder Schlag ihres Herzens die Worte rief, die sie nicht sagen konnte: Leb wohl. Leb wohl. Leb wohl.
An der Tür hielt Jem noch einmal inne. »Ich sehe dich dann auf der Blackfriars Bridge, Tessa.«
Und damit war er fort.
Als Will die Augen schloss, konnte er die Geräusche des Instituts hören, das früh am Morgen zum Leben erwachte. Oder zumindest konnte er sie sich vorstellen: Sophie beim Decken des Frühstücktischs; Charlotte und Cyril, die Henry in seinen Stuhl halfen; die Lightwood-Brüder, die sich im Flur – noch ein wenig verschlafen – zankten; Cecily, die zweifellos vor seiner Zimmertür stand, um mit ihm zu reden, so wie sie es schon mehrfach getan und dabei jedes Mal – vergeblich – versucht hatte, ihre offensichtliche Sorge um ihn zu verbergen.
Und Jem und Tessa, die sich in Tessas Zimmer unterhielten.
Will wusste, dass Jem im Institut sein musste, weil die Kutsche der Bruderschaft im Innenhof stand; er konnte sie vom Fenster des Fechtsaals aus sehen. Aber darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Obwohl er Charlotte selbst darum gebeten hatte, musste er nun, da sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, dennoch feststellen, dass er sich nicht überwinden konnte, zu lange darüber nachzudenken. Und deshalb hatte es ihn in den Raum gezogen, den er immer aufsuchte, wenn ihn etwas bedrückte. Seit dem Sonnenaufgang hatte er Messer für Messer auf die Zielscheibe geworfen und inzwischen war sein Hemd schweißgetränkt und klebte an seinem Rücken.
Pfump. Pfump. Pfump. Die Messer trafen die Holzwand, jedes mitten ins Zentrum der Zielscheibe. Will erinnerte sich daran, wie er als Zwölfjähriger nur davon hatte träumen können, ein Messer auch nur in die Nähe der Zielscheibe zu bringen. Jem hatte ihm geholfen: Er hatte ihm gezeigt, wie man die Klinge halten, das Messer auf das Ziel ausrichten und dann werfen musste. Von allen Räumen des Instituts war der Fechtsaal der Ort, den er am stärksten mit Jem in Verbindung brachte – abgesehen von Jems eigenem Zimmer, aus dem man Jems persönliche Sachen aber inzwischen entfernt hatte. Der Raum war wieder ein ganz normales Gästezimmer des Instituts, das auf den Besuch des nächsten Schattenjägers wartete. Sogar Church schien das Zimmer nicht mehr betreten zu wollen; manchmal stand er noch wartend vor der Tür, aber er schlief nicht mehr auf dem Bett, wie er es während Jems Anwesenheit so oft getan hatte.
Will überlief ein Frösteln: Zu dieser frühen grauen Morgenstunde war es im Fechtsaal ziemlich kalt. Das Feuer im Kamin war fast heruntergebrannt, ein ungefährlicher Schatten rötlich und golden schimmernder Glut. Vor seinem inneren Auge sah Will wieder zwei Jungen, die in diesem Raum auf dem Boden vor dem knisternden Kaminfeuer gesessen hatten: ein Junge mit pechschwarzen Locken und einer mit schneeweißem Haar. Damals hatte er Jem beigebracht, wie man Écarté spielte, mit einem Kartendeck, das er aus dem Salon stibitzt hatte.
