GEISTER AM WEGESRAND
Oh du, die du immer schön,
immer freundschaftlich bist,
sage mir, ist es in dem Himmel ein Verbrechen,
gar zu sehr zu lieben?
Ein gar zu zärtliches oder ein gar zu
standhaftes Herz zu führen,
die Rolle einer Verliebten oder einer Römerin
zu spielen?
Hat der Himmel keine glänzende Belohnung für
diejenigen,
welche groß denken oder tapfer sterben?
ALEXANDER POPE, »ELEGIE ZUM ANDENKEN EINES UNGLÜCKLICHEN FRAUENZIMMERS«
Will stand auf der Kuppe eines flachen Hügels, die Hände in die Taschen geschoben, und betrachtete angespannt die beschauliche Landschaft der Grafschaft Bedfordshire.
Er war so schnell wie möglich von London aus in Richtung der Great North Road geritten, der wichtigsten Fernstraße zu den nördlichen Metropolen. Da er in den frühen Morgenstunden aufgebrochen war, hatte er die Straßen fast menschenleer vorgefunden. Während er durch Islington, Holloway und Highgate galoppierte, hatte er ein paar Straßenhändler mit ihren Karren sowie den ein oder anderen Fußgänger überholt, doch ansonsten war er ungehindert vorangekommen. Und da Balios weniger schnell ermüdete als ein herkömmliches Pferd, hatte Will schon bald Barnet, South Mimms und London Colney hinter sich gelassen.
Will ritt am liebsten im Galopp – flach auf den Rücken seines Pferds gepresst und den Wind in den Haaren, während die Straße unter Balios’ Hufen nur so dahinflog. Jetzt, da er London verlassen hatte, verspürte er sowohl einen schrecklichen Schmerz als auch ein seltsames Gefühl der Freiheit. Irgendwie erschien es ihm merkwürdig, beides gleichzeitig zu empfinden, doch er konnte es nun mal nicht ändern. Da es in der Nähe von Colney mehrere Teiche gab, hatte er Balios dort getränkt und dann seine Reise fortgesetzt.
Doch nun, fast dreißig Meilen nördlich von London, erinnerte er sich unwillkürlich daran, wie er vor Jahren auf dem Weg zum Institut ebenfalls durch diese Ortschaften gekommen war. Anfangs hatte er eines der Pferde aus dem elterlichen Stall geritten, es aber dann in der Grafschaft Staffordshire verkauft, als ihm bewusst wurde, dass er nicht genügend Geld für die Wegezölle besaß. Heute wusste er, dass man ihm damals einen sehr schlechten Preis für sein Pferd gemacht hatte. Und es hatte ihn Mühe gekostet, sich von Hengroen zu verabschieden, dem Pferd, auf dem er reiten gelernt hatte – und noch mehr Mühe, die verbleibenden Meilen nach London zu Fuß zurückzulegen. Als er endlich am Institut ankam, bluteten seine Füße an zahlreichen Stellen – genau wie seine Hände, da er unterwegs gestürzt war und sich die Haut aufgeschürft hatte.
Nun blickte er auf seine Hände und erinnerte sich daran, wie sie vor fünf Jahren ausgesehen hatten. Schlanke Hände mit langen Fingern – ein typisches Merkmal aller Herondales. Jem hatte immer gesagt, es sei eine Schande, dass Will überhaupt kein musikalisches Talent besaß, weil seine Hände für das Klavierspiel wie geschaffen waren. Der Gedanke an Jem versetzte Will einen Stich ins Herz. Entschlossen schob er seine Erinnerungen beiseite und wandte sich wieder seinem Pferd zu. Er hatte hier Rast gemacht, um Balios zu tränken, ihm eine Handvoll Hafer zu füttern – gut für Schnelligkeit und Ausdauer – und ihm eine Ruhepause zu gönnen. Will kannte zwar die alten Geschichten von den Kavallerieregimentern, die ihre Pferde so lange antrieben, bis sie tot unter ihnen zusammenbrachen. Doch sosehr er Tessa auch zu Hilfe kommen wollte, konnte er sich dennoch nicht vorstellen, Balios etwas derartig Grausames anzutun.
Inzwischen herrschte mehr Verkehr auf den Straßen: Handkarren, von Kaltblutpferden gezogene Brauereiwagen, Molkereikarren und sogar Pferdeomnibusse. Mussten diese Leute wirklich an einem ganz normalen Mittwoch hier herumzockeln und die Straßen verstopfen? Wenigstens gab es keine Wegelagerer mehr: Eisenbahnen, Mautstraßen und vernünftig ausgestattete Polizeieinheiten hatten dem Straßenräubertum schon vor Jahrzehnten ein Ende gesetzt. Will war froh, mit dem Töten irgendwelcher Halunken keine kostbare Zeit verschwenden zu müssen.
Gegen Mittag war er an St. Albans vorbeigekommen, hatte aber keine Pause eingelegt, um möglichst schnell zur Watling Street zu gelangen, der alten Römerstraße, die sich bei Wroxeter aufteilte: Ein Abschnitt führte nach Norden in Richtung Schottland und der andere Abschnitt erstreckte sich bis nach Holyhead an der walisischen Küste. Geister säumten diese Straße – Will schnappte das Raunen manch alter Angelsachsen auf, die die Straße als Wæcelinga Stræt bezeichneten und von den letzten Truppen Boadiceas flüsterten, die hier vor vielen, vielen Jahren von den Römern vernichtend geschlagen worden waren.
Will blickte nachdenklich über die Landschaft. Inzwischen war es drei Uhr nachmittags und der Himmel begann, sich bereits dunkel zu färben, was bedeutete, dass er bald ein Nachtlager in einem Gasthof finden musste, wo er und Balios rasten konnten. Und dennoch kehrten seine Gedanken unwillkürlich zu Tessa zurück und zu dem Moment, als er ihr gesagt hatte, Boadicea habe bewiesen, dass auch Frauen kämpfen könnten. Allerdings hatte er Tessa zu dem Zeitpunkt noch verschwiegen, dass er ihre Briefe gelesen und sich bereits in die Kriegerseele verliebt hatte, die sich hinter ihren ruhigen grauen Augen verbarg.
