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DAS MASS DER LIEBE

Das Maß der Liebe ist eine Liebe ohne Maß.

AURELIUS AUGUSTINUS ZUGESCHRIEBEN

Der Sitzungssaal strahlte in hellem Licht. Auf dem Podium im vorderen Teil des Raums war ein großer Doppelkreis aufgemalt und in dem schmalen Bereich zwischen den beiden Kreisen prangten Runen: Runen, die von Vereinigung sprachen, von Wissen, Kenntnissen und Fähigkeiten, sowie Runen, die Sophies Namen symbolisierten. Sophie kniete in der Mitte des inneren Kreises. Ihre langen Haare fielen ihr locker über die Schultern bis hinab zur Taille – eine Fülle dunkler Locken vor der noch dunkleren Schattenjägermontur. Sie sah wunderschön aus in dem Licht, das durch die Fenster in der Dachkuppel hereinfiel, und die Narbe auf ihrer Wange leuchtete wie eine rote Rose.

Die Konsulin ragte über ihr auf, die weißen Hände mit dem Engelskelch hoch erhoben. Charlotte trug eine schlichte scharlachrote Robe, die sich um ihre Füße bauschte. Ihr feines Gesicht wirkte ernst und feierlich. »Nimm diesen Kelch, Sophia Collins«, setzte sie an, woraufhin im Saal atemlose Stille herrschte. Obwohl der Raum nicht bis zum letzten Platz gefüllt war, drängten sich in Tessas Reihe jede Menge vertraute Gesichter: Gideon und Gabriel, Cecily und Henry und natürlich saß Will direkt neben ihr. Sie alle beugten sich gespannt vor, um ja nichts von Sophies Aszension zu verpassen. Auf beiden Seiten des Podiums standen zwei Brüder der Stille, die Köpfe geneigt und so reglos, dass ihre pergamentfarbenen Roben wie aus hellem Marmor gemeißelt wirkten.

Charlotte senkte den Kelch und hielt ihn Sophie entgegen, die ihn vorsichtig nahm. »Schwörst du, Sophia Collins, der Welt der Irdischen zu entsagen und fortan dem Weg des Schattenjägers zu folgen? Wirst du das Blut des Erzengels Raziel aufnehmen und dieses Blut ehren? Schwörst du, dem Rat zu dienen, die Gesetze des Bündnisses zu befolgen und den Beschlüssen der Kongregation zu gehorchen? Wirst du alles, das menschlich und sterblich ist, verteidigen, im Wissen, dass du für diesen Dienst keinen Lohn und keinen Dank, sondern Ehre erhalten wirst?«

»Ja, das schwöre ich«, sagte Sophie mit fester Stimme.

»Kannst du ein Schild für die Schwachen, ein Licht in der Dunkelheit, die Wahrheit inmitten von Unwahrheiten, ein Fels in der Brandung sein und ein Auge, das sieht, wenn alle anderen blind sind?«

»Ja, das kann ich.«

»Und wirst du nach deinem Tod deinen Leib den Nephilim übergeben, damit er verbrannt und deine Asche dazu genutzt wird, die Stadt der Stille zu erhalten?«

»Ja, das werde ich.«

»Dann trink nun«, sagte Charlotte.

Tessa hörte, wie Gideon scharf die Luft einsog. Dies war der gefährliche Teil des Rituals. Dies war der Teil, der die Ungeschulten und Unwürdigen töten konnte.

Sophie senkte den Kopf und führte den Kelch an ihre Lippen. Tessa rutschte etwas nach vorn, mit angehaltenem Atem. Sie spürte, wie Wills Hand sich in ihre schob – ein warmer, beruhigender Druck auf ihren Fingern. Sophies Kehle bewegte sich auf und ab, als sie schluckte.

Im nächsten Augenblick blitzte der Kreis, der Sophie und Charlotte umgab, in einem kalten blauweißen Licht einmal auf und verhüllte die beiden Gestalten. Als das Licht verblasste, sah Tessa einen Moment nur Sterne vor ihren Augen und blinzelte hastig. Dann konnte sie Sophie wiedererkennen, die nun den Kelch in die Höhe hielt. Der Engelskelch leuchtete in einem warmen Glanz, während sie ihn zurück an Charlotte reichte, die über das ganze Gesicht strahlte.

»Du bist nun eine Nephilim«, verkündete sie. »Ich taufe dich auf den Namen Sophia Shadowhunter, vom Blute des Jonathan Shadowhunter, Kind der Nephilim. Erhebe dich, Sophia.«

Sophie stand auf, umgeben von einer jubelnden Menge, in der Gideons Freudenrufe alle anderen übertönten. Sophie lächelte und ihr Gesicht leuchtete förmlich im fahlen Winterlicht, das durch die Kuppelfenster fiel. Schatten tanzten über den Parkettboden, huschten hin und her. Verwundert schaute Tessa auf: Weiße Flächen malten Streifen auf die Fensterscheiben und wirbelten sanft hinter dem Glas.

»Schnee«, raunte Will ihr sanft ins Ohr. »Frohe Weihnachten, Tessa.«

Später am Abend fand im Institut die jährliche Weihnachtsfeier der Brigade statt. Tessa sah zum ersten Mal, wie die Türen des Ballsaals geöffnet wurden und der große Raum sich mit Gästen füllte. Die hohen Fenster reflektierten das Licht der Kronleuchter und warfen einen goldenen Schimmer auf den glänzenden Parkettboden. Jenseits der dunklen Glasscheiben wirbelte Schnee in großen weißen Flocken, doch im Inneren des hell erleuchteten Instituts herrschte eine warme, behagliche Atmosphäre.

Die Schattenjäger feierten Weihnachten auf eine andere Weise, als Tessa sie aus New York kannte. Hier verzichtete man auf Adventskränze, Weihnachtssänger und Knallbonbons. Aber ein Weihnachtsbaum, wenn auch anders dekoriert, durfte natürlich nicht fehlen: Eine gewaltige Tanne ragte am anderen Ende des Ballsaals auf und stieß mit der Spitze fast an die Decke. (Als Will Charlotte gefragt hatte, wie um alles in der Welt sie diesen Baum ins Haus bekommen hatte, hatte Charlotte nur mit den Händen gewedelt und irgendetwas von Magnus gemurmelt.) Kerzen balancierten auf jedem Tannenzweig – Tessa konnte nicht erkennen, auf welche Weise sie befestigt waren – und tauchten den Saal in warmes Licht.

Von den Zweigen wie auch von allen Wandleuchtern, Kerzenständern und Türgriffen baumelten Kristallrunen, jede so durchscheinend wie Glas, und brachen das Licht in schillernde Regenbogenfarben. Die Wände waren mit Girlanden aus Efeu und Ilex geschmückt, deren rote Beeren zwischen dem grünen Blattwerk dunkel schimmerten. Hier und dort hing ein grüner Mistelzweig mit kleinen weißen Beeren. Selbst Churchs Halsband war auf diese Weise verziert – was den Kater dazu veranlasste hatte, sich mit wütender Miene unter einen der festlich dekorierten Tische zu verziehen.

Tessa konnte sich nicht erinnern, jemals so viele Speisen auf einmal gesehen zu haben: Die Tische bogen sich förmlich unter den Servierschüsseln mit Hühnerbrust- und Putenscheiben, Wildgeflügel und Hasenbraten, Weihnachtsschinken und Pasteten und hauchdünnen Sandwiches. Als Nachtisch gab es Eiscreme und Trifle, Mandelsulz und Sahnepudding, leuchtend bunte Gelees, Tipsy Cake und mit Brandy flambierten Christmas Pudding – begleitet von eisgekühltem Sorbet, Glühwein und Weihnachtspunsch. Überall lagen Füllhörner mit Süßigkeiten und Bonbons herum, dazu Nikolaussäckchen, die entweder ein Stück Kohle, einen Würfel Zucker oder ein Zitronenbonbon enthielten, um damit dem Beschenkten mitzuteilen, ob sein Verhalten im vergangenen Jahr boshaft, süß oder säuerlich gewesen war.

Die Bewohner des Instituts hatten am späten Nachmittag unter sich Weihnachten gefeiert und sich gegenseitig beschert, bevor die ersten Gäste eintrafen: Charlotte, die auf Henrys Schoß balancierte, hatte ein Päckchen nach dem anderen geöffnet – fast alles Geschenke für das Baby, welches die beiden im April erwarteten. Der Name stand übrigens inzwischen fest: Der Neuankömmling würde Charles getauft werden. »Charles Fairchild«, hatte Charlotte stolz verkündet und die kleine Decke hochgehalten, die Sophie für sie gestrickt hatte, mit einem adretten C.F. in einer Ecke.

»Charles Buford Fairchild«, hatte Henry berichtigt.