Irgendwann hatte Will dann – verärgert, dass er das Spiel zu verlieren drohte – die Karten ins Feuer geworfen und fasziniert zugesehen, wie sie eine nach der anderen verbrannten, während die Flammen sich gierig durch das glänzende Papier fraßen. Und Jem hatte gelacht: »So kannst du nicht gewinnen.«
»Manchmal ist das die einzige Möglichkeit zu gewinnen«, hatte Will erwidert. »Einfach alles niederbrennen.«
Nun marschierte er mit finsterer Miene zur Zielscheibe. Einfach alles niederbrennen. Er hatte noch immer Schmerzen am ganzen Körper. Während er die Messer aus dem Holzbrett zog, sah er die blaugrün schillernden Blutergüsse auf seinen Armen, die trotz der Iratze noch nicht verheilt waren, sowie mehrere Narben von der Schlacht unter dem Cadair Idris, die wohl nie mehr verschwinden würden. Seine Gedanken kehrten zu der Höhle zurück, in der Jem und er Seite an Seite die Automaten niedergemetzelt hatten. In dem Augenblick hatte er das gar nicht richtig zu schätzen gewusst: der letzte gemeinsame Kampf.
Wie als Antwort auf seine Gedanken fiel im nächsten Moment ein Schatten durch die Tür. Will schaute auf – und beinahe wäre ihm das Messer aus der Hand geglitten. »Jem?«, fragte er. »James, bist du das?«
»Wer sonst?«, erwiderte Jem. Als er ins Licht des Fechtsaals trat, sah Will, dass er die Kapuze seiner Robe zurückgeschlagen hatte und ihn direkt anschaute. Sein Gesicht, seine Augen waren so vertraut wie immer. Aber bisher hatte Will Jem immer schon spüren können, bevor dieser einen Raum betrat. Und die Tatsache, dass Jem ihn dieses Mal überrascht hatte, erinnerte ihn schmerzlich an die Veränderungen, die sein Parabatai durchgemacht hatte.
Er ist nicht länger dein Parabatai, nicht mehr, sagte eine kleine Stimme in seinem Inneren.
Mit den lautlosen Bewegungen der Stillen Brüder schloss Jem die Tür hinter sich und drehte sich wieder zu Will um. Will rührte sich nicht von der Stelle. Er fühlte sich nicht dazu in der Lage. Jems Anblick unter dem Cadair Idris war wie ein Schock gewesen, ein schreckliches und zugleich wundervolles Leuchten, das durch seinen ganzen Körper gegangen war – Jem lebte, aber er hatte sich verändert. Er lebte, war jedoch für immer verloren.
»Aber …«, setzte Will an, »du bist doch hier, um Tessa zu besuchen.«
Jem musterte ihn ruhig. Seine Augen schimmerten grauschwarz, wie Schiefer mit dunklen Obsidian-Einschlüssen. »Und du hast nicht gedacht, dass ich die Gelegenheit, jede sich bietende Gelegenheit, dazu nutzen würde, auch dich zu sehen?«
»Ich war mir nicht sicher. Nach der Schlacht bist du einfach gegangen, ohne ein Lebewohl.«
Jem bewegte sich in den Raum hinein. Will spürte, wie er erstarrte. Etwas Seltsames, zutiefst Fremdes ging von Jems Bewegungen aus: Dies war nicht mehr der elegante Schattenjägergang, den Will durch jahrelanges Training zu kopieren gelernt hatte, sondern etwas Eigentümliches, Unbekanntes und Neues.