Er erinnerte sich an einen früheren Traum, in dem er unter einem hohen blauen Himmel mit Tessa auf einem grünen Hügel gesessen hatte. Du wirst immer den wichtigsten Platz in meinem Herzen einnehmen. Eine heiße Wut erfasste seine Seele. Wehe, Mortmain rührte Tessa auch nur an! Sie war eine von ihnen. Sie gehörte Will zwar nicht – Tessa war viel zu sehr sie selbst, um irgendjemandem zu gehören, einschließlich Jem –, aber sie gehörte zu ihnen. Und Will verwünschte den Konsul innerlich dafür, dass er das nicht begriff.
Aber er würde sie finden. Er würde sie finden und nach Hause bringen. Und selbst wenn sie ihn niemals lieben würde, konnte er damit leben, denn er hätte dies hier auf jeden Fall getan – für sie und für sich selbst.
Entschlossen wirbelte Will zu Balios herum, der ihn misstrauisch musterte, und schwang sich in den Sattel. »Komm schon, alter Knabe«, murmelte er. »Die Sonne geht bald unter und wir müssen versuchen, noch vor Anbruch der Dunkelheit Hockliffe zu erreichen, denn es sieht ganz nach Regen aus.« Dann drückte er seinem Pferd die Fersen in die Flanken, woraufhin Balios davonschoss, als hätte er die Worte seines Reiters genau verstanden.
»Er ist allein nach Wales aufgebrochen? Mutterseelenallein?«, hakte Charlotte nach. »Wie konnten Sie nur zulassen, dass er so etwas… so etwas Dummes tut?«
Magnus zuckte die Achseln. »Es ist nicht meine Aufgabe, eigensinnige Schattenjäger auf den rechten Pfad zu bringen, weder jetzt noch irgendwann in ferner Zukunft. Genau genommen, wüsste ich nicht, warum Sie ausgerechnet mir die Schuld daran geben wollen. Ich habe die ganze Nacht in der Bibliothek verbracht und darauf gewartet, dass Will kommt und mit mir redet – was er aber nicht getan hat. Irgendwann bin ich dann in der Abteilung für Lykanthropie und Tollwut eingenickt. Woolsey beißt gelegentlich und ich mache mir Sorgen.«
Keiner der Anwesenden ging auf diese Information ein, obwohl Charlotte angespannter wirkte denn je. Das Frühstück war zunächst recht ruhig und still verlaufen, da eine ganze Reihe der Institutsbewohner fehlte. Wills Abwesenheit hatte also niemanden besonders beunruhigt. Charlotte hatte angenommen, dass er an der Seite seines Parabatai war. Erst als Cyril aufgeregt ins Speisezimmer platzte und atemlos von Balios’ Verschwinden berichtete, hatten bei Charlotte sämtliche Alarmglocken geschrillt.
Eine rasche Durchsuchung des Instituts hatte Magnus Bane zutage gefördert, der in einer Ecke der Bibliothek schlief. Charlotte hatte ihn wach gerüttelt. Auf ihre Frage, wo Will seiner Ansicht nach wohl stecken konnte, hatte der Hexenmeister ganz offen erwidert, er ginge davon aus, dass Will sich bereits auf dem Weg nach Wales befände, um Tessa zu retten und zum Institut zurückzubringen – sei es nun mit List und Tücke oder unter Anwendung von Gewalt. Zu Magnus’ Überraschung hatte diese Information Charlotte in Panik versetzt. Hektisch hatte sie eine sofortige Sitzung in der Bibliothek anberaumt, zu der alle Schattenjäger des Instituts, mit Ausnahme von Jem, zu erscheinen hatten. Selbst Gideon hatte sich humpelnd und mithilfe eines Gehstocks auf den Weg gemacht.
»Weiß irgendjemand, wann Will aufgebrochen ist?«, fragte Charlotte nun fordernd; sie stand am Kopf des langen Lesetischs und schaute eindringlich in die Runde.
Cecily, die die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet hatte, entwickelte plötzlich ein lebhaftes Interesse an dem Muster des Teppichs unter ihren Füßen.
»Das ist ein sehr schönes Schmuckstück, das du da trägst, Cecily«, bemerkte Charlotte und betrachtete den Rubin an der Kehle des Mädchens. »Ich kann mich nicht erinnern, diese Kette schon mal an dir gesehen zu haben. Genau genommen, bin ich mir ziemlich sicher, dass Will sie gestern noch getragen hat. Wann hat er sie dir gegeben?«
Trotzig verschränkte Cecily die Arme vor der Brust. »Ich sage nichts. Will trifft seine eigenen Entscheidungen, außerdem haben wir dem Konsul eindringlich zu erklären versucht, welche Schritte als Nächstes nötig sind. Aber da der Rat uns nicht helfen will, hat Will die Angelegenheit selbst in die Hand genommen. Ich wundere mich, warum du von ihm etwas anderes erwartet hast.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass er Jem allein zurücklassen würde«, sagte Charlotte und erbleichte dann bei ihren eigenen Worten. »Ich … ich weiß wirklich nicht, wie wir ihm das erklären sollen, wenn er wieder aufwacht.«
»Jem weiß …«, setzte Cecily indigniert an, wurde dann aber zu ihrer Überraschung von Gabriel unterbrochen.
