20

DIE HÖLLENGERÄTE

Wie eine Puppe an der Schnur
Schob sich bisweilen durch die Tour
Ein dünn umrissenes Skelett.

Dann fassten sich die Paare schnell
Und tanzten zeremoniell
Ein feierliches Menuett.

OSCAR WILDE, »DAS HURENHAUS«

»Es ist wunderschön«, stieß Henry atemlos hervor.

Die Schattenjäger des Instituts standen zusammen mit Magnus Bane in einem Halbkreis in der Krypta und starrten auf eine der nackten Steinwände – oder genauer gesagt auf etwas, das auf dem Mauerwerk erschienen war: ein leuchtender Torbogen von etwa drei Metern Höhe und eineinhalb Metern Breite. Der Bogen war allerdings nicht in die Steine gemeißelt, sondern bestand aus glühenden Runen, die einander umrankten wie das Flechtwerk eines Spaliers. Und die Runen stammten auch nicht aus dem Grauen Buch – sonst hätte Gabriel sie mühelos erkannt. Diese Zeichen jedoch hatte er noch nie gesehen: Sie wirkten so fremdländisch wie die Buchstaben einer anderen Sprache und dennoch besaßen sie eine ganz eigene Schönheit und erzählten von weiten Reisen und dunklen Wirbeln und den Entfernungen zwischen den Welten.

Im Dämmerlicht der Krypta leuchteten sie in einem hellen Giftgrün. Der Mauerbereich innerhalb des Runenbogens war nicht zu sehen – hier herrschte eine undurchdringliche Finsternis, wie ein gewaltiger dunkler Tunnel.

»Es ist wirklich erstaunlich«, bestätigte Magnus.

Die Nephilim trugen alle Kampfmonturen und hatten sich bis an die Zähne bewaffnet: Gabriel hatte sich sein Lieblingsschwert umgeschlungen und er konnte es kaum erwarten, die behandschuhten Hände um das Heft zu legen. Obwohl er mit Pfeil und Bogen sehr gut umzugehen wusste, hatte er die Schwertkunst viele Jahre bei einem Waffenmeister trainiert, der seine eigenen Lehrer wiederum bis zu Johannes Liechtenauer zurückführen konnte. Daher betrachtete Gabriel den Kampf mit dem sogenannten langen Schwert als seine Spezialität; außerdem würden Pfeil und Bogen gegen Automaten weniger ausrichten als eine Waffe, mit der man den Gegner in seine Bestandteile zerhacken konnte.

»Das verdanken wir nur Ihnen, Magnus«, sagte Henry. Er schien zu strahlen. Vielleicht lag es aber auch nur an der Spiegelung der grell leuchtenden Runen auf seinem Gesicht, überlegte Gabriel.

»Keineswegs«, erwiderte Magnus. »Ohne Ihren genialen Erfindergeist hätte es nicht entstehen können.«

»Obwohl ich diesen Austausch von Höflichkeiten durchaus zu schätzen weiß …«, warf Gabriel hastig ein, als er sah, dass Henry zu einer Antwort ansetzte, »… bleiben doch noch ein paar, womöglich lebenswichtige, Fragen zu dieser Erfindung.«

Verständnislos blickte Henry ihn an. »Als da wären?«

»Ich glaube, Henry, dass er wissen möchte, ob diese … diese Tür …« Charlotte suchte nach dem richtigen Wort.

»Wir haben es Portal genannt«, erläuterte Henry und betonte das Wort zusätzlich.

»Ob es funktioniert«, beendete Charlotte ihren Satz. »Habt ihr es ausprobiert?«

Henry zog eine bedauerliche Miene. »Nun, äh, nein. Dafür war keine Zeit. Aber ich versichere euch, dass unsere Berechnungen genau stimmen.«

Sämtliche Anwesenden, bis auf Henry und Magnus, betrachteten das Portal nun mit neuer Besorgnis. »Henry …«, setzte Charlotte beunruhigt an.

»Also ich denke, dass Henry und Magnus als Erste hindurchgehen sollten«, verkündete Gabriel. »Schließlich haben sie das verflixte Ding erfunden.«

Alle Blicke richteten sich auf ihn. »Es ist fast so, als hätte er Will ersetzt«, bemerkte Gideon mit hochgezogenen Augenbrauen. »Sie benutzen sogar die gleichen Worte.«

»Ich bin nicht wie Will!«, fauchte Gabriel.

»Das will ich auch schwer hoffen«, murmelte Cecily, allerdings so leise, dass Gabriel sich fragte, ob außer ihm sonst noch jemand ihre Bemerkung gehört hatte.

Cecily sah heute besonders hübsch aus, dachte er, obwohl er eigentlich nicht sagen konnte, warum. Sie trug die gleiche schlichte schwarze Kampfmontur wie Charlotte; ihre Haare waren ordentlich hinter dem Kopf festgesteckt und der Rubinanhänger an ihrer Kehle schimmerte warm auf ihrer hellen Haut. Trotzdem war dies nicht der geeignete Zeitpunkt, sich Gedanken über Cecilys Äußeres zu machen, ermahnte Gabriel sich streng. Da sie alle kurz davorstanden, sich in eine vermutlich tödliche Falle zu begeben, sollte er sich lieber auf den bevorstehenden Kampf konzentrieren. »Nein, ich bin kein bisschen wie Will Herondale«, wiederholte er entschlossen.