Jem musste eine Veränderung in Wills Gesicht bemerkt haben, denn er hielt abrupt inne. »Wie könnte ich dir Lebewohl sagen?«
Will ließ das Messer aus der Hand gleiten. Es bohrte sich mit der Spitze in das Holz des Parkettbodens. »So wie alle Schattenjäger? Ave atque vale. Und in Ewigkeit sei gegrüßt und leb wohl, mein Bruder.«
»Aber das sind die Worte des Todes. Catull sprach sie am Grab seines verstorbenen Bruders, oder nicht? Multas per gentes et multa per aequora vectus advenio has miseras, frater, ad inferias …«
Will kannte die Worte. Viele der Länder und viele der Meere nun hab ich durchfahren, Ziel meiner Reise ist dies, Bruder: der traurige Kult, dass ich dich zuallerletzt mit der Totengabe beschenke. Und in Ewigkeit sei gegrüßt und leb wohl, mein Bruder. Verwundert starrte er Jem an. »Du … hast das Gedicht auf Latein auswendig gelernt? Aber du hast dir doch immer Musik besser merken können als Worte …« Er verstummte und lachte dann kurz: »Ach, schon gut. Die Rituale der Bruderschaft dürften auch das geändert haben.« Er wandte sich ab, ging ein paar Schritte und wirbelte dann wieder zu Jem herum. »Deine Geige ist im Musikzimmer. Ich war davon ausgegangen, dass du sie mitnehmen würdest … dir hat doch immer so viel an ihr gelegen.«
»Wir dürfen keine persönlichen Dinge in die Stadt der Stille mitbringen, nichts außer unserem Körper und unserem Verstand«, erwiderte Jem. »Ich habe die Geige hiergelassen … für zukünftige Schattenjäger, die vielleicht darauf spielen wollen.«
»Dann also nicht für mich.«
»Es wäre mir eine Ehre, wenn du sie an dich nehmen und sie pflegen würdest. Aber ich habe etwas anderes speziell für dich zurückgelassen: In deinem Zimmer findest du mein Yin-Fen-Kästchen. Ich dachte, dass du es vielleicht haben möchtest.«
»Das ist ein sehr grausames Geschenk«, entgegnete Will. »Ein Geschenk, das mich immer daran erinnert …« Wodurch du mir genommen wurdest. Was dir solche Qualen bereitet hat. Was ich gesucht, aber dann doch nicht gefunden habe. Wie sehr ich dich im Stich gelassen habe.
»Aber nein, Will«, widersprach Jem sofort, der Will – wie stets – auch ohne Worte verstand. »Das Kästchen hat nicht immer meine Arznei enthalten. Es hat mal meiner Mutter gehört. Auf dem Deckel ist die Göttin Guanyın abgebildet. Es heißt, als sie starb und die Tore des Paradies erreichte, hielt sie inne. Und als sie die Schreie der Qual leidenden Seelen hörte, die aus der Menschenwelt zu ihr hinaufdrangen, brachte sie es nicht übers Herz, sich von ihnen abzuwenden. Sie blieb, um den Sterblichen zu helfen, wenn diese sich nicht selbst helfen können. Sie ist die Trösterin aller leidenden Herzen.«
»Ein Kästchen wird mich nicht trösten.«
»Veränderung muss nicht immer auch Verlust bedeuten, Will.«
Will fuhr sich mit den Händen durch die verschwitzten Haare. »Oh ja«, erwiderte er bitter. »Möglicherweise in einem anderen Leben, jenseits dieser Existenz, wenn wir den großen Fluss überquert haben oder sich das Rad des Lebens gedreht hat oder wie auch immer du es sonst beschreiben willst, dass du aus dieser Welt scheidest … vielleicht werde ich dann ja meinen Freund, meinen Parabatai wiederfinden. Doch jetzt habe ich dich erst einmal verloren – jetzt, da ich dich dringender brauche denn je!«
Jem hatte den Saal durchquert wie ein flüchtiger Schatten, mit der Anmut der Stillen Brüder, und stand nun neben dem Kamin. Der schwache Feuerschein beleuchtete sein Gesicht und Will konnte erkennen, dass er von innen heraus zu strahlen schien: eine Art Licht, das vorher nicht da gewesen war. Natürlich hatte Jem immer unbändigen Lebenswillen und überwältigende Güte ausgestrahlt, doch das hier war etwas völlig anderes. Das Licht in Jem schien zu funkeln – weit entfernt und einsam, wie das Licht eines Sterns. »Du brauchst mich nicht mehr, Will«, sagte er.
Will schaute an sich herab, auf das Messer zu seinen Füßen und erinnerte sich an den Dolch, den er am Fuß jenes Baums an der Straße zwischen Shrewsbury und Welshpool vergraben hatte, beklebt mit Jems und seinem Blut. »Mein ganzes Leben lang, seit meiner Ankunft im Institut, bist du immer der Spiegel meiner Seele gewesen. Ich habe das Gute in mir in deinen Augen gesehen. Nur in deinen Augen habe ich Gnade gefunden. Wenn du fort bist, wer wird mich dann noch so sehen?«
Einen Moment lang herrschte Stille. Jem stand reglos wie eine Statue da. Will betrachtete ihn, suchte und fand die Parabatairune unterhalb von Jems Schulter; genau wie seine eigene war auch sie verblasst.