»Selbstverständlich weiß er Bescheid«, warf er ein. »Will tut nur seine Pflicht als Parabatai. Er tut das, was Jem täte, wenn er dazu in der Lage wäre. Will ist an Jems Stelle aufgebrochen. Und das ist genau das, was ein Parabatai tun sollte.«
»Du verteidigst Will?«, fragte Gideon verwundert. »Nachdem du ihn all die Jahre so abschätzig behandelt hast? Nachdem du Jem bei Dutzenden Gelegenheiten gesagt hast, er habe in Bezug auf seinen Parabatai einen miserablen Geschmack bewiesen?«
»Will mag ein verwerflicher Mensch sein, aber zumindest zeigt dies hier, dass er kein verwerflicher Schattenjäger ist«, erwiderte Gabriel – und als er Cecilys Blick auffing, fügte er hinzu: »Möglicherweise ist er auch kein so verwerflicher Mensch. Im Großen und Ganzen gesehen.«
»Eine sehr großmütige Feststellung, Gideon«, konstatierte Magnus.
»Ich bin Gabriel.«
Magnus machte eine abschätzige Handbewegung. »Für mich sehen alle Lightwoods gleich aus …«
»Ähem«, unterbrach Gideon den Hexenmeister, bevor Gabriel sich irgendetwas greifen und nach Magnus werfen konnte. »Selbst wenn wir Wills charakterliche Stärken und Schwächen und die Fähigkeit mancher Anwesenden, einen Lightwood vom anderen zu unterscheiden, einmal außer Acht lassen, so bleibt doch die Frage: Reiten wir Will nach?«
»Wenn Will Unterstützung gewollt hätte, wäre er nicht mitten in der Nacht verschwunden, ohne irgendjemanden zu informieren«, gab Cecily zu bedenken.
»Richtig«, sagte Gideon, »denn Will ist ja bekannt für seine wohldurchdachten und umsichtigen Entscheidungen.«
»Er hat sich unser schnellstes Pferd geschnappt«, bemerkte Henry nachdrücklich. »Das zeugt von einer gewissen Fähigkeit zur Vorausplanung.«
»Wir können nicht zulassen, dass Will allein in diesen Kampf reitet. Mortmain und seine Automaten werden ihn abschlachten«, wandte Gideon ein. »Wenn er wirklich mitten in der Nacht aufgebrochen ist, könnten wir ihn möglicherweise noch einholen …«
»Unser schnellstes Pferd!«, mahnte Henry erneut und Magnus schnaubte verächtlich.
»Wenn man es genau bedenkt, muss das Ganze nicht unbedingt in einem Gemetzel enden«, sagte Gabriel. »Natürlich könnten wir Will nachreiten, aber dabei sollten wir nicht vergessen, dass ein solch großes Aufgebot an Kämpfern wesentlich auffälliger ist als ein einzelner Reiter. Wills größte Chance besteht darin, unentdeckt zu bleiben. Schließlich zieht er nicht in einen Krieg. Er will Tessa retten. Und bei einem solchen Einsatz sind List und Tücke nun einmal die besten Mittel …«
Im nächsten Moment schlug Charlotte so fest mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass der Knall durch den gesamten Raum hallte. »Ruhe! Haltet den Mund, ihr alle!«, donnerte sie in einem derartigen Befehlston, dass sogar Magnus überrascht zusammenzuckte. »Gabriel, Gideon, ihr habt beide recht: Für Will ist es besser, wenn wir ihm nicht folgen. Aber wir können auch nicht einen von uns umkommen lassen. Genauso wenig lässt sich an der Tatsache rütteln, dass sich der Magister außerhalb unserer Zuständigkeit befindet – die Kongregation wird erst bei ihrer nächsten Sitzung darüber entscheiden. Und daran können wir im Augenblick nicht rütteln. Deshalb müssen wir all unsere Kräfte darauf konzentrieren, Jem zu retten. Er liegt im Sterben, aber er ist noch nicht tot. Ein Teil von Wills Stärke beruht auf seiner Kraft und er ist einer von uns. Jem hat uns endlich die Erlaubnis gegeben, nach einem Heilmittel zu suchen – und deswegen werden wir genau das jetzt tun.«
»Aber …«, setzte Gabriel an.
»Ruhe!«, schnitt Charlotte ihm das Wort ab. »Ich bin die Leiterin dieses Instituts. Vergiss nicht, wer dich vor deinem Vater bewahrt hat. Ich erwarte, dass du mir Respekt zeigst.«
»Na, das hat Gideon aber mal ordentlich in die Schranken verwiesen«, bemerkte Magnus mit Genugtuung.
Charlotte wandte sich ihm mit funkelnden Augen zu. »Das gilt auch für Sie, Hexenmeister. Will mag Sie zwar herbestellt haben, aber Sie sind hier nur geduldet – solange ich es gestatte. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann haben Sie Will versprochen, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, um während Wills Abwesenheit ein Heilmittel für Jem zu finden. Also werden Sie Gabriel und Cecily die Adresse des Geschäfts geben, wo sie eventuell von Ihnen benötigte Zutaten und Hilfsmittel besorgen können. Gideon, da du verwundet bist, bleibst du hier in der Bibliothek und suchst die Bücher heraus, die Magnus dir nennt; falls du dabei Hilfe brauchst, stehen Sophie oder ich dir zur Verfügung. Henry: Vielleicht kann Magnus ja die Krypta als Laboratorium benutzen, falls du nicht gerade an einem Projekt arbeitest, das die gemeinsame Nutzung verbieten würde?« Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie Henry an.
»Ich arbeite tatsächlich gerade an einer besonderen Sache«, räumte Henry leicht zögernd ein. »Aber möglicherweise kann dieses Experiment ja auch zu Jems Rettung beitragen. Und ich würde Mr Banes Hilfe durchaus begrüßen. Im Gegenzug kann er selbstverständlich meine gesamte Laborausrüstung nutzen.«
Magnus musterte ihn neugierig. »Woran genau arbeiten Sie denn im Moment?«
»Nun ja, Sie wissen ja, dass wir Nephilim keine Magie betreiben dürfen, Mr Bane«, erläuterte Henry, entzückt, dass sich jemand für seine Experimente interessierte. »Aber ich arbeite an einem Gerät, das der wissenschaftlichen Version einer Teleportationsformel gleichkommt. Das Gerät würde ein Portal erzeugen, durch das man zu jedem gewünschten Ort gelangt …«
»Beispielsweise zu einem Lagerhaus in China, das bis zum Rand mit Yin Fen gefüllt ist?«, fragte Magnus mit glitzernden Augen. »Das klingt sehr interessant, wirklich sehr interessant.«
»Nein, tut es nicht«, murrte Gabriel.