»Selbstverständlich bin ich bereit, als Erster durch das Portal zu gehen«, sagte Magnus im leidgeprüften Tonfall eines Schullehrers in einem Klassenzimmer voller ungezogener Schüler. »Allerdings benötige ich noch ein paar Dinge. Da wir hoffentlich Tessa dort vorfinden und möglicherweise auch Will, möchte ich noch weitere Kampfmonturen und zusätzliche Waffen mitnehmen. Natürlich habe ich vor, auf der anderen Seite auf euch zu warten, aber sollte es zu irgendwelchen … unvorhergesehenen Zwischenfällen kommen, ist es nie verkehrt, entsprechend vorbereitet zu sein.«

Charlotte nickte. »Ja, natürlich.« Einen Moment lang senkte sie den Blick. »Ich kann nicht fassen, dass niemand zu unserer Unterstützung gekommen ist. Nach meinem Brief hatte ich angenommen, dass wenigstens ein paar …« Sie verstummte, schluckte ein paar Mal kräftig und hob dann das Kinn. »Ich werde schnell mit Sophie reden: Sie kann alles zusammensuchen, was Sie benötigen, Magnus. Sie und Cyril und Bridget müssten sowieso bald zu uns stoßen.« Damit stieg Charlotte die Treppe hoch, woraufhin Henry ihr mit zärtlicher Besorgnis nachschaute.

Gabriel konnte es ihm nicht verübeln. Für Charlotte war es ganz eindeutig ein schwerer Schlag, dass niemand auf ihren Aufruf reagiert hatte und zu Hilfe gekommen war – obwohl er ihr das eigentlich gleich hätte sagen können. Die meisten Leute waren nun einmal von Natur aus egoistisch und vielen Schattenjägern gefiel es überhaupt nicht, dass das Londoner Institut von einer Frau geleitet wurde. Sie würden für Charlotte auf keinen Fall ihr Leben riskieren. Noch vor wenigen Wochen hätte er selbst auch nicht anders gedacht. Doch jetzt, da er sie besser kannte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass ihm die Vorstellung, für sie sein Leben zu riskieren, wie eine Ehre erschien – so wie die meisten Engländer mit Freuden ihr Leben für ihre Königin aufs Spiel setzen würden.

»Und wie funktioniert dieses Portal?«, fragte Cecily interessiert und betrachtete den glühenden Torbogen mit zur Seite geneigtem Kopf, wie ein Gemälde in einer Galerie.

»Das Portal transportiert den Nutzer im Nu von einem Ort zum anderen«, sagte Henry. »Der Trick daran ist allerdings…nun ja, bei diesem Teil handelt es sich um Magie«, fügte er mit einem leicht nervösen Unterton hinzu.

»Sie müssen sich den Ort, an den Sie reisen wollen, in Ihrer Fantasie genau vorstellen«, erläuterte Magnus. »Bei einem Ort, den Sie noch nie gesehen haben und sich daher nicht ins Gedächtnis rufen können, funktioniert das Ganze nicht. Um also zum Cadair Idris zu gelangen, benötigen wir Ihre Hilfe, Cecily. Was denken Sie, wie nahe können Sie uns an den Berg heranbringen?«

»Direkt auf den Gipfel«, erwiderte Cecily zuversichtlich. »Von den diversen Wegen, die zum Cadair Idris hinaufführen, bin ich mindestens zwei schon mit meinem Vater gegangen. Und ich erinnere mich ziemlich gut an den Gipfel.«

»Hervorragend«, sagte Henry. »Cecily, du platzierst dich vor das Portal und stellst dir unser Ziel so genau wie möglich vor …«

»Aber sie wird doch nicht als Erste hindurchgehen, oder?«, fragte Gabriel hastig und erstarrte im selben Moment, als ihm die Worte über die Lippen kamen. Er hatte nicht vorgehabt, sie laut auszusprechen. Ach, was soll’s: Wennschon, dennschon, dachte er dann und fügte hinzu: »Ich meine damit, dass sie von uns allen am wenigsten Erfahrung hat. Es wäre nicht sicher.«

»Ich kann durchaus als Erste hindurchgehen«, erwiderte Cecily, die über Gabriels Sorge nicht sehr erfreut zu sein schien. »Ich wüsste nicht, warum nicht …«

»Henry!«, rief Charlotte in diesem Moment vom Fuß der Treppe aus. Hinter ihr standen die Dienstboten des Instituts, alle in Kampfmontur: Bridget, die den Eindruck machte, als würde sie zu einem Morgenspaziergang aufbrechen, Cyril, aufrecht und mit entschlossener Miene, und Sophie mit einer großen Ledertasche in den Händen.

Doch hinter den dreien ragten weitere Personen auf: drei hochgewachsene Männer in pergamentfarbenen Roben, die sich auf ihre ganz besondere, fast schwebende Art fortbewegten.

Brüder der Stille.

Aber im Gegensatz zu allen anderen Stillen Brüdern, die Gabriel bisher zu Gesicht bekommen hatte, waren diese drei bewaffnet. Sie hatten Waffengurte über ihre Roben geschnallt und an ihrer Seite hingen Krummsäbel, deren Heft aus schimmerndem Adamant gefertigt war – das gleiche Material, aus dem auch die Stelen und die Seraphklingen bestanden.

Verwirrt schaute Henry auf; dann blickte er schuldbewusst vom Portal zu den Brüdern und erbleichte sichtbar unter seinen Sommersprossen. »Bruder Enoch«, stammelte er. »Ich …«

Beruhige dich. Die Stimme des Stillen Bruders hallte durch die Gedanken aller Anwesenden. Wir sind nicht hier, um dich vor einem möglichen Verstoß gegen das Gesetz zu warnen, Henry Branwell. Wir sind hergekommen, um mit euch zu kämpfen.