Endlich räusperte Jem sich. Die kühle Distanz in seiner Stimme war verschwunden. Will holte tief Luft und erinnerte sich daran, wie sehr ihn diese Stimme in den vergangenen Jahren geprägt hatte, ihre ruhige, beständige Freundlichkeit wie der Lichtstrahl eines Leuchtturms in tiefer Dunkelheit. »Hab Vertrauen in dich. Du kannst dein eigener Spiegel sein«, sagte Jem.
»Aber was, wenn ich das nicht kann?«, flüsterte Will. »Ich weiß ja nicht mal, wie ich ohne dich ein Schattenjäger sein soll. Ich habe immer nur mit dir an meiner Seite gekämpft.«
Jem trat vor und dieses Mal wich Will nicht zurück. Er kam nun so nah heran, dass er ihn hätte berühren können. Geistesabwesend dachte Will einen Moment darüber nach, dass er noch nie so nahe vor einem Bruder der Stille gestanden hatte. Nun fiel ihm auf, dass die pergamentfarbene Robe aus einem eigentümlichen hellen Gewebe gewirkt war, wie die Rinde eines Baums, und dass von Jems Haut eine Kühle auszugehen schien, so wie ein Stein selbst an einem heißen Tag immer eine gewisse Kälte abstrahlte.
Jem legte einen Finger unter Wills Kinn und zwang ihn, ihm direkt in die Augen zu schauen. Die Berührung seiner Hand fühlte sich kühl an.
Will biss sich auf die Lippe. Dies war möglicherweise das letzte Mal, dass Jem ihn – als Jem – berühren würde. Die Erinnerung an all die vorherigen Momente fuhr ihm wie eine Messerklinge ins Herz: Jems leichte Berührung an seiner Schulter; seine Hand, die sich ihm entgegenstreckte, um ihm nach einem Sturz aufzuhelfen; Jem, der ihn zurückhielt, wenn er wütend losstürmen wollte; seine eigenen Hände auf Jems hageren Schultern, als Jem immer häufiger Blut gespuckt hatte.
»Hör mir zu«, sagte Jem. »Ich gehe fort, aber ich werde leben. Ich werde dich nicht endgültig verlassen, Will. Wenn du kämpfst, werde ich noch immer bei dir sein. Wenn du durch diese Welt gehst, werde ich das Licht an deiner Seite, der feste Boden unter deinen Füßen sein und die Kraft, die das Schwert in deiner Hand führt. Wir sind miteinander verbunden, über den Eid hinaus. Die Runenmale haben daran nichts geändert. Der Eid hat daran nichts geändert. Er hat lediglich etwas in Worte gefasst, das bereits zwischen uns existierte.«
»Aber was ist mit dir?«, fragte Will. »Sag mir, was ich tun kann, denn du bist mein Parabatai und ich möchte nicht, dass du allein in die Schatten der Stillen Stadt zurückkehren musst.«
»Mir bleibt keine andere Wahl. Aber wenn es etwas gibt, das ich mir von dir wünsche, dann wäre das Glück: Ich möchte, dass du glücklich bist, dass du eine Familie gründest und mit deinen Lieben an deiner Seite alt wirst. Und falls du Tessa heiraten willst, möchte ich, dass du dich durch die Erinnerung an mich nicht davon abhalten lässt.«
»Möglicherweise will sie mich ja gar nicht«, gab Will zu bedenken.