Charlotte hatte ihm eine kleine Grimasse geschnitten, woraufhin Tessa sich lachend erkundigte: »Fairchild? Nicht Branwell?«

Verlegen lächelte Charlotte. »Ich bin die Konsulin. Und es wurde beschlossen, dass das Kind in diesem Fall meinen Geburtsnamen tragen wird. Henry hat nichts dagegen, oder Henry?«

»Nein, es macht mir nichts aus«, bestätigte Henry. »Zumal Charles Buford Branwell ziemlich albern gewirkt hätte, wohingegen Charles Buford Fairchild einen hervorragenden Klang hat.«

»Henry …«

Tessa musste lächeln, als sie sich nun daran erinnerte. Sie hatte sich einen Platz in der Nähe des Weihnachtsbaums gesucht und beobachtete die Mitglieder der Brigade, die in ihren Festroben in den Saal strömten und sich lachend unterhielten: die Frauen in warmen Wintertönen mit Gewändern aus rotem Satin, saphirblauer Seide und goldenem Taft und die Männer in eleganten Abendanzügen. Sophie stand neben Gideon, strahlend und entspannt in einem wunderschönen grünen Samtkleid; dagegen schwirrte Cecily mit leuchtenden Augen und einem blauen Abendkleid durch den Saal, gefolgt von Gabriel, der ihr mit seinen langen Gliedern, wirren Haaren und einem liebevoll-amüsierten Ausdruck in den Augen hinterherlief.

Ein wuchtiger Christklotz, umwunden mit Efeu- und Ilexkränzen, brannte in dem riesigen Kamin und über dem Sims hingen Netze mit vergoldeten Äpfeln, Walnüssen, buntem Popcorn und Süßigkeiten. Auch für Musik war gesorgt, denn Charlotte hatte endlich einen nützlichen Verwendungszweck für Bridgets Gesang gefunden – ihre Stimme erhob sich hell und klar über die lieblichen Töne der Instrumente:

»Oh weh, mein Lieb, tust unrecht mir,
Grob fortzustoßen mich im Streit.
So lange hielt ich treu zu Dir
Voll Glück an Deiner Seit’.

Greensleeves war all mein’ Freud’;
Greensleeves war mein Entzücken;
Greensleeves war mein gülden Herz,
Und wer außer Lady Greensleeves?«

»Nun mag der Himmel Kartoffeln regnen«, sagte eine nachdenkliche Stimme. »›Er mag donnern nach der Melodie von Greensleeves‹.«

Tessa zuckte zusammen und drehte sich um. Will war geräuschlos neben ihr aufgetaucht, was verblüffend und auch ein bisschen ärgerlich war, weil sie die ganze Zeit vergebens nach ihm Ausschau gehalten hatte. Er trug einen Abendanzug in Blau, Schwarz und Weiß und wie üblich raubte ihr sein Anblick auch dieses Mal den Atem, doch sie kaschierte ihr pochendes Herz mit einem Lächeln. »Shakespeare«, sagte sie. »Die lustigen Weiber von Windsor.«

»Nicht gerade eines seiner besten Stücke«, bemerkte Will und betrachtete sie eingehend aus seinen blauen Augen. Tessa hatte sich für ein rosarotes Seidenkleid entschieden, ohne jeden Schmuck, bis auf ein Samtband, das sich zweimal um ihren Hals wand und über ihren Rücken herabhing. Sophie hatte ihr die Haare gemacht – als einen persönlichen Gefallen und nicht länger in ihrer ehemaligen Funktion als Dienstmädchen – und kleine weiße Beeren zwischen die hochgesteckten Locken geflochten. Tessa fühlte sich sehr elegant und äußerst attraktiv. »Obwohl es durchaus seine Momente hat«, fügte Will hinzu.

»Ganz der Literaturkritiker«, seufzte Tessa, riss ihren Blick dann von ihm los und schaute hinüber zur anderen Seite des Saals, wo Charlotte sich mit einem groß gewachsenen hellblonden Mann unterhielt, den Tessa nicht kannte.

Will beugte sich zu ihr hinab; ein grüner, leicht winterlicher Duft nach Tannen oder Zypressen umgab ihn. »Das sind Mistelzweigbeeren in deinen Haaren«, raunte er und sein warmer Atem streifte über Tessas Wange. »Genau genommen bedeutet das, dass jedermann dich jederzeit küssen darf.«

Mit großen Augen schaute Tessa ihn an. »Das wird doch nicht wirklich jemand versuchen, oder?«

Behutsam berührte Will ihre Wange; obwohl er weiße Chamoishandschuhe trug, hatte Tessa das Gefühl, als würde sie seine nackte Haut spüren. »Ich würde jeden töten, der es auch nur wagt.«

»Nun ja«, meinte Tessa. »Das wäre schließlich nicht das erste Mal, dass du zu Weihnachten etwas Skandalöses tust, oder?«

Will hielt einen Moment inne und grinste dann jenes selten gewordene, breite Lächeln, das sein ganzes Gesicht aufleuchten ließ und ihm eine völlig andere Ausstrahlung verlieh. Es war ein Lächeln, von dem Tessa schon gefürchtet hatte, Will hätte es gänzlich verloren … als wäre es mit Jem in der Dunkelheit der Stillen Stadt verschwunden. Jem war nicht tot, doch ein Teil von Will war mit ihm gegangen – ein Teil aus Wills Herzen, der nun in der Finsternis unter den wispernden Gebeinen begraben lag. In der ersten Woche nach Jems Abschied hatte Tessa sich Sorgen gemacht, dass Will sich von diesem Schlag nicht mehr erholen würde, dass er von jetzt an wie ein rastloser Geist durch das Institut wandern würde, nichts essen und weiterhin versuchen würde, mit seinem Freund zu sprechen – nur um sich dann daran zu erinnern, dass dieser nicht mehr da war, woraufhin das Licht in Wills Augen erlosch und er verstummte.

Aber Tessa hatte einen Entschluss gefasst: Obwohl auch ihr Herz gebrochen war, glaubte sie fest daran, wenn sie Wills gebrochenes Herz heilen konnte, würde das auch ihren eigenen Schmerz lindern. Als sie wieder zu Kräften gekommen war, hatte sie sich darangemacht, Will Tee zu bringen (den er nicht wollte) und Bücher (die er sehr gern wollte). Und sie hatte ihn hin und her gescheucht, durch das ganze Institut, vom Bibliothekszimmer bis hinauf in den Fechtsaal, um ihr beim Training zu helfen. Außerdem hatte sie Charlotte aufgefordert, ihn nicht länger wie empfindliches Glas zu behandeln, das jeden Moment zerbrechen konnte. Stattdessen sollte sie ihn zu Kampfeinsätzen in die Stadt schicken, so wie früher, mit Gabriel oder Gideon an seiner Seite statt Jem. Charlotte war Tessas Bitte nachgekommen, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Doch als Will von diesen Einsätzen zum Institut zurückkehrte, war er zwar mit Schnittwunden und Blutergüssen übersät gewesen, aber seine Augen hatten wieder gestrahlt.

»Das war sehr klug«, meinte Cecily später, als Tessa und sie am Fenster standen und zusahen, wie Will und Gabriel sich im Innenhof unterhielten. »Das Schattenjägerdasein gibt meinem Bruder wieder eine Aufgabe. Die Dämonenjagd wird seine Wunden heilen. Die Dämonenjagd und du.«

Nachdenklich ließ Tessa den Vorhang vor das Fenster fallen. Will und sie hatten über das, was unter dem Cadair Idris passiert war, nicht mehr gesprochen. Die gemeinsam verbrachte Nacht erschien Tessa inzwischen so unwirklich wie ein Traum – wie etwas, das einer anderen Person widerfahren war, aber nicht ihr. Sie konnte nicht sagen, ob es Will ähnlich ging; aber sie war sich sicher, dass Jem es gewusst oder geahnt hatte und dass er ihnen beiden verziehen hatte. Aber Will hatte sich ihr nicht mehr genähert, hatte ihr nicht mehr gesagt, dass er sie liebte, hatte sie seit dem Tag von Jems Abschied nicht mehr gefragt, ob sie ihn liebte.

Dieser Zustand dauerte eine scheinbar endlose Zeit an, auch wenn tatsächlich nur zwei Wochen vergangen waren, bis Will eines Tages zu Tessa in die leere Bibliothek kam und sie aus heiterem Himmel fragte, ob sie am nächsten Tag eine Kutschfahrt mit ihm unternehmen wolle. Verwirrt willigte Tessa ein und fragte sich insgeheim, ob er sich vielleicht aus einem anderen Grund mit ihr treffen wollte. Gab es irgendein Rätsel zu lösen? Ein Geständnis zu machen?

Doch wie sich herausstellte, handelte es sich um eine ganz normale Fahrt mit der Kutsche durch den Park. Nach einem Kälteeinbruch säumte Eis die Ränder der Teiche und die kahlen Zweige waren mit wunderschönem Reif bedeckt. Will machte höflich Konversation über das Wetter und die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Er schien fest entschlossen, dort mit dem Unterricht über London fortzufahren, wo Jem aufgehört hatte. Und so besuchten sie gemeinsam das British Museum und die National Gallery, fuhren zu den Kew Gardens und zur St. Paul’s Cathedral, wo Tessa schließlich endgültig die Geduld verlor.