»Mit uns zu kämpfen?«, wiederholte Gideon verwundert. »Aber die Brüder der Stille kämpfen doch nicht … ich meine, sie sind doch keine Krieger …«

Das stimmt nicht. Wir waren einst Schattenjäger und sind es nach wie vor, ungeachtet unserer Verwandlung. Unser Orden wurde von Jonathan Shadowhunter persönlich gegründet, und obwohl wir unser Leben dem Studium und der Einhaltung der Gesetze widmen, können wir doch durch das Schwert sterben, wenn dies unser Wunsch ist.

Charlotte strahlte. »Die drei haben von meinem Brief erfahren«, sagte sie, »und beschlossen, uns zu helfen. Bruder Enoch, Bruder Micah und Bruder Zachariah.«

Die beiden Stillen Brüder hinter Enoch neigten stumm den Kopf. Gabriel musste ein Schaudern unterdrücken. Obwohl er wusste, dass die Brüder der Stille einen wesentlichen Bestandteil des Schattenjägerdaseins bildeten, hatte er sie schon immer etwas unheimlich gefunden.

»Bruder Enoch hat mir auch erzählt, warum sonst niemand gekommen ist«, fuhr Charlotte fort, wobei das Lächeln auf ihrem Gesicht schwand. »Konsul Wayland hat heute Morgen eine Vollversammlung anberaumt, mit Anwesenheitspflicht für alle Nephilim – ohne uns etwas davon mitzuteilen.«

»Dieser Mistk…«, stieß Henry zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Dieser miese Kerl«, beendete er seinen Satz jedoch nach einem kurzen Blick auf Cecily, die daraufhin mit den Augen rollte. »Worum geht es bei der Versammlung?«, fragte er.

»Man will uns ersetzen«, sagte Charlotte. »Wayland glaubt noch immer, dass Mortmain seinen Angriff gegen London richten wird und dass das Institut deshalb eine starke Führung braucht, um der Klockwerk-Armee Einhalt zu gebieten.«

»Mrs Branwell!« Sophie, die Magnus gerade die schwere Ledertasche reichen wollte, ließ die Sachen beinahe fallen. »Das können die Ratsmitglieder doch nicht tun!«

»Oh, das können sie durchaus«, erwiderte Charlotte. Dann schaute sie jeden einzelnen der Anwesenden an und hob das Kinn. In diesem Moment erschien sie Gabriel trotz ihrer geringen Körpermaße größer als der Konsul. »Wir haben alle gewusst, dass es dazu kommen würde«, sagte sie. »Aber das spielt keine Rolle. Wir sind Schattenjäger und es ist unsere Pflicht, uns gegenseitig zu beschützen und das zu tun, was wir für richtig halten. Wir glauben an Will und wir vertrauen ihm. Vertrauen hat uns bis hierher gebracht und es wird uns auch noch einen Schritt weiterbringen. Der Erzengel wacht über uns und wir werden obsiegen.«

Einen Moment lang herrschte völlige Stille. Gabriel schaute in die Runde und sah nur entschlossene Mienen – selbst auf Magnus’ Gesicht spiegelten sich Achtung und Respekt. »Mrs Branwell«, sagte er schließlich, »wenn Konsul Wayland Sie nicht für eine geborene Führerin hält, ist er ein Dummkopf.«

Charlotte neigte kurz den Kopf in seine Richtung. »Danke. Aber jetzt sollten wir keine Zeit mehr verschwenden: Wir müssen sofort aufbrechen, denn diese Sache duldet keinen weiteren Aufschub.«

Henry schenkte seiner Frau einen tiefen, inniglichen Blick und wandte sich dann an Cecily: »Bist du bereit?«

Wills Schwester nickte und stellte sich vor das Portal. Das schimmernde Licht warf die Schatten der ungewohnten Runen auf ihr kleines, entschlossenes Gesicht.

»Rufen Sie sich den Cadair Idris ins Gedächtnis«, forderte Magnus sie auf. »Stellen Sie sich den Gipfel so genau wie möglich vor.«

Cecily ballte die Hände zu Fäusten. Während sie auf die schwarze Mauerfläche starrte, begannen die Runen, zu vibrieren und sich zu verändern: Das Portal erwachte zum Leben, die Dunkelheit lichtete sich.

Plötzlich blickte Gabriel nicht länger auf Schatten, sondern auf eine Landschaft, die fast wie gemalt wirkte: die grüne Kuppe eines Berggipfels und ein See so blau und so tief wie der Himmel.

Cecily schnappte überrascht nach Luft. Dann trat sie unaufgefordert einen Schritt vor und verschwand durch den Torbogen – so als würde man eine Zeichnung ausradieren: zuerst ihre Hände, dann ihre ausgestreckten Arme und schließlich ihr gesamter Körper.

Eine Sekunde später war sie fort.

Bestürzt schrie Charlotte auf: »Henry!«

Ein Rauschen dröhnte in Gabriels Ohren. Er hörte, wie Henry seiner Frau versicherte, dass das Portal genau auf diese Weise funktionieren würde und nichts Ungewöhnliches geschehen sei. Aber seine Worte erschienen Gabriel wie ein Lied, das aus einem anderen Zimmer leise zu ihm drang – unverständliche Wortfetzen ohne Bedeutung. Und er wusste nur eines: Tapferer als sie alle, war Cecily durch dieses unbekannte Tor geschritten und verschwunden. Und er konnte sie unmöglich allein gehen lassen. Entschlossen setzte er sich in Bewegung, ignorierte seinen Bruder, der seinen Namen rief, schob sich an ihm vorbei und stieg durch das Portal.