Jem lächelte flüchtig. »Nun ja, das liegt dann wohl ganz bei dir.«
Will erwiderte das Lächeln und für einen Moment waren sie wieder Jem und Will, so wie früher. Will sah Jem, aber auch durch ihn hindurch, sah Bilder ihrer gemeinsamen Vergangenheit: Sie beide in den dunklen Gassen der ärmeren Viertel Londons, wie sie von Dach zu Dach gesprungen waren, leuchtende Seraphklingen in der Hand; sie beide im Fechtsaal bei stundenlangem Training. Wie sie sich gegenseitig in Matschpfützen geschubst hatten, wie sie Jessamine im Innenhof mit Schneebällen bombardiert hatten, wie sie wie Welpen völlig ermattet auf dem Teppich vor dem offenen Kamin eingeschlafen waren.
Ave atque vale, dachte Will. Sei gegrüßt und leb wohl. Bisher hatte er diesen Worten keine besondere Beachtung geschenkt, hatte nie darüber nachgedacht, warum sie nicht nur einen Abschied enthielten, sondern auch eine Begrüßung. Jede Zusammenkunft führte unweigerlich zu einer Trennung und daran würde sich nichts ändern, solange das Leben endlich war. Jede Zusammenkunft trug einen Hinweis auf den Schmerz der Trennung in sich, aber in jeder Trennung schwang auch die Freude über ein zukünftiges Wiedersehen mit.
Und er würde diese Freude nicht vergessen.
»Wir haben eben darüber gesprochen, wie wir Lebewohl sagen sollen«, setzte Jem an. »Als Jonathan sich von David verabschiedete, sagte er ›Gehe hin mit Frieden! Was wir beide geschworen haben im Namen des HERRN und gesagt: Der HERR sei zwischen mir und dir, das bleibe ewiglich.‹ Die beiden sind einander nie wieder begegnet, aber sie haben sich auch nicht vergessen. Und das Gleiche gilt für uns. Wenn ich erst Bruder Zachariah bin, wenn ich diese Welt nicht mehr mit menschlichen Augen sehe, wird ein Teil von mir dennoch immer der Jem bleiben, den du gekannt hast. Und ich werde dich mit dem Herzen sehen.«
»Wo men shi sheng si ji jiao«, flüsterte Will und bemerkte, wie Jems Augen sich einen Hauch weiteten und ihn leicht amüsiert musterten. »Gehe hin mit Frieden, James Carstairs.«
Die beiden schauten einander ein letztes Mal lange an, dann schlug Jem seine Kapuze hoch, verbarg das Gesicht in den Schatten und wandte sich zum Gehen.
Will schloss die Augen. Er konnte nicht hören, wie Jem den Saal verließ, nicht mehr. Und er wollte es auch gar nicht wissen, wollte nicht wissen, wann Jem gegangen und er allein war und wann sein erster Tag als Schattenjäger ohne einen Parabatai wahrhaftig begann. Und als sich die Stelle über seinem Herzen, an der sich einst seine Parabatairune befunden hatte, mit einem plötzlichen Schmerz meldete, während die Tür hinter Jem ins Schloss fiel, redete Will sich ein, dass es sich um einen aufgewirbelten Funken aus der Glut im Kamin gehandelt haben musste.
Er lehnte sich an die Wand, rutschte langsam daran herunter, bis er auf dem Boden saß, neben seinem Wurfmesser. Will vermochte nicht zu sagen, wie lange er dort hockte, aber er hörte das Klappern von Hufen im Innenhof, das Rattern der Kutsche, die sich in Bewegung setzte, das metallische Klirren des Tors, das sich hinter dem Gespann schloss. Staub und Schatten sind wir.
»Will?«
Verwundert schaute er auf; er hatte die schlanke Gestalt im Türrahmen des Fechtsaals gar nicht bemerkt. Charlotte trat einen Schritt vor und schenkte ihm ein liebes Lächeln, so wie sie es schon immer getan hatte. Will musste sich zwingen, die Augen nicht vor seinen Erinnerungen zu verschließen – Charlotte im Türrahmen genau dieses Raums: Hast du vergessen, was ich dir gestern erzählt habe? Dass wir heute einen Neuankömmling im Institut erwarten? … James Carstairs …
»Will«, sagte sie erneut. »Du hast recht gehabt.«
Langsam hob Will den Kopf, seine Hände baumelten zwischen seinen Knien. »Womit? Was meinst du?«
»Jem und Tessa«, erklärte Charlotte. »Ihre Verlobung ist gelöst. Und Tessa ist wieder bei Bewusstsein. Sie ist wach und wohlauf und hat nach dir gefragt.«
Wenn ich in der Dunkelheit bin, möchte ich mir vorstellen, dass er sich im Licht befindet, zusammen mit dir.