Charlotte fixierte ihn mit einem scharfen Blick. »Das reicht jetzt. Jeder hat nun eine Aufgabe zugeteilt bekommen. Also macht euch an die Arbeit. Ich will erst dann wieder von euch hören, wenn ihr mir irgendwelche Fortschritte berichten könnt. In der Zwischenzeit findet ihr mich bei Jem.« Und mit diesen Worten rauschte sie aus dem Raum.
»Welch eine erfreuliche Reaktion«, bemerkte Mrs Black.
Tessa funkelte sie an. Sie hatte sich in eine Ecke der Kutsche zurückgezogen, möglichst weit entfernt von der schrecklichen Kreatur, die einst Mrs Black gewesen war. Bei ihrem Anblick hatte Tessa entsetzt aufgeschrien und sich dann hastig die Hand vor den Mund geschlagen, doch es war bereits zu spät. Ihre bestürzte Reaktion hatte Mrs Black eindeutig entzückt.
»Sie wurden enthauptet«, sagte Tessa. »Wie ist es möglich, dass Sie dennoch leben? Tatsächlich leben?«
»Magie«, erwiderte Mrs Black. »Ihr Bruder hat gegenüber Mortmain erwähnt, dass ich in meiner jetzigen Form von Nutzen sein könnte. Und Ihr Bruder war es auch, der das Blut vergossen hat, das mir meine fortgesetzte Existenz überhaupt erst ermöglicht. Mehrere Leben im Tausch für meines.« Sie grinste grauenerregend.
Unwillkürlich musste Tessa an ihren Bruder denken, der in ihren Armen gestorben war: Du weißt nicht, was ich alles getan habe, Tessie. Sie kämpfte gegen den bitteren Geschmack in ihrem Mund an. Nach Nates Tod hatte sie versucht, sich in ihn zu verwandeln, um möglichst viele Informationen über Mortmain zu sammeln. Aber seine Erinnerungen hatten sich als ein wirres Durcheinander aus Zorn, Verbitterung und Ehrgeiz entpuppt, dem sie nichts Vernünftiges hatte entnehmen können. Erneut kochte in ihr eine hasserfüllte Wut gegen Mortmain auf, der Nates Schwächen entdeckt und gnadenlos ausgenutzt hatte. Mortmain, der Jems Yin Fen zurückhielt im grausamen Versuch, die Nephilim nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Selbst Mrs Black war in gewisser Hinsicht ein Opfer seiner Machenschaften.
»Sie erfüllen Mortmains Wünsche, weil Sie glauben, er würde Ihnen einen neuen Körper schenken«, konstatierte Tessa. »Nicht dieses … dieses Ding da, sondern einen richtigen, menschlichen Körper.«
»Menschlich.« Mrs Black schnaubte verächtlich. »Ich erwarte etwas Besseres als einen menschlichen Körper. Und auf jeden Fall besser als das hier. Ich will etwas, mit dem ich mich unerkannt unter den Irdischen bewegen und meinen Geschäften wieder nachgehen kann. Und was den Magister betrifft: Ich weiß, er wird die Macht haben, mir meinen Wunsch zu erfüllen – und zwar Ihretwegen. Schon bald wird er allmächtige Kräfte besitzen und Sie werden ihm dazu verhelfen.«
»Sie sind dumm, darauf zu vertrauen, dass er Sie für Ihre Dienste belohnen wird.«
Mrs Blacks graue Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. »Aber genau das wird Mortmain tun. Er hat es geschworen und ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten. Denn ich überbringe ihm nun die perfekte Braut, von mir persönlich ausgebildet! Bei Azazel, ich weiß noch genau, wie Sie von Bord dieses amerikanischen Schiffs gegangen sind. Sie wirkten so durch und durch sterblich, so vollkommen nutzlos, dass ich die größten Zweifel hatte, ob man Ihnen überhaupt irgendetwas beibringen konnte. Aber mit genügend Gewalt lässt sich alles erreichen. Jetzt werden Sie ihm ganz ordentliche Dienste leisten.«
»Nicht alles, was sterblich ist, muss auch nutzlos sein.«
Mrs Black schnaubte erneut. »Das sagen Sie doch nur wegen Ihrer Verbindung zu den Nephilim. Sie haben sich viel zu lange in deren Gesellschaft aufgehalten – statt in der Gesellschaft Ihresgleichen.«
»Meinesgleichen? Es gibt niemanden wie mich. Jessamine hat gesagt, meine Mutter sei eine Schattenjägerin gewesen …«
»Sie war tatsächlich eine Schattenjägerin«, bestätigte Mrs Black. »Aber Ihr Vater nicht.«
Tessas Herz setzte einen Schlag aus. »Er war ein Dämon?«
»Nun ja, er war kein Engel.« Mrs Black grinste. »Der Magister wird Ihnen zu gegebener Zeit alles erklären: Was Sie sind und warum Sie leben und wozu Sie erschaffen wurden.« Ihre Gelenke quietschten metallisch, als sie sich zurücklehnte. »Ich muss ja sagen, dass ich fast ein wenig beeindruckt war, als Sie mit diesem Schattenjägerjüngling davongelaufen sind. Das zeigte, dass Sie wenigstens etwas Mumm besaßen. Tatsächlich hat es sich für den Magister sogar als Vorteil erwiesen, dass Sie so viel Zeit mit den Nephilim verbracht haben. Jetzt sind Sie mit der Schattenwelt vertraut und haben sich ihr gewachsen gezeigt. Schließlich waren Sie gezwungen, Ihre Fähigkeiten unter schwierigen Bedingungen einzusetzen. Keine Prüfung, die ich mir hätte ausdenken können, hätte Sie vor derartige Herausforderungen gestellt und zu solch schnellen Lernergebnissen und gestiegenem Selbstvertrauen geführt. Ich kann erkennen, dass Sie sich jetzt ganz anders als früher geben. Sie werden eine großartige Braut für den Magister sein.«