Einen Augenblick nahm er nichts wahr außer völliger Finsternis. Dann schien eine große Hand aus der Dunkelheit nach ihm zu greifen und ihn zu packen…und einen Sekundenbruchteil später wurde er in einen wirbelnden tintenschwarzen Strudel hineingezogen.

Der große Versammlungssaal war erfüllt von wütenden Protestrufen.

Auf dem erhöhten Podium in der Mitte des Raums stand Konsul Wayland und starrte mit einem Ausdruck von Zorn und Unduldsamkeit auf die schreiende Menge. Seine dunklen Augen wanderten über die Schattenjäger direkt vor ihm: George Penhallow lieferte sich ein erbittertes Wortgefecht mit Sora Kaidou vom Institut in Tokio. Vijay Malhotra stach mit einem dünnen Finger Japheth Pangborn in die Brust, der seinen Landsitz in Idris kaum noch verließ und vor Empörung tomatenrot angelaufen war. Zwei der Familie Blackwell brüllten auf Amalia Morgenstern ein, die ihnen wütend auf Deutsch antwortete. Und Aloysius Starkweather stand, ganz in Schwarz gekleidet, neben einer der Holzbänke und sandte mit hochgezogenen Schultern stechende Blicke in Richtung Podium.

Schließlich nahm der Inquisitor, der neben Konsul Wayland aufragte, seinen langen Stab und ließ diesen so fest auf den Holzboden herabsausen, dass die Dielenbretter beinahe nachgaben. »GENUG!«, donnerte er. »RUHE! Haltet den Mund! Seid still und setzt euch gefälligst wieder hin. SOFORT!«

Ein bestürztes Raunen ging durch den Saal und zu Waylands sichtlicher Überraschung nahmen die Schattenjäger wahrhaftig wieder Platz. Zwar nicht leise, aber sie setzten sich tatsächlich hin – zumindest jeder, der einen Sitzplatz hatte. Der Saal war zum Bersten gefüllt; nur selten hatten sich so viele Nephilim zu einer Versammlung eingefunden. Aus aller Welt waren Abgesandte der jeweiligen Institute angereist – aus New York, Bangkok, Genf, Bombay, Kyoto und Buenos Aires. Nur die Londoner Schattenjäger, Charlotte Branwell und ihre Gefährten, glänzten durch Abwesenheit.

Aloysius Starkweather blieb aufrecht stehen; sein langer dunkler Mantel umwehte ihn wie flatternde Krähenflügel. »Wo ist Charlotte Branwell?«, fragte er fordernd. »Aus der Einladung ging hervor, dass sie hier sein würde, um den Inhalt ihrer Nachricht an die Kongregation näher zu erläutern.«

»Ich werde den Inhalt ihrer Nachricht erläutern«, stieß der Konsul zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Mir wäre es lieber, es von ihr persönlich zu hören«, warf Malhotra ein und musterte den Konsul und den Inquisitor mit scharfem Blick. Inquisitor Whitelaw wirkte abgespannt, als hätte er mehrere schlaflose Nächte verbracht, und seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

»Charlotte Branwell reagiert vollkommen übertrieben«, sagte der Konsul. »Ich übernehme die volle Verantwortung dafür, dass sie mit der Leitung des Londoner Instituts überhaupt erst beauftragt wurde. Das hätte nicht passieren dürfen. Sie wurde inzwischen ihres Amtes enthoben.«

»Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, mit Mrs Branwell persönlich zu reden«, wandte Starkweather mit rauer Stimme ein. »Und sie machte auf mich nicht den Eindruck eines Menschen, der schnell überreagiert.«

Der Konsul musterte ihn finster, als erinnerte er sich plötzlich wieder, warum er über Starkweathers Abwesenheit bei den letzten Versammlungen so erleichtert gewesen war. Dann erwiderte er verkniffen: »Charlotte Branwell befindet sich in anderen Umständen… und ich denke, dass sie … etwas durcheinander ist.«

Verwirrtes Raunen und Getuschel gingen durch den Saal. Der Inquisitor schaute zu Wayland und bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick, den der Konsul mit wütendem Funkeln erwiderte. Es war offensichtlich, dass die beiden Männer sich gestritten hatten: Der Konsul war zornrot im Gesicht und aus seiner Miene sprach maßlose Wut angesichts von Whitelaws Verhalten, das er als glatten Verrat bewertete.

Im nächsten Moment erhob sich eine ältere Dame aus einer der überfüllten Bänke. Ihr weißes Haar war zu einer Hochfrisur getürmt und sie verströmte eine gebieterische Aura. Der Konsul sah aus, als würde er innerlich aufstöhnen. Callida Fairchild, Charlotte Branwells Tante. »Falls Sie damit unterstellen wollen, Wayland«, setzte sie mit eisiger Stimme an, »dass meine Nichte hysterische und unangemessene Entscheidungen trifft, weil sie ein Kind der nächsten Schattenjägergeneration unter dem Herzen trägt, schlage ich vor, Sie überdenken Ihre Wortwahl noch einmal – und zwar gründlich.«

Der Konsul knirschte mit den Zähnen. »Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, dass Charlotte Branwells Behauptung, Mortmain würde sich in Wales befinden, auch nur ein Körnchen Wahrheit enthält«, stieß er hervor. »Sie beruft sich ausschließlich auf eine Nachricht von Will Herondale, der noch nicht mal volljährig ist und noch dazu sträflich verantwortungslos. Dagegen weisen sämtliche Beweise, einschließlich Benedict Lightwoods Notizbücher, auf einen Angriff auf London – weswegen wir sämtliche Kräfte auf die Stadt konzentrieren müssen.«

Ein Murmeln erhob sich im Saal, als die Worte »ein Angriff auf London« durch die Reihen gingen. Amalia Morgenstern fächelte sich mit einem Spitzentuch Luft zu, während Lilian Highsmith entzückt auflachte und mit dem Finger über das Heft eines Dolchs strich, der aus einer Halterung an ihrem Handschuh herausragte.