Sie standen in der berühmten Whispering Gallery und Tessa beugte sich über die Brüstung, um hinab in das weit unten liegende Kirchenschiff zu schauen. Will übersetzte gerade die lateinische Inschrift, die sie in der Krypta gesehen hatten, wo Christopher Wren begraben lag: »Betrachter, wenn du sein Denkmal suchst, sieh dich um.« Geistesabwesend griff Tessa nach Wills Hand, doch er zuckte sofort zurück und lief feuerrot an.

Überrascht schaute sie ihn an. »Stimmt irgendetwas nicht?«

»Nein«, erwiderte er, zu hastig. »Ich … ich habe dich nur nicht hierhergebracht, um dich dann in der Whispering Gallery zu begrapschen.«

In dem Moment explodierte Tessa förmlich: »Ich fordere dich auch gar nicht auf, mich zu begrapschen! Aber beim Erzengel, kannst du bitte aufhören, so höflich zu sein?«

Will starrte sie verwundert an. »Aber würdest du denn nicht lieber …«

»Nein, das würde ich nicht. Ich möchte nicht, dass du höflich bist! Ich möchte, dass du Will bist! Ich will nicht, dass du mir irgendwelche architektonischen Sehenswürdigkeiten zeigst, als wärst du ein Baedeker-Reiseführer! Stattdessen wünsche ich mir, dass du schrecklich verrückte, lustige Dinge sagst und Lieder aus dem Stegreif erfindest und wieder der …« Der Will bist, in den ich mich verliebt habe, hätte sie beinahe gesagt. »… wieder Will bist«, beendete sie ihren Satz stattdessen. »Denn sonst vergesse ich mich noch und verprügle dich mit meinem Regenschirm.«

»Ich versuche doch nur, dir den Hof zu machen«, erwiderte Will verzweifelt. »Und zwar anständig. Darum geht es hier doch. Wusstest du das denn nicht?«

»Mr Rochester hat Jane Eyre nie umworben«, bemerkte Tessa spitz.

»Nein, er hat sich als Frau verkleidet und dem armen Mädchen einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Ist es das, was du willst?«

»Du würdest eine sehr hässliche Frau abgeben.«

»Das würde ich nicht. Ich wäre geradezu hinreißend!«

Tessa lachte. »Na also, da ist er ja wieder, der alte Will. Ist das nicht viel besser?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, meinte Will und musterte sie argwöhnisch. »Ich traue mich nicht, darauf zu antworten. Denn mir wurde gesagt, wenn ich etwas Falsches erwidere, weckt das in amerikanischen Frauen den Wunsch, mich mit ihrem Regenschirm zu schlagen.«

Erneut brach Tessa in Gelächter aus. Und dann mussten sie beide kichern und ihr unterdrücktes Lachen hallte von den Wänden der Flüstergalerie zurück. Danach hatte sich ihr Verhalten deutlich entspannt und Will hatte ihr ein strahlendes, aufrichtiges Lächeln geschenkt, als er ihr im Innenhof des Instituts aus der Kutsche half.

Später am Abend hatte es leise an Tessas Tür geklopft, und als sie nachschaute, hatte sie niemanden im Flur vorgefunden – nur ein Buch, das auf dem Boden vor ihrer Tür lag. Eine Geschichte aus zwei Städten. Ein seltsames Geschenk, hatte sie gedacht. In der Bibliothek stand eine Ausgabe dieses Romans, die sie jederzeit lesen konnte, doch bei diesem hier handelte es sich um ein nagelneues Exemplar, mit einem Stempel der Buchhandlung Hatchards. Erst als sie das Buch mit ins Bett nahm, erkannte sie, dass das Titelblatt mit einer handschriftlichen Widmung versehen war.

Tess, Tess, Tessa.

Hat es jemals einen schöneren Klang als Deinen Namen gegeben? Ihn laut auszusprechen, lässt mein Herz wie eine Glocke läuten. Eine seltsame Vorstellung, nicht wahr – ein läutendes Herz? Aber wenn Du mich berührst, scheint es mir, als würde mein Herz in meiner Brust läuten, und der Klang vibriert durch meine Adern und lässt meine Knochen vor Freude beben.

Warum habe ich diese Worte hier niedergeschrieben? Deinetwegen. Du hast mich gelehrt, dieses Buch zu lieben, das ich vorher nur verspottet hatte.

Als ich es zum zweiten Mal las, unvoreingenommen und aufgeschlossen, empfand ich tiefste Verzweiflung und Neid auf Sydney Carton – ja, Sydney, denn selbst wenn er keine Hoffnung hatte, dass die Frau, die er liebte, seine Liebe jemals erwidern würde, so war er doch zumindest in der Lage, ihr seine Liebe zu gestehen. Er konnte zumindest etwas tun, um seine Leidenschaft zu beweisen, auch wenn es sich dabei um seinen eigenen Tod handelte.

Ich hätte jederzeit den Tod gewählt im Tausch für die Möglichkeit, Dir die Wahrheit sagen zu können, Tessa – wenn ich denn sicher gewesen wäre, dass der Tod nur mich und niemand anderes ereilt hätte. Und deshalb habe ich Sydney beneidet, denn er war ein freier Mann.

Und nun bin auch ich frei und kann Dir endlich und ohne Sorge um Dein Leben all das sagen, was ich in meinem Herzen für Dich empfinde.

Du bist nicht der letzte Traum meiner Seele.

Du bist der erste Traum, der einzige Traum, den zu träumen ich mir nicht habe versagen können. Du bist der erste Traum meiner Seele und aus diesem Traum entspringen hoffentlich alle anderen Träume, die Träume eines ganzen Lebens.

Endlich wage ich zu hoffen
William Herondale

Danach hatte Tessa sehr lange aufrecht im Bett gesessen, das Buch an die Brust gedrückt, und zugesehen, wie die Morgendämmerung den Himmel über London langsam erhellte. Bei Tagesanbruch hatte sie sich hastig angezogen, sich dann das Buch gegriffen und war die Stufen hinuntergestürmt. Sie erwischte Will genau in dem Moment, in dem er aus seinem Zimmer trat, die Haare noch feucht von der Morgenwäsche. Stumm hatte sie sich ihm in die Arme geworfen, hatte seinen Kragen gepackt, ihn zu sich hinuntergezogen und das Gesicht an seine Brust gepresst. Das Buch war auf den Boden gefallen, als er die Arme um sie schlang, ihr über die langen Haare strich und leise flüsterte: »Tessa, was hast du? Was ist passiert? Hat es dir nicht gefallen …?«

»Noch nie hat jemand etwas so Schönes für mich geschrieben«, stieß sie hervor, das Gesicht noch immer in seinem Kragen begraben; unter dem Hemd konnte sie den beständigen Rhythmus seines Herzschlags spüren. »Noch nie!«

»Ich habe die Widmung verfasst, nachdem ich herausgefunden hatte, dass kein Fluch auf mir lastete«, erzählte Will. »Und ich wollte dir das Buch damals sofort geben, aber …« Seine Hand in ihren Haaren stockte. »Als ich von deiner Verlobung mit Jem erfuhr, habe ich es weggelegt, weil ich nicht wusste, ob ich es dir jemals geben konnte, geben sollte. Aber als du gestern gesagt hast, du wünschtest, ich wäre wieder ich selbst, schöpfte ich genügend Hoffnung, meine alten Träume hervorzuholen, sie abzustauben und sie dir zu schenken.«

Später dann hatten sie sich in den Hyde Park aufgemacht, obwohl es ein kalter, klarer Tag war und nur wenige Leute über die Wege schlenderten. Der See hatte in der Wintersonne geglitzert und Will hatte Tessa die Stelle gezeigt, wo Jem und er eine Geflügelpastete an die Stockenten verfüttert hatten. Es war das erste Mal, dass sie ihn lächeln sah, während er von Jem erzählte.

Tessa wusste, dass sie Jem nicht ersetzen konnte. Das konnte niemand. Doch allmählich füllte sich die Leere in Wills Herzen wieder. Cecilys Anwesenheit war für ihn eine große Freude: Tessa konnte das sehen, wenn die beiden gemeinsam am Feuer saßen, leise Walisisch miteinander sprachen und Wills Augen funkelten. Er hatte sich sogar mit Gabriel und Gideon angefreundet, obwohl niemand den Freund ersetzen konnte, der Jem ihm gewesen war. Und natürlich war Charlottes und Henrys Liebe unerschütterlich wie eh und je. Ganz verheilen würde die Wunde wohl nie, das wusste Tessa – weder bei ihr noch bei Will. Doch als der Dezember mit kalten Temperaturen voranschritt und Will immer häufiger lächelte und regelmäßiger aß und der gequälte Ausdruck in seinen Augen zu schwinden begann, konnte auch sie wieder leichter atmen und neue Hoffnung schöpfen.