Tessa saß aufrecht in den Kissen, die Sophie aufgeschüttelt und sorgfältig um sie herum arrangiert hatte. Zuvor hatten die beiden einander kurz umarmt und Sophie hatte Tessa die wirren Haare aus dem Gesicht gestrichen und ununterbrochen »ein Segen, welch ein Segen!« gerufen – und zwar so oft, dass Tessa sie bitten musste, damit aufzuhören, ehe sie schließlich beide in Tränen ausbrachen. Nun betrachtete Tessa nachdenklich den Jadeanhänger in ihrer Hand.
Sie hatte das Gefühl, als wäre sie in zwei Hälften geteilt, in zwei völlig verschiedene Menschen. Ein Teil von ihr war froh und dankbar, dass Jem noch lebte, dass seine Tage nicht länger gezählt waren, dass die giftige Substanz ihm nicht den letzten Lebensfunken aus den Adern gebrannt hatte. Die andere Hälfte jedoch …
»Tess?« Eine sanfte Stimme an der Tür. Tessa schaute auf und entdeckte Will – eine Silhouette im Schein des Lichts, das aus dem Flur ins Zimmer fiel.
Will. Sie dachte an den jungen Mann zurück, der in ihr Zimmer im Dunklen Haus eingedrungen war und sie einen Moment abgelenkt hatte mit Geschichten über Tennyson und Igel und stattliche Kavaliere, welche junge Damen vor einem schrecklichen Schicksal bewahrten und niemals falsch lagen. Damals hatte sie ihn sehr attraktiv gefunden, doch inzwischen sah sie noch so viel mehr in ihm: Er war Will, in all seiner vollkommenen Unvollkommenheit; Will, dem das Herz so leicht gebrochen werden konnte und der es gleichzeitig sorgfältig schützte; Will, der nicht weise liebte, sondern mit Leib und Seele und allem, was er hatte.
»Tess«, sagte er erneut und zögerte angesichts ihres Schweigens. Unschlüssig trat er ein und lehnte die Tür hinter sich nur an. »Ich… Charlotte meinte, du wolltest mich sprechen …«
»Will«, stieß Tessa hervor. Sie wusste, dass sie zu blass war und ihre Haut noch Spuren der Tränen zeigte und ihre Augen noch immer gerötet waren. Doch das alles spielte keine Rolle, denn das hier war Will. Tessa streckte die Hände aus und er kam sofort zu ihr und nahm ihre Finger in seine eigenen warmen, rauen Hände.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er und musterte eingehend ihr Gesicht. »Ich muss unbedingt mit dir reden, möchte dich aber nicht belasten, solange du nicht wieder vollständig bei Kräften bist.«
»Mir geht es gut«, erklärte Tessa und erwiderte den Druck seiner Hände. »Jems Besuch hat mich zur Ruhe kommen lassen. Dich auch?«
Will wandte den Blick ab, hielt ihre Hände aber weiterhin fest. »Ja und nein«, erwiderte er.