»Beweise«, fauchte Callida. »Das Wort meiner Nichte ist Beweis genug …«

Erneutes Raunen und Geraschel und dann erhob sich eine junge Frau. Sie trug ein leuchtend grünes Kleid und hatte eine trotzige Miene aufgesetzt. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie in genau diesem Saal gesessen, lauthals geschluchzt und Gerechtigkeit gefordert: Tatiana Blackthorn, geborene Lightwood.

»Der Konsul hat recht, was Charlotte Branwell betrifft!«, rief sie nun. »Charlotte Branwell und William Herondale sind der Grund dafür, dass mein Mann tot ist!«

»Ach, wirklich?«, meinte Inquisitor Whitelaw, mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Und wer genau hat Ihren Mann getötet? War das Will?«

Ein erstauntes Murmeln ging durch die Menge. Tatiana schaute empört. »Mein Vater hatte daran keine Schuld …«

»Ganz im Gegenteil«, unterbrach der Inquisitor sie. »Dieses Wissen wurde der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglich gemacht, Mrs Blackthorn, aber Sie lassen mir keine andere Wahl. Wir haben die Todesursache Ihres Ehemannes ermitteln lassen und dabei hat sich gezeigt, dass Ihr Vater durchaus Schuld daran hatte, um nicht zu sagen, ausschließlich Schuld daran hatte. Wenn Ihre Brüder – und William Herondale, Charlotte Branwell und die anderen des Londoner Instituts – nicht so schnell reagiert hätten, wäre der Name der Lightwoods inzwischen aus den Schattenjägerverzeichnissen gestrichen und Sie würden Ihre Tage als freundlose Irdische fristen.«

Tatiana lief knallrot an und ballte die Fäuste. »William Herondale hat … hat mich beleidigt; er hat Dinge gesagt, die einer Dame gegenüber unaussprechlich sind …«

»Ich kann nicht erkennen, inwiefern das für diese Angelegenheit von Relevanz ist«, erwiderte der Inquisitor. »Schließlich kann jemand im persönlichen Umgang unhöflich sein, aber in Bezug auf wichtigere Dinge durchaus recht haben.«

»Sie haben uns unser Haus genommen!«, kreischte Tatiana. »Jetzt bin ich auf die Mildtätigkeit meiner Schwiegerfamilie angewiesen … wie eine dahergelaufene Bettlerin …«

Die Augen des Inquisitors funkelten mit den Edelsteinen in seinen Ringen um die Wette. »Ihr Haus wurde konfisziert, Mrs Blackthorn, nicht gestohlen. Wir haben das gesamte Anwesen der Familie Lightwood durchsucht«, fuhr er mit erhobener Stimme fort. »Dabei haben wir zahlreiche Beweise für Benedict Lightwoods Verbindung zu Mortmain gefunden, Tagebücher mit Details schändlicher, schmutziger, unsäglicher Handlungen. Der Konsul zitiert diese Unterlagen als Beweis dafür, dass ein Angriff auf London erfolgen wird, aber als Benedict Lightwood starb, befand er sich im Endstadium der Dämonenpocken und hatte den Verstand verloren. Und selbst wenn er noch im vollen Besitz seiner Geisteskraft gewesen wäre, erscheint es mehr als unwahrscheinlich, dass Mortmain ihm seine wahren Pläne anvertraut hätte …«

Mit einem fast verzweifelten Ausdruck in den Augen fiel der Konsul ihm ins Wort: »Der Fall Benedict Lightwood ist abgeschlossen – abgeschlossen und irrelevant. Wir sind hier, um über Mortmain und das Institut zu sprechen! Erstens: Da Charlotte Branwell ihres Amtes enthoben wurde und alles auf einen Angriff auf London hindeutet, benötigen wir umgehend einen neuen Leiter für die Londoner Brigade. Hiermit möchte ich die Diskussion eröffnen: Ist jemand bereit, als ihr Nachfolger vorzutreten?«

Erneutes Getuschel und Gemurmel. George Penhallow hatte sich schon halb von seinem Sitz erhoben, als der Inquisitor plötzlich wütend aufbrauste: »Das ist doch lächerlich, Josiah! Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, dass Mortmain sich nicht dort aufhält, wo Charlotte ihn vermutet. Wir haben ja noch nicht einmal angefangen, über eine Verstärkung zu sprechen, die wir ihr nachschicken können …«

»Ihr nachschicken? Was meinst du mit ›ihr nachschicken‹?«

Der Inquisitor deutete mit dem Arm über die Menge. »Sie ist nicht hier. Was glaubst du denn, wo sich die Bewohner des Londoner Instituts im Moment befinden? Sie sind zum Cadair Idris aufgebrochen, auf den Spuren von Mortmain. Und anstatt nun über eine mögliche Unterstützung zu sprechen, haben wir eine Versammlung einberufen, um Charlottes Nachfolge zu diskutieren!«

In dem Augenblick verlor der Konsul die Geduld. »Es wird keine Unterstützung geben!«, brüllte er. »Es wird niemals Unterstützung geben für diejenigen, die …«

Doch die Kongregation sollte nicht mehr erfahren, wer nach Ansicht des Konsuls ohne Unterstützung auskommen musste. Denn plötzlich blitzte hinter dem Konsul kalter Stahl auf und dann trennte eine Klinge seinen Schädel sauber vom Rumpf ab.