»Hm«, machte Will nun, wippte leicht auf den Fersen vor und zurück und ließ den Blick durch den Ballsaal schweifen. »Da magst du recht haben. Ich glaube, es war tatsächlich um die Weihnachtszeit herum, dass ich mir die Tätowierung mit dem Walisischen Drachen zugelegt habe.«

Bei diesen Worten musste Tessa sich anstrengen, nicht feuerrot anzulaufen. »Wie um alles in der Welt ist denn das passiert?«

Will machte eine lässige Handbewegung. »Ich war betrunken …«

»Unsinn. Du bist nie wirklich betrunken gewesen.«

»Ganz im Gegenteil: Um einen Zustand der Volltrunkenheit vorgeben zu können, muss man mindestens einmal volltrunken gewesen sein, sozusagen als Gedächtnisstütze. Sechs-Finger-Nigel hatte einen ordentlichen Apfelpunsch serviert …«

»Du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass es tatsächlich einen Sechs-Finger-Nigel gibt?«

»Selbstverständlich gibt es ihn …«, setzte Will grinsend an, doch dann verschwand sein Lächeln. Er schaute an Tessa vorbei, quer durch den Ballsaal.

Tessa folgte seinem Blick und entdeckte den groß gewachsenen hellblonden Gast, der sich kurz zuvor mit Charlotte unterhalten hatte. Er steuerte durch die Menge direkt auf sie zu.

Der Mann war kräftig gebaut, etwa Ende dreißig und hatte eine lange Narbe am Kinn, zerzauste blonde Haare, blaue Augen und sonnengebräunte Haut, die vor seinem gestärkten weißen Hemd noch dunkler erschien. Und er hatte irgendetwas Vertrautes an sich – etwas, das Tessa jedoch trotz aller Mühe nicht genauer benennen konnte.

Sekunden später blieb er direkt vor ihnen stehen. Sein Blick streifte über Wills Gesicht; seine Augen leuchteten in einem helleren Blauton als Wills, fast schon kornblumenblau, und waren von kleinen Fältchen umgeben, die sich in die gebräunte Haut gegraben hatte. »Bist du William Herondale?«, fragte er.

Will nickte stumm.

»Ich bin Elias Carstairs«, stellte der Mann sich vor. »Jem Carstairs war mein Neffe.«

In diesem Moment wurde Will kreidebleich und Tessa erkannte nun, was ihr an dem Mann so vertraut vorgekommen war: Irgendetwas an seiner Haltung, an der Form seiner Hände erinnerte sie an Jem. Da Will zu keiner Antwort fähig schien, bestätigte Tessa: »Ja, das ist Will Herondale. Und ich bin Theresa Gray.«

»Die Gestaltwandlerin«, sagte Elias. »Sie waren mit James verlobt, ehe er der Bruderschaft der Stille beigetreten ist.«

»Das stimmt«, bestätigte Tessa ruhig. »Ich liebe ihn sehr.«

Elias musterte sie – nicht feindselig oder herausfordernd, nur interessiert. Dann wandte er sich erneut Will zu. »Und du warst sein Parabatai?«

Will fand seine Stimme wieder. »Das bin ich noch immer«, entgegnete er und hob trotzig das Kinn.

»James hat mir von dir erzählt«, sagte Elias. »Nach meiner Rückkehr aus China habe ich ihn gefragt, ob er nicht zu mir kommen und mit mir in Idris leben wolle. Wir hatten ihn aus Shanghai fortgeschickt, weil die Stadt einfach nicht sicher war, da Yanluos Günstlinge noch immer frei herumliefen und auf Rache sannen. Auf meine Bitte, zu mir nach Alicante zu ziehen, antwortete James mit einem schlichten Nein, er könne nicht. Ich bat ihn, noch einmal darüber nachzudenken; schließlich waren wir seine Familie, die letzten Blutsverwandten. Er erwiderte nur, er könnte seinen Parabatai nicht verlassen und manche Dinge wären nun einmal wichtiger als Blutsverwandtschaft.« Elias’ hellblaue Augen blickten Will unverwandt an. »Ich habe hier ein Geschenk für dich, Will Herondale. Etwas, das ich James zum Tag seiner Volljährigkeit überreichen wollte, weil sein Vater nicht mehr lebt und nicht mehr persönlich dazu in der Lage ist. Jetzt kann auch ich es ihm nicht mehr geben.«

Will war vor Anspannung steif wie eine Bogensehne, die kurz vor dem Zerreißen stand. Mühsam erwiderte er: »Ich habe nichts getan, wofür ich ein Geschenk verdienen würde.«

»Ich denke doch.« Elias löste ein Kurzschwert in einer kunstvoll verzierten Scheide von seinem Gürtel und streckte es Will entgegen, der es nach kurzem Zögern nahm. Ein verschlungenes Muster aus Blättern und Runen zierte die Schwerthülle, die im goldenen Licht schimmerte.

Mit einer entschlossenen Bewegung zog Will das Schwert aus der Scheide und hielt es sich senkrecht vor das Gesicht. Auch das Heft trug dasselbe Muster aus Runen und Blättern, während die Klinge glatt und unverziert war – bis auf eine Reihe von Worten, die sich über die gesamte Länge erstreckte.

Tessa beugte sich vor und las die Inschrift auf der Klinge:

Ich bin Cortana, vom selben Stahl und Härtegrad wie Joyeuse und Durendal.

»Joyeuse war das Schwert von Karl dem Großen«, erklärte Will. Seine Stimme klang noch immer steif – was Tessa inzwischen zu deuten wusste: Er versuchte mit aller Macht, jede Emotion zu unterdrücken. »Durendal war Rolands Schwert. Und dieses Schwert hier ist … es ist von legendärer Herkunft.«

»Geschmiedet von Wayland dem Schmied, dem ersten Waffenmeister der Nephilim. Es trägt eine Feder von der Schwinge des Erzengels in seinem Heft«, fügte Elias hinzu. »Das Schwert befindet sich seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Carstairs. Ich hatte von Jems Vater den Auftrag, es ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag zu überreichen. Aber die Brüder der Stille dürfen keine Geschenke annehmen.« Er schaute Will fest in die Augen. »Du warst sein Parabatai. Du sollst es haben.«

Mit einem Ruck schob Will das Schwert zurück in die Scheide. »Ich kann es nicht annehmen. Ich will es nicht annehmen.«

»Aber das musst du«, protestierte Elias, überrascht und bestürzt. »Du warst sein Parabatai und er hat dich geliebt …«

Will streckte Elias Carstairs das Schwert mit dem Heft voran entgegen. Nach einem Moment nahm Elias die Waffe an sich und Will machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge.

Verwirrt schaute Elias ihm nach. »Es lag nicht in meiner Absicht, ihn zu beleidigen.«

»Sie haben von Jem in der Vergangenheit gesprochen«, sagte Tessa. »Jem mag zwar nicht mehr bei uns sein, aber er ist auch nicht tot. Will … kann den Gedanken nicht ertragen, dass man Jem als vergessen und verloren betrachtet.«

»Ich hatte nicht vor, ihn zu vergessen«, erklärte Elias. »Ich wollte damit lediglich sagen, dass Stille Brüder nicht dieselben Gefühle haben wie wir. Sie empfinden anders. Und wenn sie lieben …«

»Jem liebt Will noch immer«, wandte Tessa ein. »Ob er nun ein Bruder der Stille ist oder nicht. Manche Dinge kann auch die Magie nicht zerstören, weil sie in sich magisch sind. Sie haben Jem und Will nie zusammen erlebt, aber ich schon.«

»Ich wollte ihm nur Cortana überreichen«, sagte Elias. »Da ich es James nicht geben kann, dachte ich, sein Parabatai sollte es bekommen.«

»Sie haben es gut gemeint«, beschwichtigte Tessa ihn. »Aber, bitte verzeihen Sie mir meine indiskrete Frage, Mr Carstairs … Haben Sie denn nicht vor, eines Tages selbst eine Familie zu gründen und Kinder zu haben?«

Mit großen Augen schaute er sie an. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht …«

Tessa betrachtete die schimmernde Waffe und dann den Mann, der sie in den Händen hielt. In seinen Zügen konnte sie Spuren von Jem erkennen – als würde sie das Spiegelbild eines geliebten Menschen auf einer gekräuselten Wasseroberfläche sehen. Diese Liebe, die nicht vergessen, sondern gegenwärtig war, verlieh ihrer Erwiderung einen sanften Ton: »Wenn Sie sich nicht sicher sind, dann sollten Sie das Schwert behalten. Bewahren Sie es für Ihre eigenen Nachkommen auf. Will würde das auf jeden Fall so wollen. Er braucht kein Schwert, das ihn an Jem erinnert – ganz gleich, von welch nobler Herkunft diese Waffe auch sein mag.«

Auf der Treppe vor dem Institut war es kalt. Trotzdem stand Will ohne Hut und Mantel auf der obersten Stufe und schaute hinaus in die frostige Nacht. Der Wind wirbelte ihm Schneeflocken ins Gesicht und auf die bloßen Hände – und wie so oft konnte Will Jems Stimme in seinem Kopf hören, die ihn ermahnte, sich nicht lächerlich zu machen und wieder hineinzugehen, bevor er sich noch eine Erkältung holte.