»Dein Verstand ist beruhigt, aber nicht dein Herz.«
»Genau«, bestätigte Will. »Genau so ist es. Du kennst mich so gut, Tess.« Er schenkte ihr ein wehmütiges Lächeln. »Jem lebt und dafür bin ich dankbar. Aber er hat einen einsamen Weg gewählt. Die Brüder der Stille…essen allein, gehen allein ihren Aufgaben nach, erwachen morgens allein und sehen abends allein der Nacht entgegen. Wenn ich könnte, würde ich ihm das gern ersparen und ihn vor diesem Schicksal bewahren.«
»Du hast ihn vor allem bewahrt, wovor du ihn bewahren konntest«, erwiderte Tessa leise. »So wie er dich vor vielem bewahrt hat und wie wir alle versucht haben, uns gegenseitig vor Kummer zu bewahren. Aber letztendlich muss jeder seine eigene Entscheidung treffen.«
»Willst du damit sagen, dass ich nicht um ihn trauern sollte?«
»Nein. Trauern ja. Wir beide werden um ihn trauern. Aber du solltest dir keine Vorwürfe machen, denn du trägst keine Verantwortung für seine Entscheidung.«
Will warf einen kurzen Blick auf ihre verschränkten Hände. Behutsam strich er mit den Daumen über Tessas Fingerknöchel. »Vielleicht ja nicht«, räumte er ein. »Aber es gibt andere Dinge, für die ich die Verantwortung trage.«
Kurzatmig holte Tessa Luft. Er hatte die Stimme gesenkt und darin schwang ein heiserer Ton mit, den sie nicht mehr gehört hatte, seit …
Sein Atem weich und warm auf ihrer Haut, bis ihr Puls genauso schnell ging wie seiner, ihre Hände auf seinen Schultern, seinen Armen, seinen Hüften …
Sie blinzelte hastig und entzog ihm ihre Hände. In ihren Erinnerungen sah sie wieder den Schein des Kaminfeuers an den Wänden der Höhle, hörte wieder seine Stimme an ihrem Ohr. Das alles war wie ein Traum gewesen, von der Wirklichkeit losgelöste Momente, als fänden sie in irgendeiner anderen Welt statt. Selbst jetzt konnte Tessa kaum glauben, dass das wirklich alles passiert war.
»Tessa?« Wills Stimme klang zögerlich und er streckte ihr die Hände noch immer entgegen.
Ein Teil von ihr wollte seine Hände nehmen, ihn zu sich hinabziehen, ihn küssen und sich in Will verlieren, so wie sie es schon zuvor getan hatte. In dieser Hinsicht war seine Nähe mindestens so wirkungsvoll wie jede andere Droge.
Doch dann erinnerte Tessa sich wieder an Wills getrübten Blick in der Ifritdrogenhöhle … der Traum von Glück, der in dem Moment in sich zusammenbrach, in dem die Wirkung des Rauschs nachließ. Nein. Manche Dinge konnten nur dadurch bewältigt werden, dass man sich ihnen mit klarem Kopf stellte. Tessa holte tief Luft und schaute Will eindringlich an.
»Ich weiß, was du sagen willst«, meinte sie. »Du denkst an das, was zwischen uns am Cadair Idris passiert ist, weil wir dachten, Jem sei tot und wir beide würden auch bald sterben. Du bist ein ehrenhafter Mann, Will, und du weißt, was du nun zu tun hast: Du musst mir einen Heiratsantrag machen.«
Will, der vollkommen reglos dagestanden hatte, bewies, dass er Tessa noch immer überraschen konnte, und lachte – ein sanftes, wehmütiges Lachen. »Ich habe nicht erwartet, dass du so geradeheraus sein würdest, hätte aber vermutlich damit rechnen müssen. Schließlich kenne ich meine Tessa.«
»Ich bin wirklich deine Tessa, Will«, bestätigte sie. »Aber ich möchte nicht, dass du jetzt weiterredest … dass du von Heirat sprichst, von lebenslangen Versprechen …«
Langsam ließ Will sich auf der Bettkante nieder. Er trug seine Kampfmontur, hatte die Ärmel hochgekrempelt und den Kragen weit geöffnet. Tessa konnte die verheilenden Wunden der Schlacht gegen die Automaten auf seiner Haut sehen und die weißen Narben der Heilrunen. Und sie konnte einen verletzten Ausdruck in seinen Augen erkennen. »Bedauerst du, was zwischen uns passiert ist?«, fragte er.