Der Inquisitor zuckte zurück und griff nach seinem Stab, während das Blut nur so über ihn spritzte. Dann brach der Konsul tot zusammen: Sein Körper sank auf den blutgetränkten Boden des Podiums, während sein abgetrennter Kopf wie ein Tennisball davonrollte. Und hinter seinem Rumpf kam ein Automat zum Vorschein – so spindeldürr wie ein menschliches Skelett und mit den Resten einer roten Uniformjacke bekleidet. Er grinste wie ein Totenschädel, als er seine scharlachrot überzogene Klinge sinken ließ und auf die stumme, fassungslose Menge der Schattenjäger starrte.

Das einzige Geräusch im Saal stammte von Aloysius Starkweather, der leise in sich hineinlachte. »Sie hat es euch gesagt«, stieß er pfeifend hervor. »Sie hat euch gesagt, was passieren würde …«

Sofort stürmte der Automat auf ihn zu und schloss die klauenbewehrte Hand um Aloysius’ Hals. Blut schoss aus der Kehle des alten Mannes, als die noch immer grinsende Kreatur ihn vom Boden hochhob. Aus ihrer Starre erwacht, begannen die Schattenjäger, aufzuspringen und durcheinanderzuschreien … und dann flogen die Türen auf und eine Flut von Klockwerk-Kreaturen strömte in den Saal.

»Nun«, sagte eine süffisante Stimme, »das nenne ich mal eine Überraschung.«

Ruckartig fuhr Tessa hoch und zog die schwere Tagesdecke über ihre Schultern. Neben ihr rührte Will sich, stützte sich dann auf einen Ellbogen und öffnete langsam die Lider. »Was ist …?«

Die Höhle war hell erleuchtet: Die Fackeln brannten lichterloh und der ganze Raum wirkte wie von Tageslicht durchflutet. Tessa sah das Durcheinander, das sie beide in der Nacht verursacht hatten: Ihre Kleidungsstücke lagen quer über den Boden und das Bett verstreut, der Teppich vor dem Kaminfeuer schlug Falten und das Bettzeug hatte sich um ihre Glieder gewickelt. Auf der anderen Seite der unsichtbaren Mauer stand eine vertraute Gestalt in einem eleganten dunklen Anzug, einen Daumen in den Hosenbund eingehakt. Die katzenartigen Augen funkelten vor Vergnügen.

Magnus Bane.

»Vielleicht solltet ihr jetzt lieber mal aufstehen«, sagte er. »In wenigen Minuten werden die anderen hier sein, um euch zu retten, und vermutlich möchtet ihr ihnen bekleidet gegenübertreten.« Er zuckte die Achseln. »Das würde ich zumindest wollen … aber ich bin ja auch für meine extreme Schüchternheit bekannt.«

Will fluchte leise auf Walisisch. Er hatte sich aufgesetzt, die Bettdecke um die Hüften gesteckt und gab sich alle Mühe, Tessa mit seinem nackten Oberkörper vor Magnus’ Blicken abzuschirmen. Im hellen Licht konnte Tessa deutlich erkennen, wo seine gebräunte Haut an Händen und Hals in die hellen Bereiche von Brust und Schultern überging. Das weiße, sternförmige Mal auf seiner Schulter strahlte wie ein Licht – und Tessa sah, wie Magnus’ Augen darüber streiften und sich dann leicht verengten.

»Interessant«, bemerkte er.

Will schnaubte aufgebracht. »Interessant? Beim Erzengel, Magnus …«

Der Hexenmeister warf ihm einen amüsierten Blick zu. Und darin lag etwas … etwas, das Tessa den Eindruck vermittelte, dass Magnus irgendetwas wusste, von dem sie nichts ahnten. »Wenn ich jemand anderes wäre, hätte ich dir jetzt das eine oder andere zu sagen«, entgegnete er.

»Ich weiß deine Zurückhaltung zu schätzen.«

»Aber nicht mehr lange«, sagte Magnus kurz angebunden. Dann hob er die Hand, klopfte gegen die unsichtbare Wand zwischen ihnen und fuhr tastend darüber. Der Anblick erinnerte an eine Hand, die in Wasser eintaucht: Von seinen Fingern breiteten sich kleine Wellen in alle Richtungen aus … und dann glitt die Wand plötzlich zu Boden und löste sich in einem blauen Funkenhagel vollständig auf. »Hier«, sagte der Hexenmeister und warf eine Ledertasche auf das Fußende des Betts. »Kampfmonturen und Waffen. Ich dachte mir ja, dass ihr vermutlich Kleidung benötigt, aber ich hatte ja keine Ahnung, wie dringend ihr sie braucht.«

Tessa funkelte ihn über Wills Schulter hinweg an. »Wie haben Sie uns gefunden? Woher haben Sie gewusst …? Wer von den anderen ist noch hier? Sind alle unversehrt?«

»Ja. Die meisten schon und sie durchkämmen gerade dieses Höhlenlabyrinth. Auf der Suche nach Ihnen. Sie sollten sich jetzt lieber anziehen«, fügte er hinzu und drehte den beiden den Rücken zu, um ihnen etwas Privatsphäre zu gönnen.