Der Winter war für Will schon immer die reinste Jahreszeit gewesen: Selbst der Rauch und Schmutz Londons schienen dann von der

Kälte gefroren und irgendwie sauberer. An diesem Morgen hatte er die Eisschicht auf seinem Waschkrug durchbrochen, dann das eisige Wasser in die Schüssel gegossen und sich ins Gesicht gespritzt. Zitternd hatte er sich im Spiegel betrachtet, seine feuchten Haare, die sein Gesicht mit schwarzen Strähnen rahmten. Der erste Weihnachtsmorgen ohne Jem, der erste seit sechs Jahren. Die reinste Kälte, die den reinsten Schmerz brachte.

»Will.«

Ein Flüstern drang an sein Ohr, von einer Stimme, die ihm sehr vertraut war. Will drehte den Kopf und musste unwillkürlich an die alte Molly denken. Aber in der Regel bewegten Geister sich nur selten von dem Ort weg, an dem sie gestorben oder begraben waren. Und außerdem: Was sollte sie jetzt von ihm wollen?

Zwei Augen, klar und dunkel, trafen sich mit seinen. Der Rest der Gestalt war nicht direkt transparent, sondern wirkte wie in Silber gefasst: die blonden Haare, das puppenhafte Gesicht, das weiße Kleid, in dem sie gestorben war. Blut, rot wie eine Blüte, leuchtete auf ihrer Brust.

»Jessamine«, sagte er.

»Frohe Weihnachten, Will.«

Sein Herz, das einen Moment ausgesetzt hatte, schlug weiter und das Blut rauschte wieder durch seine Adern. »Jessamine, warum … was tust du hier?«

Sie zog einen kleinen Schmollmund. »Ich bin hier, weil ich hier gestorben bin«, erwiderte sie und ihre Stimme gewann an Kraft. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Geist sichtbarer wurde und seine Stimme wiedererlangte, wenn er sich in der Nähe eines Menschen befand – insbesondere dann, wenn dieser ihn auch hören konnte. Jessamine zeigte auf den Innenhof zu ihren Füßen, wo Will sie in den Armen gehalten hatte, als sie im Sterben lag und ihr Blut über das Pflaster gelaufen war. »Freust du dich nicht, mich zu sehen, Will?«, fragte sie.

»Sollte ich das denn?«, erwiderte er. »Jessie, normalerweise bekomme ich Geister nur dann zu sehen, wenn es um irgendwelche unerledigten Dinge geht oder irgendeinen Kummer, der sie an diese Welt bindet.«

Jessamine hob den Kopf und schaute hinauf in die Wolken. Obwohl die Flocken um sie herumwirbelten, stand sie vollkommen unberührt da, wie unter einer Glasglocke. »Und wenn ich solch einen Kummer hätte, würdest du mir helfen, ihn zu beseitigen? Im Leben hast du ja nie viel um mich gegeben.«

»Doch, das habe ich«, widersprach Will. »Und es tut mir sehr leid, wenn du den Eindruck hattest, mir läge nichts an dir oder ich würde dich sogar hassen, Jessamine. Ich denke, du hast mich mehr an mich selbst erinnert, als mir lieb war, und deshalb bin ich mit dir genauso hart ins Gericht gegangen wie mit mir selbst.«

Bei diesen Worten schaute Jessamine ihn an. »Nanu, warst du da gerade offen und ehrlich, Will Herondale? Du hast dich wirklich sehr verändert.« Sie trat einen Schritt zurück und Will bemerkte, dass ihre Füße keine Spuren im frischen Schnee hinterließen. »Ich bin hier, weil ich im Leben keine Schattenjägerin sein wollte, die Nephilim nicht schützen wollte. Doch nun hat man mich mit dem Schutz des Instituts beauftragt, solange es diesen Schutz benötigt.«

»Und das macht dir nichts aus?«, fragte Will. »Hier zu sein, hier bei uns, wenn du eigentlich ins Reich des Todes hättest hinübergehen können …«

Jessamine rümpfte die Nase. »Ich wollte aber nicht hinübergehen. Schon im Leben wurde mir so vieles abverlangt – der Erzengel allein weiß, was erst danach kommen wird. Nein, nein, ich bin hier glücklich, wenn ich über euch wache, still und schwebend und unbemerkt.« Ihr silberblondes Haar schimmerte im Mondlicht, als sie den Kopf in Wills Richtung neigte. »Allerdings treibst du mich bald in den Wahnsinn.«

»Ich?«

»Allerdings. Ich habe ja schon immer gesagt, dass du einmal einen schrecklichen Verehrer abgeben würdest – und nun bist du auf dem besten Wege, es auch zu beweisen.«

»Ist das dein Ernst?«, fragte Will. »Du bist wie der Geist des alten Marley von den Toten zurückgekehrt, nur um mir bezüglich meiner romantischen Aussichten zuzusetzen?«

»Welche Aussichten? Du hast Tessa auf so viele Kutschfahrten mitgenommen, dass sie aus dem Gedächtnis einen Stadtplan von London zeichnen könnte. Aber hast du ihr auch einen Heiratsantrag gemacht? Nein, hast du nicht. Eine Dame kann sich selbst aber keinen Antrag machen, William, und sie kann dir auch nicht sagen, dass sie dich liebt, solange du ihr nicht deine Absichten erklärst!«

Will schüttelte den Kopf. »Jessamine, du bist unverbesserlich.«

»Aber ich habe recht«, konterte sie. »Wovor hast du Angst?«

»Ich fürchte, wenn ich ihr meine Absichten erkläre, wird sie sagen, dass sie meine Liebe nicht erwidern könne – nicht auf die Art und Weise, wie sie Jem geliebt hat.«

»Sie wird dich auch nicht so lieben, wie sie Jem geliebt hat. Sie wird dich so lieben, wie sie dich liebt, Will, einen völlig anderen Menschen. Wünschst du dir denn, sie hätte Jem nie geliebt?«

»Nein, aber ich möchte auch niemanden heiraten, der mich nicht liebt.«

»Um das herauszufinden, musst du sie fragen«, erwiderte Jessamine. »Das Leben ist voller Risiken. Dagegen ist der Tod sehr viel einfacher.«

»Wieso habe ich dich eigentlich nicht schon vorher gesehen, wenn du bereits die ganze Zeit hier bist?«, fragte Will.

»Ich kann das Institut noch nicht betreten und bisher warst du nie allein, wenn du nach draußen in den Innenhof gekommen bist. Natürlich habe ich versucht, die Eingangstür zu passieren, aber eine Art Kraftfeld hält mich davon ab. Wenigstens ist es inzwischen besser als ganz am Anfang, wo ich kaum ein paar Schritte gehen konnte. Jetzt komme ich schon bis hierhin.« Sie deutete auf ihren Standort auf den Stufen. »Eines Tages werde ich das Institut auch betreten können.«

»Und wenn du das tust, wirst du feststellen, dass dein Zimmer unverändert ist, genau wie deine Puppen«, sagte Will.

Jessamine schenkte ihm ein Lächeln, das in Will die Frage weckte, ob sie schon immer so traurig gewesen war oder ob der Tod sie stärker verändert hatte als erwartet. Doch bevor Will etwas erwidern konnte, huschte ein ängstlicher Ausdruck über Jessamines Gesicht und sie verschwand in einer wirbelnden Schneesäule.

Will drehte sich um, um nachzusehen, was sie so verschreckt hatte. Die Tür des Instituts stand auf und Magnus war ins Freie getreten. Er trug einen Persianermantel und auf seinem Zylinder hatten sich bereits ein paar Schneeflocken abgesetzt.

»Ich hätte wissen müssen, dass ich dich hier draußen finden würde, wo du dein Bestes tust, um dich in einen Eiszapfen zu verwandeln«, bemerkte Magnus und stieg die Stufen hinunter, bis er auf einer Höhe mit Will stand.

Will verspürte nicht das Bedürfnis, von seiner Begegnung mit Jessamine zu erzählen. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie das auch nicht gewollt hätte. »Brichst du gerade auf? Oder hast du nach mir gesucht?«, fragte er.

»Beides«, sagte Magnus und streifte seine weißen Handschuhe über. »Genau genommen, verlasse ich nicht nur das Institut, sondern auch London.«

»Du willst London verlassen?«, fragte Will bestürzt. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Warum nicht?« Magnus schnippte eine Schneeflocke von seinem Mantel, die daraufhin blau aufleuchtete und verschwand. »Ich bin kein gebürtiger Londoner, Will. Ich habe zwar eine Weile bei Woolsey gelebt, aber sein Haus ist nicht mein Zuhause. Außerdem gehen wir einander allmählich auf die Nerven.«

»Wo willst du hin?«

»Nach New York. Die Neue Welt! Ein neues Leben, ein neuer Kontinent.« Magnus warf die Hände in die Höhe. »Ich darf sogar euren Kater mitnehmen. Charlotte sagt, seit Jems Abschied trauert er nur noch.«

»Nun ja, er beißt jeden, der sich ihm nähert. Du hast also meinen Segen, wenn du Church mitnehmen willst. Meinst du, New York wird ihm gefallen?«

»Wer weiß? Wir werden es gemeinsam herausfinden. Das Unerwartete sorgt dafür, dass ich nicht einroste.«

»Diejenigen von uns, die nicht ewig leben, schätzen Veränderungen deutlich weniger als deinesgleichen. Ich bin es leid, weiterhin Menschen zu verlieren«, sagte Will.