»Kann man etwas bedauern, das zwar unklug gewesen sein mag, aber gleichzeitig wunderschön war?«, erwiderte sie, woraufhin sich Wills Ausdruck von gekränktem Schmerz in Verwirrung verwandelte.
»Tessa. Falls du fürchtest, ich könnte Bedenken haben, mich verpflichtet fühlen …«
»Nein.« Beruhigend hob Tessa die Hände. »Es ist nur so, dass in deinem Herz, glaube ich, im Moment ein furchtbares Durcheinander aus Kummer, Verzweiflung, Erleichterung, Glück und Verwirrung herrscht. Und ich möchte nicht, dass du irgendwelche Versprechungen machst, solange in dir so widerstreitende Gefühle toben. Sag jetzt nicht, es wäre nicht so – ich kann es dir genau ansehen und ich empfinde genauso. In uns beiden toben gerade viele Gefühle, Will, und keiner von uns ist in der Verfassung, jetzt weitreichende Entscheidungen zu treffen.«
Will zögerte einen Augenblick. Seine Finger schwebten über seinem Herzen, über der ehemaligen Parabatairune, und berührten die Stelle behutsam – Tessa fragte sich, ob er sich dieser Geste überhaupt bewusst war. Dann sagte er: »Manchmal bist du einfach zu weise, Tessa.«
»Nun ja«, räumte sie ein. »Einer von uns muss das nun mal sein.«
»Kann ich denn gar nichts tun?«, fragte er. »Ich möchte dich ungern allein lassen – es sei denn du willst, dass ich gehe.«
Tessa warf einen vielsagenden Blick auf den Nachttisch, auf den Stapel mit ihren Büchern, die sie angefangen hatte zu lesen, bevor die Automaten das Institut angegriffen hatten – was inzwischen eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen schien. »Du könntest mir etwas vorlesen«, sagte sie. »Falls es dir nichts ausmacht.«
Bei diesen Worten schaute Will auf und lächelte – ein stürmisches, ungewohntes, aber aufrichtiges Lächeln, ein typisches Will-Lächeln. »Nein, es macht mir nichts aus. Ganz im Gegenteil«, erwiderte er.
Und so kam es, dass eine Viertelstunde später, als Charlotte vorsichtig Tessas Tür aufdrückte und in das Zimmer hineinspähte, Will in einem Sessel saß und Tessa aus David Copperfield vorlas. Charlotte hatte sich furchtbare Gedanken gemacht: Will hatte so verzweifelt ausgesehen, allein auf dem Boden des Fechtsaals, so schrecklich einsam. Sie erinnerte sich an ihre beständige Sorge, dass Jem bei seinem Tod alles, was an Will gut war, mit sich ins Grab nehmen würde. Und Tessa wirkte noch immer so zerbrechlich …
Wills leise Stimme drang durch den Raum, zusammen mit dem sanften Schein der Glut im Kamin. Tessa lag auf der Seite, die braunen Haare über das Kissen gebreitet, und sah Will an, der den Kopf über die Seiten gebeugt hatte. Sie betrachtete ihn mit einem unendlich zärtlichen Ausdruck in den Augen – eine Zärtlichkeit, die sich in Wills weicher Stimme widerspiegelte, während er vorlas. Eine Zärtlichkeit, die so intim und intensiv war, dass Charlotte sofort einen Schritt zurücktrat und die Tür geräuschlos ins Schloss gleiten ließ.
Dennoch folgte ihr Wills Stimme durch den Flur, als sie zur Treppe ging, mit deutlich leichterem Herzen als nur wenige Momente zuvor:
»… undihnbewachenkann,wennichmichdamitnichtzukühnausdrücke. Spinnt Uriah Heep einen verräterischen Plan gegen ihn, so hoffe ich, dass Wahrheit und schlichte LiebeamEnde stärker sein werden.Ich hoffe, dass sie imstande sind, alles Übel und Unglück in der Welt am Ende zu überwinden.«