Peinlich berührt, griff Tessa nach der Ledertasche und wühlte hastig darin herum, bis sie ihre Kampfmontur gefunden hatte. Dann wickelte sie sich das Laken um den Körper und huschte mit ihren Sachen hinter einen hohen Wandschirm, der in einer Ecke der Höhle stand. Dabei vermied sie jeden Blickkontakt mit Will – sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden. Wie sollte sie ihn anschauen, ohne gleichzeitig an das zu denken, was sie beide getan hatten? Ohne sich Sorgen darüber zu machen, ob er vielleicht entsetzt war? Und ob er genauso wenig wie sie glauben konnte, dass sie beide zu etwas Derartigem fähig gewesen waren, nachdem Jem …

Ungehalten streifte sie ihre Kampfmontur über. Glücklicherweise konnte sie diese ohne fremde Hilfe anlegen. Durch den Wandschirm hörte sie, dass Magnus Will erklärte, wie es Henry und ihm durch eine Kombination von Magie und Erfindergabe gelungen war, ein Portal zu erschaffen, das sie alle von London zum Cadair Idris transportiert hatte. Tessa konnte nur die Silhouette der beiden erkennen, doch sie sah, wie Will erleichtert nickte, als Magnus alle aufzählte, die ihn hierher begleitet hatten – Henry, Charlotte, die Lightwoods, Cyril, Sophie, Cecily, Bridget und eine Gruppe Stiller Brüder.

Bei der Erwähnung von Cecilys Namen zog Will seine Kleidung noch hastiger über, und als Tessa hinter dem Wandschirm hervortrat, stand er bereits in voller Kampfmontur da, die Stiefel geschnürt, die Hände mit der letzten Gürtelschnalle seines Waffengurts beschäftigt. Als er Tessa sah, breitete sich ein zaghaftes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Die anderen haben sich aufgeteilt, um die verschiedenen Tunnel nach euch abzusuchen«, erklärte Magnus. »Wir haben vereinbart, uns in einer halben Stunde in der Haupthöhle zu treffen. Ich gebe euch beiden einen Moment, damit ihr euch … sammeln könnt.« Er grinste und deutete auf die Tür. »Ich warte draußen im Gang.«

In dem Moment, in dem sich die Tür hinter ihm schloss, lag Tessa auch schon in Wills Armen, ihre Hände hinter seinem Nacken verschränkt. »Oh, beim Erzengel«, keuchte sie. »War das peinlich.«

Will schob die Hände in ihre Haare und küsste sie … bedeckte ihre Lider, ihre Wangen und dann ihren Mund mit schnellen, aber innigen Küssen, als gäbe es auf der Welt nichts Wichtigeres. »Weißt du, was du gerade gesagt hast?«, murmelte er. »Du hast ›Beim Erzengel‹ gesagt. Wie eine Schattenjägerin.« Behutsam küsste er ihre Mundwinkel. »Ich liebe dich. Gott, wie lange habe ich darauf gewartet, dir das sagen zu können: Ich liebe dich!«

Tessa legte ihre Hände auf seine Hüften und zog ihn an sich; das robuste Gewebe der Kampfmontur fühlte sich unter ihren Fingerspitzen rau an. »Will«, setzte sie zögernd an. »Du … bedauerst es nicht?«

»Bedauern?« Ungläubig schaute er sie an. »Nage ddim – du musst verrückt sein, wenn du glaubst, dass ich das auch nur eine Sekunde bedauern würde, Tess.« Sanft strich er ihr mit den Fingerknöcheln über die Wange. »Ich möchte dir noch viel mehr sagen, noch so viel mehr …«

»Tatsächlich?«, zog Tessa ihn auf. »Will Herondale, der noch mehr sagen möchte?«

Doch Will ignorierte ihre Bemerkung. »Aber jetzt ist nicht der richtige Moment dafür. Nicht, da Mortmain uns im Nacken sitzt und Magnus vor der Tür auf uns wartet. Jetzt ist der Moment, um das hier abzuschließen. Aber wenn das Ganze vorbei ist, Tess, werde ich dir alles sagen, was ich dir schon immer sagen wollte. Doch bis dahin …« Er küsste ihre Schläfe, gab sie frei und schaute ihr eindringlich ins Gesicht. »Bis dahin brauche ich nur zu wissen, dass du mir glaubst, wenn ich dir sage, dass ich dich liebe.«

»Ich glaube jedes einzelne Wort, das du sagst«, erwiderte Tessa lächelnd, während ihre Hände sich von seinen Hüften zu seinem Waffengurt stahlen. Dann schloss sie die Finger um das Heft eines Dolchs, riss ihn mit einem Ruck heraus und lächelte, als Will überrascht zu ihr hinabblickte. Tessa küsste ihn kurz auf die Wange und trat einen Schritt zurück. »Schließlich hast du ja auch nicht gelogen, als du von deiner Tätowierung mit dem walisischen Drachen erzählt hast …«

Der Raum erinnerte Cecily an die Kuppel der St.Paul’s Cathedral, die Will ihr kurz nach ihrer Ankunft in London an einem seiner weniger griesgrämigen Tage gezeigt hatte. Es war das großartigste Gebäude, das sie je gesehen hatte. Und sie hatten das Echo ihrer Stimmen in der Whispering Gallery, der berühmten Flüstergalerie, ausprobiert und Christopher Wrens Inschrift gelesen: Lector, si monumentum requiris, circumspice. »Betrachter, wenn du sein Denkmal suchst, sieh dich um.«

Will hatte ihr die Bedeutung erklärt: Wren zog es vor, dass man sich seiner Bauwerke wegen an ihn erinnerte und nicht nur wegen irgendeines Grabmals. Die gesamte Kathedrale war ein Zeugnis seiner Baukunst – genau so, wie dieses unterirdische Labyrinth und vor allem diese gewaltige Höhle ein Zeugnis für Mortmains Schaffen darstellte.