Tessa schnaubte ungläubig. »Wieso? Ich werde zu einer Heirat mit ihm gezwungen. Welche Rolle spielt es da schon, ob ich Mumm habe oder viel dazugelernt? Wieso interessiert ihn das überhaupt?«
»Ach, Sie werden mehr als nur seine Braut sein, Miss Gray. Sie werden der Ruin aller Nephilim sein. Nur aus diesem Grund wurden Sie erschaffen. Und je mehr Wissen Sie über die Nephilim besitzen, je mehr Sie mit ihnen fühlen, desto effektiver werden Sie als Waffe, die alle Nephilim vom Angesicht der Erde hinwegfegen wird.«
Tessa hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand sämtliche Luft aus den Lungen gesogen. »Es interessiert mich nicht, was Mortmain vorhat. Denn ich werde ihm nicht dabei helfen, den Schattenjägern Schaden zuzufügen. Eher sterbe ich!«
»Aber es spielt überhaupt keine Rolle, was Sie wollen. Sie werden feststellen, dass Sie Mortmains Willen keinen Widerstand bieten können. Außerdem müssen Sie gar nicht aktiv zur Vernichtung der Nephilim beitragen – Ihre bloße Anwesenheit genügt völlig. Und Ihre Ehe mit Mortmain, die ebenfalls ohne Ihr Dazutun geschlossen wird.«
»Ich bin mit jemand anderem verlobt«, fauchte Tessa. »James Car-stairs.«
»Ach herrje«, seufzte Mrs Black. »Ich fürchte, Mortmains Ansprüche sind älter als seine. Außerdem wird James Carstairs schon in wenigen Tagen nicht mehr unter den Lebenden weilen. Mortmain hat sämtliche Yin-Fen-Vorräte in ganz England aufgekauft und weitere Lieferungen aus dem Ausland unterbunden. Vielleicht hätten Sie das bedenken sollen, ehe Sie sich in einen Drogenabhängigen verliebten. Obwohl ich ja angenommen hatte, Ihre Wahl fiele auf den blauäugigen Jüngling«, sinnierte sie. »Denn junge Mädchen verlieben sich normalerweise doch in ihren Retter, oder?«
Tessa spürte, wie sich ein Schleier des Surrealen auf sie herabsenkte. Sie konnte einfach nicht fassen, dass sie hier in dieser Kutsche saß, eingesperrt mit Mrs Black, die offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als Tessas Liebesleid zu erörtern. Benommen wandte sie sich zum Fenster. Der Mond war hinter den Wolken hervorgekommen und sie konnte erkennen, dass die Kutsche über eine enge Bergstraße rollte – auf der einen Seite ragten hohe Schatten auf und auf der anderen Seite fiel der steile Hang in eine dunkle Schlucht hinab. »Es gibt alle möglichen Arten der Rettung«, erwiderte Tessa schließlich.
»Nun«, grinste Mrs Black mit metallisch schimmernden Zähnen, »ich kann Ihnen versichern, dass niemand zu Ihrer Rettung herbeieilen wird.«
Sie werden der Ruin aller Nephilim sein.
»Dann muss ich mich eben selbst retten«, sagte Tessa.
Verwirrt runzelte Mrs Black die Stirn und drehte sich sirrend und klickend in Tessas Richtung.
Doch Tessa nahm bereits ihre ganze Kraft zusammen und konzentrierte sie auf ihre Beine, so wie sie es gelernt hatte. Und als sie mit voller Wucht gegen die Tür trat, hörte sie, wie das Schloss unter dem Aufprall nachgab und Mrs Black einen schrillen Wutschrei ausstieß. Ein Metallarm streifte Tessas Rücken und krallte sich in den Kragen ihres Kleids, der dem Zug jedoch nicht standhielt und abriss. Im nächsten Moment fiel Tessa aus der Kutsche, auf die felsige Böschung am Straßenrand und rollte und stürzte und rutschte den steilen Hang hinab, während die Kutsche weiterraste und Mrs Black dem Kutscher kreischend befahl, sofort anzuhalten.
Der Wind rauschte in Tessas Ohren, als sie in freiem Fall und mit rudernden Armen in die Dunkelheit stürzte. Jede Hoffnung, dass es sich nicht um eine tiefe Schlucht handelte und sie den Sturz halbwegs unbeschadet überstehen würde, schwand dahin. In weiter Ferne unter ihr sah sie einen schmalen Strom glitzern, der sich zwischen zerklüfteten Felsen hindurchwand – und in dem Augenblick wusste sie, dass ihr der Aufprall auf den Boden sämtliche Knochen brechen und sie wie eine Porzellanpuppe in tausend Stücke bersten würde. Tessa schloss die Augen und hoffte inständig, dass das Ende schnell kommen würde.
Will stand auf der Kuppe eines steilen grünen Hügels und blickte hinaus aufs Meer. Der Himmel und die See waren so blau, dass sie ohne sichtbare Horizontlinie miteinander zu verschmelzen schienen. Möwen und Seeschwalben kreisten und kreischten hoch über ihm und der Seewind strich ihm durch die Haare. Es war so warm wie an einem Sommertag und seine Jacke lag zusammengefaltet im Gras; er hatte die Ärmel hochgekrempelt und seine Haut war von der Sonne gebräunt.