»Das geht mir genauso«, bestätigte Magnus. »Aber wie ich dir ja bereits gesagt habe: Man lernt, das Unerträgliche zu ertragen.«

»Ich habe gehört, wenn jemand einen Arm oder ein Bein verliert, kann er trotzdem noch Schmerzen an dieser Stelle empfinden, obwohl die betreffenden Gliedmaßen gar nicht mehr da sind«, sinnierte Will. »Genauso empfinde ich das manchmal: Ich kann Jem noch immer bei mir spüren, obwohl er nicht mehr da ist – und das ist so, als würde mir ein Teil von mir selbst fehlen.«

»Aber dir fehlt kein Teil«, widersprach Magnus. »Jem ist nicht tot, Will. Er lebt, weil du ihn hast gehen lassen. Er wäre bei dir geblieben und gestorben, wenn du ihn darum gebeten hättest; aber du hast ihn so geliebt, dass es dir wichtiger war, dass er weiterlebt, wenn auch weit weg von deinem Leben. Das wiederum beweist vor allen anderen Dingen, dass du nicht Sydney Carton bist, Will, dass deine Liebe nicht die Art von Liebe ist, die nur durch Zerstörung erfüllt werden kann. Genau das hab ich immer in dir gesehen und genau das hat in mir den Wunsch geweckt, dir zu helfen: die Tatsache, dass du nicht alle Hoffnung aufgegeben hast. Dass du in dir die unerschöpfliche Fähigkeit zur Freude trägst.« Magnus schob einen behandschuhten Finger unter Wills Kinn und hob sein Gesicht an. Es gab nicht viele Leute, zu denen Will hochschauen musste, um ihnen in die Augen zu blicken, doch Magnus gehörte definitiv dazu. »Du heller Stern!«, murmelte Magnus nachdenklich, als würde er sich an etwas oder an jemanden erinnern. »Ihr Sterblichen brennt so hell. Und du noch viel heller als die meisten, Will. Ich werde dich nie vergessen.«

»Ich dich auch nicht«, sagte Will. »Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet. Du hast mich von meinem Fluch befreit.«

»Du warst doch gar nicht verflucht.«

»Doch, das war ich«, widersprach Will. »Das war ich. Ich danke dir, Magnus, für alles, was du für mich getan hast. Falls ich es noch nicht gesagt haben sollte, sage ich es jetzt: Vielen Dank.«

Magnus ließ seine Hand sinken. »Ich glaube nicht, dass mir jemals zuvor ein Schattenjäger gedankt hat.«

Will schenkte ihm ein schiefes Grinsen. »An deiner Stelle würde ich mich erst gar nicht daran gewöhnen. Wir sind ein ziemlich undankbarer Haufen.«

»Nein«, lachte Magnus, »ich werde versuchen, mich nicht daran zu gewöhnen.« Dann kniff er seine katzenartigen Augen leicht zusammen. »Ich denke, ich lasse dich in guten Händen zurück, Will Herondale.«

»Du meinst Tessa.«

»In der Tat, ich meine Tessa. Oder willst du etwa leugnen, dass sie den Schlüssel zu deinem Herzen besitzt?« Magnus war die Stufen hinabgestiegen, hielt nun inne und drehte sich zu Will um.

»Nein, das leugne ich nicht«, sagte Will. »Aber sie wird es sehr bedauern, dass du gegangen bist, ohne dich von ihr zu verabschieden.«

»Ach«, meinte Magnus mit einem eigentümlichen kleinen Lächeln, »ich glaube nicht, dass das nötig ist. Sag ihr, dass ich sie wiedersehen werde.«

Will nickte. Magnus drehte sich um, schob die Hände in die Manteltaschen und machte sich auf den Weg zum Tor des Instituts. Will sah ihm nach, bis seine Gestalt im weißen Gestöber des wirbelnden Schnees verblasste und schließlich ganz verschwand.

Unbemerkt schlüpfte Tessa aus dem Ballsaal. Selbst Charlotte, deren scharfen Augen sonst nichts entging, saß abgelenkt neben Henry, ihre Hand in seiner, und lächelte über die Kapriolen der Musiker.

Tessa brauchte nicht lange, um Will zu finden. Sie hatte schon eine Ahnung gehabt, wo er sein könnte, und hatte recht behalten: Er stand auf der Treppe vor dem Institut, ohne Hut und Mantel, und ließ den Schnee auf seinen Kopf und seine Schultern rieseln. Der Innenhof war mit einer feinen weißen Schicht überzogen, die die Reihe der abgestellten Kutschen, das schwarze Eisentor und die Steine, auf denen Jessamine gestorben war, wie mit Puderzucker bedeckte. Will starrte angestrengt geradeaus, als versuchte er, irgendetwas in den Flocken zu erkennen, die lautlos zu Boden schwebten.

»Will«, sagte Tessa leise, woraufhin er sich zu ihr umdrehte. Sie hatte sich nur eine leichte Seidenstola umgelegt und spürte jetzt die kalten Nadelstiche der Schneeflocken auf ihren bloßen Schultern.

»Ich hätte Elias Carstairs gegenüber höflicher sein sollen«, erwiderte Will statt einer Antwort. Er schaute hinauf zum Himmel, wo eine blasse Mondsichel zwischen dichten Wolken und Nebelschwaden hervorkam. Dicke Schneeflocken hatten sich auf sein schwarzes Haar gesetzt und seine Wangen und Lippen waren vor Kälte gerötet. Er sah attraktiver aus denn je, dachte Tessa. »Stattdessen habe ich mich so verhalten, wie ich es früher getan hätte, bevor …«, fuhr Will fort.

Tessa wusste, was er meinte. Für Will würde es immer ein Davor und ein Danach geben. »Niemand sagt, dass nicht auch du einmal verärgert reagieren darfst«, beruhigte sie ihn. »Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich gar nicht möchte, dass du perfekt bist. Ich möchte, dass du du selbst bist, dass du Will bist.«

»Der niemals perfekt sein wird.«

»Perfekt ist langweilig«, entgegnete Tessa und stieg die Stufen hinab, bis sie neben ihm stand. »Im Saal spielen sie gerade ›Vervollständige das Vers-Zitat‹. Du hättest bestimmt eine Menge Punkte erzielen können. Denn ich kenne niemanden, der es mit deinem literarischen Wissen aufzunehmen vermag.«

»Abgesehen von dir.«

»Ich wäre in der Tat eine ernsthafte Konkurrenz. Vielleicht sollten wir beide uns zu einer Art Team zusammentun und den Gewinn später miteinander teilen.«

»Das wäre schlechter Stil«, erwiderte Will geistesabwesend und legte den Kopf in den Nacken. Der Schnee wirbelte weiß um sie herum, als stünden sie auf dem Grund eines Mahlstroms. »Als Sophie heute aszendiert ist …«, setzte er an.

»Ja?«

»Ist die Aszension etwas, das du auch gern gewollt hättest?« Will wandte sich Tessa wieder direkt zu, mit weißen Eiskristallen in den dunklen Wimpern.

»Du weißt, dass mir das nicht möglich ist, Will. Ich bin ein Hexenwesen oder zumindest etwas in der Art. Ich werde niemals eine richtige Nephilim sein.«

»Ich weiß.« Will blickte auf seine Hände und spreizte die Finger, damit die Schneeflocken sich darauf setzen und in seiner Handfläche schmelzen konnten. »Aber am Cadair Idris hast du gesagt, du hättest gehofft, eine Schattenjägerin zu sein…und dass Mortmain diese Hoffnung zunichte gemacht habe …«

»Damals habe ich das tatsächlich so empfunden«, räumte Tessa ein. »Aber als ich mich in Ithuriel verwandelt habe, als ich meine Gestalt gewandelt und Mortmain vernichtet habe … wie könnte ich etwas hassen, das es mir erlaubt, diejenigen zu beschützen, die ich liebe? Es ist nicht leicht, anders zu sein, und noch viel schwieriger, einzigartig zu sein. Aber ich komme allmählich zu der Überzeugung, dass ich nicht dafür bestimmt bin, den leichten Weg zu gehen.«

Will lachte. »Der leichte Weg? Nein, der bleibt dir versperrt, meine Tessa.«

»Bin ich denn deine Tessa?« Sie zog die Stola enger um die Schultern und tat so, als zittere sie nur vor Kälte. »Das, was ich bin … macht es dir etwas aus, Will? Dass ich nicht bin wie du?«

Die Worte standen unausgesprochen zwischen ihnen: Für Schattenjäger, die mit Hexenwesen herumtändeln, gibt es keine Zukunft.