Auch hier gab es ein Kuppelgewölbe, allerdings keine Fenster – nur eine Öffnung hoch oben im Gestein. Ein kreisförmiger Gang verlief entlang der Kuppel, von der eine Art Felsvorsprung in den Raum hineinragte. Vermutlich konnte man von dort oben die ganze Höhle überschauen und auf den Boden hinabblicken, der aus glattem Gestein bestand.

Außerdem prangte auch hier eine Inschrift an der Wand – vier Sätze, die aus glitzerndem Quarz in den Fels eingelegt waren:

DIE HÖLLENGERÄTE KENNEN KEINE GNADE
DIE HÖLLENGERÄTE KENNEN KEINE REUE
DIE HÖLLENGERÄTE KENNEN KEINE GRENZEN
DIE HÖLLENGERÄTE WERDEN NIEMALS AUFGEBEN

Auf dem polierten Steinboden waren Hunderte von Automaten in Reih und Glied aufgestellt. Sie trugen ein buntes Sammelsurium von Militäruniformen und standen vollkommen reglos und mit geschlossenen Augen da. Wie lebensgroße Zinnsoldaten, dachte Cecily. Die Höllengeräte. Mortmains großartige Erfindung – eine unaufhaltsame Armee, dazu erschaffen, Schattenjäger niederzumetzeln und erbarmungslos weiterzuziehen.

Sophie hatte den Raum als Erste entdeckt und laut aufgeschrien. Daraufhin waren die anderen sofort herbeigestürmt und hatten sie zitternd inmitten der reglosen Menge von Klockwerk-Kreaturen angetroffen, mit einem der Automaten zu ihren Füßen: Sophie hatte ihm mit ihrem Schwert die Beine weggesäbelt, sodass er wie eine Marionette mit zertrennten Drähten in sich zusammengefallen war. Trotz des Schicksals ihres Gefährten waren die restlichen Automaten jedoch nicht aus ihrer Starre erwacht, was den Schattenjägern den Mut verliehen hatte, zwischen ihnen umherzuschlendern.

Henry kniete gerade neben einer der noch immer reglosen Kreaturen; er hatte die Uniformjacke aufgeschlitzt, den Metallbrustkorb geöffnet und studierte die Innereien. Um ihn herum standen Charlotte, Sophie, Bridget und die Brüder der Stille. Gideon und Gabriel waren ebenfalls zu ihnen gestoßen; ihre Suche hatte nichts ergeben. Nur Magnus und Cyril fehlten noch. Cecily kämpfte gegen eine zunehmende innere Unruhe an, die jedoch nicht durch die Gegenwart der Automaten verursacht wurde, sondern durch die Abwesenheit ihres Bruders. Bisher hatte man ihn noch nicht gefunden. War er möglicherweise gar nicht hier? Trotz ihrer wachsenden Sorge schwieg Cecily. Denn sie hatte sich geschworen, dass sie als Schattenjägerin kein unnötiges Theater machen oder gar schreien würde, egal was passierte.

»Seht euch das an«, murmelte Henry. Im Inneren der Klockwerk-Kreatur befand sich ein Wirrwarr aus Kabeln und darin eingebettet eine Art Metallkästchen, etwa von der Größe einer Tabakdose. In das Metall des Kästchens hatte jemand ein Symbol geätzt: das Symbol einer Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlang. »Der Ouroboros. Das Symbol für die Bändigung von Dämonenenergie.«

»Genau wie auf der Pyxis.« Charlotte nickte.

»Die Mortmain uns gestohlen hat«, bestätigte Henry. »Ich hatte schon befürchtet, dass Mortmain genau das versuchen würde.«

»Dass er was versuchen würde?«, hakte Gabriel nach. Sein Gesicht war gerötet, seine grünen Augen funkelten. Der gute Gabriel, dachte Cecily – er stellte immer genau die Fragen, die ihm gerade durch den Kopf gingen.

»Die Automaten zum Leben zu erwecken«, erklärte Henry geistesabwesend und streckte die Hand nach dem Kästchen aus. »Ihnen ein Bewusstsein zu verleihen, wenn nicht sogar einen eigenen Willen …« Er verstummte, als seine Finger das Kästchen berührten und dieses plötzlich aufleuchtete. Ein Licht wie aus einem Elbenstein strömte aus dem Kästchen und durch den Ourobouros. Mit einem unterdrückten Schrei wich Henry zurück …

Doch es war bereits zu spät: Der Automat setzte sich blitzschnell auf und packte ihn. Charlotte kreischte auf und stürmte vorwärts, aber sie war nicht schnell genug. Der Automat, dessen Brustkorb noch immer auf groteske Weise offen stand, fasste Henry unter den Armen und wirbelte seinen Körper wie ein Peitsche durch die Luft.

Ein markerschütterndes Knacken hallte durch die Höhle und Henry erschlaffte. Achtlos warf der Automat den Schattenjäger beiseite, wirbelte herum und schlug Charlotte brutal ins Gesicht. Sie brach neben ihrem Mann zusammen, während der Automat einen Schritt vortrat und nach Bruder Micah griff. Der Stille Bruder ließ seinen Stab mit Wucht auf die Hand des Automaten herabsausen, doch dieser schien das gar nicht wahrzunehmen. Mit einem maschinenartigen Grollen, das wie ein Lachen klang, packte er Bruder Micah am Hals und riss ihm die Kehle auf.

Blut spritzte in alle Richtungen und Cecily tat genau das Gegenteil von dem, was sie sich gerade noch geschworen hatte: Sie schrie laut auf.