»Will!«
Beim Klang der vertrauten Stimme drehte er sich um und sah, wie Tessa den Hügel zu ihm hinaufstieg. Ein schmaler Pfad, von weißen Blüten gesäumt, führte entlang der Seeseite und Tessa erschien ihm wie eine dieser Blumen: Ihr weißes Gewand ähnelte dem Ballkleid, das sie in jener Nacht getragen hatte, als er sie auf dem Balkon von Benedict Lightwoods Haus geküsst hatte. Ihre langen braunen Haare wehten im Wind. Sie hatte ihren Hut abgenommen, hielt ihn in einer Hand und winkte Will damit lächelnd zu, als freute sie sich, ihn zu sehen. Genau genommen wirkte sie mehr als nur erfreut: Es schien, als ließe Wills Anblick ihre Augen vor Glück strahlen.
Auch sein Herz machte einen Satz. »Tess«, rief er und streckte eine Hand aus, als könnte er sie zu sich heranziehen. Aber sie war noch immer ein Stück entfernt; plötzlich wirkte sie sehr nah und sehr weit weg zugleich. Will konnte jedes Detail ihres hübschen Gesichts erkennen, sie aber nicht berühren. Deshalb stand er einfach nur da und wartete voller Sehnsucht, während sein Herz in seiner Brust flatterte, als besäße es Flügel.
Endlich war Tessa da – so nah, dass er beobachten konnte, wie das Gras und die Blumen unter ihren Füßen zur Seite knickten. Er streckte die Arme nach ihr aus und sie nach ihm. Ihre Hände fanden sich und hielten einander fest. Und einen Moment lang standen Will und Tessa da und lächelten einander an; ihre Finger lagen warm in seiner Hand.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Will. Und Tessa schaute ihn mit einem Lächeln an – einem Lächeln, das jedoch in dem Augenblick verschwand, als ihre Füße wegrutschten, sie das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte, über den Rand der Klippe hinaus. Ihre Hände entglitten seinen Fingern und plötzlich griff Will ins Leere, während Tessa rücklings in die Tiefe stürzte, stumm und wie in Zeitlupe, ein weißer Fleck vor einem blauen Hintergrund.
Ruckartig setzte Will sich auf; sein Herz pochte wie wild. Helles Mondlicht fiel durch das Fenster in sein Zimmer im White Horse und umriss die Konturen des ungewohnten Mobiliars: der Waschtisch und das Nachtkästchen mit der noch ungelesenen Ausgabe von Fordyce’ Predigten für junge Frauenzimmer, der schwere Polstersessel am Kamin, in dem das Feuer zu einer warmen Glut heruntergebrannt war. Obwohl sich seine Bettlaken kühl anfühlten, schwitzte Will am ganzen Körper. Benommen schwang er die Beine aus dem Bett und wankte zum Fenster.
Auf der Fensterbank stand ein sperriger Trockenblumenstrauß in einer Vase, die Will nun beiseiteschob. Dann entriegelte er mit steifen Fingern das Fenster. All seine Glieder schmerzten. Nie zuvor hatte er so lange im Sattel gesessen und er fühlte sich erschöpft und wund vom Reiten. Ehe er sich am Morgen wieder auf den Weg machte, musste er sich unbedingt mit einer Iratze versehen, überlegte er.
Das Fenster ging nach außen auf und sofort wehte eine kalte Brise herein und kühlte seine Haut. Tief in seinem Inneren spürte Will einen nagenden Schmerz, der jedoch nicht von seinem Höllenritt rührte: Er konnte nicht sagen, ob dieser Schmerz mit der Trennung von Jem zusammenhing oder mit der Sorge um Tessa. Vor seinem inneren Auge sah er wieder und wieder, wie ihre Hände sich aus seinen lösten und sie rücklings die Klippen hinabstürzte. Bisher hatte er nie an die prophetische Kraft von Träumen geglaubt, dennoch konnte er dieses mulmige, kalte Gefühl in seinem Bauch einfach nicht abschütteln. Und auch sein Atem, der schnell und stoßweise ging, schien sich nicht wieder beruhigen zu wollen.
In der dunklen Fensterscheibe sah er sein Spiegelbild. Vorsichtig berührte er das Glas und seine Fingerspitzen hinterließen feine Spuren auf der beschlagenen Scheibe. Er fragte sich, was er Tessa erzählen sollte, wenn er sie gefunden hatte. Wie sollte er ihr erklären, warum er zu ihrer Rettung aufgebrochen war und nicht Jem? Wenn es Barmherzigkeit in dieser Welt gab, dann konnten sie ja vielleicht wenigstens zusammen trauern. Selbst wenn Tessa ihm seine Liebe nicht glaubte, selbst wenn sie seine Zuneigung niemals erwidern würde, würden sie hoffentlich ihren Kummer miteinander teilen können. Der Gedanke daran, wie sehr er ihre ruhige Kraft brauchte, raubte ihm fast den Atem. Er schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe.
Auf dem Weg durch die gewundenen Gassen des East End, vom Bahnhof Limehouse in Richtung Gill Street, spürte Gabriel bei jedem Schritt deutlich Cecilys Gegenwart an seiner Seite. Sie hatten sich mit Zauberglanz kaschiert, was ihnen nun sehr nützlich war, denn ihre Anwesenheit in diesem ärmeren Viertel Londons hätte sonst bestimmt neugierige Kommentare zur Folge gehabt und vermutlich dazu geführt, dass man sie in eines der Pfandleihgeschäfte gezogen hätte, damit sie die präsentierten Waren bewunderten. Schon jetzt war Cecily sehr an den Auslagen interessiert und blieb häufig stehen, um einen Blick in die Schaufenster zu werfen – nicht nur vor Hutmachergeschäften, sondern auch bei Läden, die alles Mögliche feilboten: von Schuhcreme über Bücher bis hin zu Spielzeug und Zinnsoldaten. Gabriel musste sich immer wieder daran erinnern, dass Cecily vom Land kam und wahrscheinlich bisher noch nicht einmal ein florierendes Marktstädtchen zu sehen bekommen hatte, von London ganz zu schweigen. Und er wünschte, er könnte sie an einen Ort führen, der für eine Dame ihres Standes angemessen war, beispielsweise in die Geschäfte der Burlington Arcade oder an der Piccadilly – und nicht durch diese düsteren, engen Gassen.