Will wurde blass. »Diese Dinge, die ich damals auf dem Dach gesagt habe … du weißt, dass ich sie nicht ernst gemeint habe.«

»Ich weiß …«

»Ich möchte gar nicht, dass du jemand anderes wärst als du selbst, Tessa. Du bist, was du bist, und ich liebe dich. Und ich liebe nicht nur die Teile von dir, die der Rat gutheißt …«

Tessa zog die Augenbrauen hoch. »Du bist bereit, den Rest zu ertragen?«

Will fuhr sich mit der Hand durch die dunklen, schneefeuchten Haare. »Nein. Ich habe das falsch formuliert. Es gibt nichts an dir, was ich nicht lieben würde. Glaubst du wirklich, es wäre wichtig für mich, dass du eine Nephilim bist? Meine Mutter ist keine Schattenjägerin. Und als ich gesehen habe, wie du dich in den Engel verwandelt hast … als ich sah, wie du mit Himmlischem Feuer branntest … dieser Anblick war überwältigend, Tess.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Das, was du bist…wozu du fähig bist, ist wie eines der großartigen Wunder dieser Erde, wie Feuer oder Wildblumen oder die Weite des Meeres. Du bist einzigartig auf dieser Welt, genau wie du einzigartig in meinem Herzen bist, und der Moment, in dem ich dich nicht mehr liebe, wird niemals kommen. Ich würde dich auch lieben, wenn du überhaupt kein Schattenjägerblut in dir tragen würdest …«

Tessa schenkte ihm ein zittriges Lächeln. »Aber ich bin froh, dass ich zur Hälfte Nephilim bin«, sagte sie, »denn das bedeutet, dass ich bei euch bleiben darf, hier im Institut. Und dass die Familie, die ich hier gefunden habe, auch weiterhin meine Familie bleiben kann. Charlotte sagt, wenn ich will, könnte ich den Namen Gray aufgeben und den Geburtsnamen meiner Mutter annehmen. Ich könnte eine Starkweather sein. Ich könnte einen richtigen Schattenjägernamen tragen.«

Geräuschvoll ließ Will die Luft aus seinen Lungen weichen, die sich als weiße Wolke in der Kälte abzeichnete. Seine Augen waren blau und groß und klar und schauten Tessa unverwandt an. Seine Miene erinnerte sie an einen Mann, der sich für eine Furcht einflößende Aufgabe wappnet und diese nun angeht. »Selbstverständlich kannst du einen richtigen Schattenjägernamen tragen«, sagte er. »Du kannst meinen Namen tragen.«

Tessa starrte Will an, der sich schwarz und weiß vor dem Hintergrund aus weißem Schnee und schwarzem Mauerstein abhob. »Deinen Namen?«

Entschlossen trat Will noch näher heran, bis sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Dann nahm er Tessas Hand, zog ihren Handschuh aus und hielt ihre nackte Hand in seinen warmen, rauen Fingern. Die Berührung jagte einen elektrisierenden Schauer durch Tessas Körper. Seine tiefblauen Augen schauten ruhig und beständig und spiegelten all das wider, was Will war: aufrichtig und zärtlich, scharfsinnig und weise, liebevoll und freundlich. »Heirate mich«, sagte er. »Heirate mich, Tess. Heirate mich und werde Tessa Herondale. Oder Tessa Gray oder wie auch immer du dich nennen willst. Aber heirate mich und bleib bei mir und geh niemals fort, denn ich könnte keinen weiteren Tag in meinem Leben ertragen, in dem du nicht bei mir bist.«

Der Schnee wirbelte leise um sie herum, weiß und kalt und perfekt. Die Wolkendecke war aufgerissen und in den Lücken konnte Tessa funkelnde Sterne sehen.

»Jem hat mir erzählt, was Ragnor Fell über meinen Vater gesagt hat«, fuhr Will fort. »Er hat gesagt, mein Vater habe nur eine einzige Frau geliebt. Für ihn kam nur sie infrage – sie und keine andere. Und genau das bist du für mich, Tessa. Ich liebe dich und ich werde dich immer lieben, bis in den Tod hinein …«

»Will!«

Er biss sich auf die Lippe. Auf seinen Haaren lag nun eine regelrechte Schneeschicht und dicke Flocken klebten an seinen Wimpern. »War das zu viel? Hab ich dir Angst eingejagt? Du weißt doch, wie ich mit Worten bin …«

»Oh ja, das weiß ich.«

»Ich erinnere mich an das, was du mir einmal gesagt hast«, sprudelte Will hervor. »Worte haben die Macht, uns zu verändern. Deine Worte haben mich verändert, Tess, sie haben mich zu einem besseren Menschen gemacht. Das Leben ist ein Buch und es enthält Tausende Seiten, die ich noch nicht gelesen habe. Ich möchte sie gern mit dir zusammen lesen, so viele wie nur möglich, bevor ich sterbe …«

Tessa legte die Hand auf Wills Brust, direkt über seinem Herzen, und spürte seinen Puls an ihrer Handfläche – ein einzigartiger, unvergleichlicher Rhythmus. »Ich wünschte nur, du würdest nicht ständig vom Sterben reden«, sagte sie. »Aber davon abgesehen: Ja, ich weiß, wie du mit Worten bist – und ich liebe sie alle, Will. Jedes Wort, das du sagst. Die albernen, die verrückten, die wunderschönen und die Worte, die nur für mich bestimmt sind. Ich liebe sie, Will, und ich liebe dich.«

Will setzte zu einer Antwort an, doch Tessa legte ihm eine Hand auf den Mund.

»Ich liebe deine Worte, mein lieber Will, aber halte sie noch einen Moment zurück«, fuhr Tessa fort und sah ihm lächelnd in die Augen. »Denk bitte einmal an all die Worte, die ich die ganze Zeit zurückhalten musste, während ich nicht wusste, was deine Absichten waren. Als du zu mir in den Salon gekommen bist und mir deine Liebe erklärt hast, da musste ich dich fortschicken, und das war das Grausamste, zu dem ich mich jemals überwinden musste. Du hast gesagt, du würdest die Worte lieben, die mir aus dem Herzen gekommen sind, das Abbild meiner Seele. Ich erinnere mich genau – ich erinnere mich an jedes Wort, das du seit dem damaligen Tag gesagt hast, bis heute. Und ich werde kein einziges vergessen. Es gibt noch so viele Worte, die ich dir sagen möchte, und so viele, die ich von dir hören möchte. Ich hoffe, wir werden unser ganzes Leben haben, um sie uns gegenseitig zu sagen.«

»Dann wirst du mich also heiraten?«, fragte Will mit einem benommenen Ausdruck in den Augen, als könnte er sein Glück noch gar nicht fassen.

»Ja«, sagte Tessa – das letzte, einfachste und wichtigste Wort von allen.

Und Will, der sonst nie um ein Wort verlegen war, öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Statt einer Antwort zog er sie stumm an sich. Tessas Stola fiel auf die Stufen, aber Wills Arme hielten sie warm und sein Mund streifte heiß über ihre Lippen, als er den Kopf senkte, um sie zu küssen. Er schmeckte nach Schneeflocken und Wein, wie Winter und Will und London. Seine Lippen lagen sanft auf ihren, seine Hände schoben sich in ihre Haare und verstreuten weiße Beeren auf die Steintreppe. Tessa hielt Will umschlungen, ließ ihn nicht mehr los, während der Schnee um sie herumwirbelte. Durch die Fenster des Ballsaals drang der gedämpfte Klang von Musik und Tessa konnte die Instrumente hören: das Klavier, das Cello und darüber die lieblichen, feierlichen Klänge der Geige, die wie Funken zum Himmel aufstiegen.

»Ich kann gar nicht fassen, dass wir wirklich nach Hause zurückkehren«, sagte Cecily. Sie hatte die Hände vor sich verschränkt, hüpfte in ihren weißen Lederstiefelchen aufgeregt auf und ab und bildete mit ihrem roten Wintermantel den einzigen Farbtupfer in der dunklen Krypta – abgesehen vom Portal, das strahlend und silbern an der Rückwand des Raumes leuchtete.

Durch die Öffnung hindurch konnte Tessa einen blauen Himmel erkennen, wie in einem Traum, und schneebedeckte Hügel, während der Himmel über London wieder einmal grau war. Will stand an ihrer Seite, so dicht neben ihr, dass ihre Schultern sich berührten. Er sah bleich und nervös aus und Tessa sehnte sich danach, seine Hand zu nehmen.

»Wir kehren nicht nach Hause zurück, Cecy«, berichtigte er seine Schwester. »Wir reisen nur zu einem Besuch dorthin. Ich möchte unseren Eltern meine Verlobte vorstellen.« Bei diesen Worten bekamen seine Wangen wieder etwas Farbe und ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Damit sie das Mädchen kennenlernen, das meine Frau werden wird.«

»Ach, papperlapapp!«, erwiderte Cecily. »Wir können das Portal nutzen, um sie so oft zu besuchen, wie wir wollen! Charlotte ist die Konsulin, deshalb werden wir deswegen wohl kaum Ärger bekommen.«

Charlotte stöhnte. »Cecily, diese Reise stellt eine absolute Ausnahme dar. Das Portal ist kein Spielzeug. Man kann es nicht nach Lust und Laune nutzen und dieser Ausflug muss auf jeden Fall geheim bleiben. Niemand außer uns darf davon erfahren, dass ihr eure Eltern besucht habt … dass ich euch erlaubt habe, gegen das Gesetz zu verstoßen!«

»Ich werde niemandem davon erzählen!«, protestierte Cecily. »Und Gabriel auch nicht.« Sie warf dem jungen Schattenjäger an ihrer Seite einen kurzen Blick zu. »Das wirst du doch nicht, oder?«

»Warum kommt er noch mal mit?«, fragte Will in die Runde, meinte aber eigentlich seine Schwester.