Er wusste nicht, was er von Will Herondales Schwester erwartet hatte. Dass sie vielleicht genauso unfreundlich war wie Will? Dass sie ihm nicht auf so irritierende Weise ähnelte und zugleich so außerordentlich hübsch sein konnte? Gabriel hatte nur selten einen Blick auf Wills Gesicht geworfen, ohne dabei den Wunsch zu verspüren hineinzuschlagen, doch Cecilys Gesicht erschien ihm unendlich faszinierend. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er ein Gedicht über sie verfassen wollte – irgendetwas mit den Worten »blaue Augen wie der Sterne Wacht und schwarze Haare wie die dunkle Nacht«, weil »dunkle Nacht« und »der Sterne Wacht« sich reimten. Aber er hatte die vage Vermutung, dass dieses Gedicht nicht sonderlich gut ausfallen würde. Außerdem hatte Tatiana ihm mit ihren Vorträgen jegliche Lust an Poesie genommen. Davon abgesehen, gab es manche Dinge, die sich sowieso nicht in Reime zwängen ließen – etwa die Art und Weise, wie ein gewisses Mädchen auf ihre ganz eigene Weise lächelte und man den dringenden Wunsch verspürte, sich zu ihr hinabzubeugen und …
»Mr Lightwood«, sagte Cecily in einem ungeduldigen Ton, der darauf hindeutete, dass sie nicht zum ersten Mal versuchte, Gabriels Aufmerksamkeit zu wecken. »Ich glaube, wir sind bereits zu weit gelaufen.«
Gabriel fluchte unterdrückt und machte auf dem Absatz kehrt. Sie waren tatsächlich an der Hausnummer vorbeigelaufen, die Magnus ihnen gegeben hatte. Als sie die gesuchte Adresse erreichten, sahen sie eine düstere, unansehnliche Ladenfront mit verdunkelten Schaufenstern vor sich. Durch die verschmutzten Scheiben konnte Gabriel Regale mit einer Vielzahl merkwürdiger Gegenstände erkennen – Gläser, in denen tote Schlangen mit weißen, weit aufgerissenen Augen trieben; Puppen, deren Köpfe man entfernt und durch kleine goldene Vogelkäfige ersetzt hatte; und ineinander gestapelte Armbänder, die aus menschlichen Zähnen gefertigt waren.
»Ach herrje«, bemerkte Cecily. »Was für ein ausgesprochen unerfreulicher Anblick.«
»Möchten Sie nicht mitkommen?«, wandte Gabriel sich an sie. »Ich könnte auch allein hineingehen …«
»Und mich hier draußen in der Kälte warten lassen? Wie unhöflich. Auf keinen Fall.« Cecily griff nach dem Türknauf und drückte die Tür auf, woraufhin irgendwo im hinteren Bereich des Ladens eine kleine Glocke bimmelte. »Nach mir, Mr Lightwood.«
Gabriel folgte Cecily blinzelnd in das schummrige Geschäft, das auch von innen nicht viel einladender wirkte als von außen. Die Fenster hatte man offenbar mit einer dunklen Paste beschmiert, um möglichst wenig Sonnenlicht durchzulassen. Lange Reihen staubiger Regale bildeten einen schmalen Gang zu einer unbeleuchteten Ladentheke. In den Regalen herrschte ein unüberschaubares Durcheinander aus den unterschiedlichsten Objekten: Messingglocken mit knochenförmigen Handgriffen; dicke Kerzen, in deren Wachs Blüten und Insekten gefangen waren; eine anmutige Goldkrone, die aufgrund der eigenwilligen Form und des geringen Durchmessers keinem menschlichen Kopf gepasst hätte; reihenweise Messer sowie Kupfer- und Steingefäße, deren Innenseite mit verdächtigen bräunlichen Flecken überzogen waren. In einer Kiste lagen Handschuhe in allen möglichen Größen und Farben, von denen manche Exemplare mehr als nur fünf Finger an jeder Hand besaßen. Und im vorderen Bereich des Geschäfts hing an einer dünnen Kordel ein vollständig gehäutetes und freigelegtes Menschenskelett, das in der Luft baumelte, obwohl nicht der geringste Windzug ging.
Gabriel warf Cecily einen raschen Blick zu, um zu überprüfen, ob sie möglicherweise der Mut verlassen hatte. Doch diesen Eindruck machte sie keineswegs – sie wirkte eher entrüstet.
»Hier müsste mal dringend staubgewischt werden«, verkündete sie und marschierte in den hinteren Bereich des Ladens, wobei die Blumen auf ihrem Hut anmutig wippten.
Gabriel schüttelte den Kopf und schloss zu Cecily auf, die mit ihrer behandschuhten Hand auf die kleine Messingklingel auf der Ladentheke drückte, sodass diese ein ungeduldiges Bimmeln von sich gab.
»Hallo?«, rief Cecily. »Ist hier jemand?«
»Direkt vor Ihnen, Miss«, erwiderte eine gereizte Stimme, die von unten zu ihnen hinaufdrang. Cecily und Gabriel beugten sich über die Ladentheke. Knapp unterhalb der Thekenplatte befand sich der Kopf eines kleinen Mannes. Oder vielleicht nicht direkt ein Mann, dachte Gabriel, als er durch den Zauberglanz hindurchschaute – eher ein Satyr. Der Nachtelbe trug Weste und Hose, aber kein Hemd. Er besaß die Hufe und Hörner einer Ziege, einen gestutzten Bocksbart am Ende seines spitzen Kinns sowie gelbe Ziegenaugen mit waagerechten Pupillen, halb versteckt hinter einer Brille.