Cecily stemmte die Hände in die Hüften. »Warum nimmst du Tessa mit?«

»Weil Tessa und ich bald verheiratet sein werden«, entgegnete Will. Tessa musste lächeln; es amüsierte sie, wie Wills kleine Schwester ihn noch immer aus der Ruhe bringen konnte.

»Nun, Gabriel und ich sind vielleicht auch bald verheiratet«, sagte Cecily. »Eines Tages.«

Gabriel brachte einen erstickten Laut hervor und sein Gesicht nahm eine beunruhigend violette Tönung an.

Genervt riss Will die Hände in die Höhe. »Du kannst nicht heiraten, Cecily! Du bist erst fünfzehn! Wenn ich heirate, werde ich achtzehn sein! Ein Erwachsener!«

Cecily wirkte kein bisschen beeindruckt. »Wir mögen vielleicht eine längere Verlobungszeit haben als üblich«, setzte sie an, »aber ich verstehe nicht, wie du mir dazu raten kannst, einen Mann zu heiraten, den meine Eltern nie zu Gesicht bekommen haben.«

Will sprudelte aufgebracht hervor: »Ich rate dir überhaupt nicht, einen Mann zu heiraten, den deine Eltern nie zu Gesicht bekommen haben!«

»Dann sind wir uns ja einig. Gabriel muss Mam und Dad kennenlernen.« Cecily wandte sich an Henry: »Ist das Portal bereit?«

Tessa beugte sich zu Will hinüber. »Ich mag es, wie sie mit dir umgeht«, flüsterte sie. »Das ist sehr amüsant anzusehen.«

»Warte, bis du erst meine Mutter kennengelernt hast«, erwiderte Will und schob seine Hand in Tessas. Seine Finger waren kalt; sein Puls musste rasen. Tessa wusste, dass er die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Die Vorstellung, seine Eltern nach so vielen Jahren wiederzusehen, musste für ihn gleichermaßen erfreulich und beängstigend sein. Tessa wusste, dass diese Mischung aus Hoffnung und Furcht unendlich viel schlimmer war als jedes dieser Gefühle für sich genommen.

»Das Portal ist bereit«, sagte Henry in diesem Augenblick. »Denkt daran: In einer Stunde werde ich es erneut öffnen, damit ihr zurückkehren könnt.«

»Und vergesst nicht, dass dies eine Ausnahme ist«, mahnte Charlotte besorgt. »Auch wenn ich die Konsulin bin, kann ich euch nicht gestatten, eure irdische Familie zu besuchen …«

»Nicht einmal zu Weihnachten?«, fragte Cecily, mit großen, tragischen Augen.

Charlottes Entschiedenheit ließ deutlich nach. »Nun ja, vielleicht zu Weihnachten …«

»Und zu Geburtstagen«, warf Tessa ein. »Geburtstage sind schließlich etwas Besonderes.«

Resigniert schlug Charlotte die Hände vors Gesicht. »Oh, beim Erzengel.«

Henry lachte und zeigte dann auf das Portal. »Geht schon«, sagte er.

Cecily trat als Erste hindurch und verschwand im Portal, als wäre sie durch einen Wasserfall gegangen. Als Nächster folgte ihr Gabriel und dann Will und Tessa, die einander fest an den Händen hielten. Tessa konzentrierte sich auf den Druck von Wills Fingern, das Pulsieren seines Bluts unter seiner Haut, als sie von Kälte und Dunkelheit erfasst und mehrere atemlose, zeitlose Augenblicke herumgewirbelt wurden. Dann erstrahlte ein helles Licht hinter Tessas geschlossenen Lidern und sie tauchte plötzlich blinzelnd und taumelnd aus der Dunkelheit auf. Will fing sie auf und zog sie an sich.

Sie standen am oberen Ende einer geschwungenen Auffahrt, direkt vor Ravenscar Manor. Tessa hatte das Anwesen bisher nur vom Hügel aus gesehen, als Jem, Will und sie gemeinsam nach Yorkshire gereist waren. Damals war ihr zunächst nicht bewusst gewesen, dass Wills Familie dort wohnte. Sie erinnerte sich daran, dass das Haus in der Mitte eines engen Tals lag, umgeben von hohen Hügeln, die mit Ginster und Heidekraut bedeckt gewesen waren. Jetzt lag eine dünne Schicht Schnee auf den Kuppen, die einst grünen Bäume waren kahl und vom dunklen Schieferdach des Herrenhauses hingen funkelnde Eiszapfen herab.

Ein schwerer Messingklopfer prangte in der Mitte der dunklen Eichentür. Will warf seiner Schwester einen Blick zu, die kurz nickte; dann straffte er die Schultern, hob den Türklopfer an und ließ ihn mit Schwung gegen das Holz fallen. Das resultierende Dröhnen schien durch das gesamte Tal zu hallen und Will fluchte unterdrückt.

Behutsam berührte Tessa ihn am Handgelenk. »Sei tapfer«, sagte sie. »Schließlich erwartet dich dahinter doch keine Ente, oder?«

Will wandte sich ihr lächelnd zu und eine dunkle Strähne fiel ihm in die Augen, als im selben Moment die Tür geöffnet wurde.

Dahinter kam ein ordentlich gekleidetes Dienstmädchen in schwarzem Kleid und weißer Haube zum Vorschein. Sie warf einen einzigen Blick auf die Gruppe vor der Tür und bekam Augen so groß wie Untertassen. »Miss Cecily«, keuchte sie und dann sah sie Will. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, wirbelte herum und stürmte ins Haus zurück.

»Oje«, sagte Tessa.

»Ich habe nun einmal diese Wirkung auf Frauen«, meinte Will. »Vermutlich hätte ich dich warnen sollen, ehe du eingewilligt hast, mich zu heiraten.«

»Ich kann meine Meinung immer noch ändern«, erwiderte Tessa zuckersüß.

»Untersteh dich …«, setzte Will mit einem atemlosen Lachen an, doch im nächsten Moment erschienen zwei Leute in der Tür: ein großer, breitschultriger Mann, mit einer Fülle blonder und grauer Haare und hellblauen Augen. Direkt hinter ihm stand eine Frau: schlank und wunderschön, mit Wills und Cecilys tintenschwarzen Haaren und veilchenblauen Augen. Als sie Will sah, stieß sie einen kleinen Schrei aus und riss die Hände in die Höhe, die wie weiße, von einem Windstoß aufgescheuchte Vögel flatterten.

Tessa ließ Wills Hand los. Er schien wie erstarrt zu sein, wie ein Fuchs beim Anblick der nahenden Hundemeute. »Geh nur«, forderte Tessa ihn leise auf.

Will trat einen Schritt vor und dann schlang seine Mutter die Arme um ihn und rief: »Ich wusste, dass du zurückkommen würdest. Ich wusste es!«, gefolgt von einem Schwall walisischer Worte, aus denen Tessa aber nur Wills Namen heraushören konnte. Wills Vater stand sprachlos, aber lächelnd da und streckte Cecily die Hände entgegen, die sich ihm daraufhin höchst bereitwillig in die Arme warf.

Die nächsten Sekunden verharrten Tessa und Gabriel etwas verlegen auf der Schwelle, wobei sie sich nicht direkt ansahen, aber auch nicht wussten, wo sie sonst hinschauen sollten. Nach einem langen Moment löste Will sich schließlich von seiner Mutter und tätschelte zärtlich ihre Schulter. Sie lachte, obwohl Tränen in ihren Augen standen, und sagte etwas auf Walisisch, von dem Tessa vermutete, dass es um die Tatsache ging, dass Will inzwischen größer war als sie.

»Kleines Mütterchen«, erwiderte Will liebevoll und bestätigte damit Tessas Vermutung. Dann drehte er sich zu Tessa um, als seine Mutter einen verwunderten Blick auf Tessa und dann auf Gabriel warf. »Mam und Dad, das ist Theresa Gray. Wir sind verlobt und werden nächstes Jahr heiraten«, verkündete Will.

Wills Mutter schnappte nach Luft – was zu Tessas Erleichterung überrascht und nicht erschrocken klang – und Wills Vater heftete seinen Blick sofort auf Gabriel und dann auf Cecily. »Und wer ist dieser Gentleman?«, fragte er mit leicht zusammengekniffenen Augen.

Will grinste breit. »Ach, er … Das ist Cecilys … Freund, Mr Gabriel Lightworm.«

Gabriel, der Mr Herondale gerade die Hand entgegenstreckte, erstarrte entsetzt. »Lightwood«, stotterte er. »Gabriel Lightwood …«

»Will!«, stieß Cecily aufgebracht hervor, löste sich aus der Umarmung ihres Vaters und musterte ihren Bruder wütend.

Will schaute Tessa an; seine blauen Augen funkelten. Tessa öffnete den Mund, um ihn genau wie Cecily auszuschimpfen, aber es war bereits zu spät: Sie brach in schallendes Gelächter aus.