»Du meine Güte«, sagte Cecily. »Sie müssen Mr Sallows sein.«
»Nephilim«, bemerkte der Ladenbesitzer düster. »Ich verabscheue alle Nephilim.«
»Hm«, erwiderte Cecily kühl. »Ich freue mich ebenfalls, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Gabriel hatte das Gefühl, an dieser Stelle eingreifen zu müssen. »Woher haben Sie gewusst, dass wir Schattenjäger sind?«, knurrte er.
Sallows zog die Augenbrauen hoch. »Die Runenmale auf Ihren Händen und an Ihrem Hals, Sir, sind nicht zu übersehen«, erwiderte er, als spräche er mit einem kleinen Kind. »Und was die junge Miss betrifft, so ist sie ihrem Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Woher kennen Sie meinen Bruder?«, fragte Cecily in leicht schrillem Ton.
»In dieses Geschäft verirren sich nicht viele Ihrer Sorte«, sagte Sallows. »Daher fällt es umso mehr auf, wenn doch einmal einer die Nase hereinsteckt. Ihr Bruder ist vor etwa zwei Monaten recht häufig hier gewesen, um Besorgungen für den Hexenmeister Magnus Bane zu machen. Er war auch drüben auf dem Cross-Bones-Friedhof und ist der alten Molly lästig gefallen. Will Herondale ist in der Schattenwelt kein Unbekannter, obwohl er sich in der Regel aus allem Ärger heraushält.«
»Das sind in der Tat erstaunliche Neuigkeiten«, bemerkte Gabriel.
Cecily bedachte Gabriel mit einem finsteren Blick und wandte sich wieder an den Satyr: »Wir sind im Auftrag von Charlotte Branwell hier, der Leiterin des Londoner Instituts.«
Sallows winkte nur abschätzig ab. »Ihre Schattenjägerhierarchie interessiert mich nicht – und auch sonst niemanden im Feenvolk. Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen, und ich mache Ihnen einen anständigen Preis.«
Langsam entrollte Gabriel den Zettel, den Magnus ihm gegeben hatte. »Räuberessig, Wassernuss, Tollkirsche, Engelwurz, Damiana-Blätter, zerstoßene Nixenschuppen sowie sechs Nägel vom Sarg einer Jungfrau.«
»Nun ja«, sagte Sallows, »derlei Dinge werden hier nicht oft verlangt. Da muss ich erst mal im Lager nachsehen.«
»Wenn derlei Dinge hier nicht oft verlangt werden, wonach wird denn dann überhaupt gefragt?«, schnaubte Gabriel, der allmählich die Geduld verlor. »Schließlich ist das hier keine Blumenhandlung.«
»Mr Lightwood«, tadelte Cecily ihn leise, aber nicht leise genug.
Denn Sallows hatte sie gehört und seine Brille wippte aufgeregt auf seiner Nase. »Mr Lightwood?«, hakte er nach. »Benedict Lightwoods Sohn?«
Gabriel spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Er hatte in den vergangenen Tagen kaum ein Wort über seinen Vater verloren – wenn man dieses Wesen, das im italienischen Garten gestorben war, überhaupt als seinen Vater bezeichnen konnte. Früher hatte nichts zwischen ihm und seiner Familie gestanden und es hatte immer geheißen: die Lightwoods gegen den Rest der Welt, die Lightwoods vor allen anderen. Doch jetzt … jetzt war der Name Lightwood mit ebenso viel Schande verbunden wie früher mit Stolz und Gabriel wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. »Ja«, sagte er schließlich. »Ich bin Benedict Lightwoods Sohn.«
»Hervorragend. Ich habe hier noch ein paar Dinge, die Ihr Vater bei mir bestellt hat. Allmählich hatte ich mich schon gefragt, ob er wohl noch jemals vorbeikommen und sie abholen würde.« Der Satyr eilte geschäftig nach hinten ins Lager, während Gabriel angelegentlich den Bereich hinter der Theke studierte. An der Wand hingen Landschaftsskizzen und Karten, doch bei näherem Hinsehen stellte er fest, dass es sich nicht um Zeichnungen oder Gemälde bekannter Orte handelte. Natürlich entdeckte er eine Karte von Idris darunter, mit dem Brocelind-Wald und der erhöht gelegenen Stadt Alicante, aber eine andere Landkarte zeigte mehrere Kontinente, die er noch nie gesehen hatte. Und dieses Silbermeer … was war das denn? Oder das Dornengebirge? Und welches Land besaß denn einen violetten Himmel?
»Gabriel«, raunte Cecily leise. Es war das erste Mal, dass sie ihn mit seinem Vornamen ansprach, und er wollte sich ihr gerade zuwenden, als Sallows aus dem Lager zurückkehrte.
In der einen Hand hielt er ein zusammengeschnürtes Paket, das offensichtlich Flakons mit den von Magnus gewünschten Zutaten enthielt und das er Gabriel überreichte. Mit der anderen Hand umklammerte er einen Stapel Zeitschriften, den er auf die Theke legte. »Die Bestellung Ihres Vaters«, kommentierte er grinsend.
Gabriel warf einen Blick auf die Titel – und schnappte entsetzt nach Luft.
»Du meine Güte«, bemerkte Cecily. »So was ist doch gar nicht möglich, oder?«
Der Satyr reckte den Hals, um nachzusehen, was sie meinte. »Nun ja, nicht mit einer einzigen Person, aber wenn man einen Vetis-Dämon und eine Ziege dazuholt, dann ist das durchaus denkbar.« Geschäftig wandte er sich an Gabriel. »Also, haben Sie nun das Geld für diese Zeitschriften oder nicht? Ihr Vater ist mit seinen Zahlungen im Rückstand und er kann nicht ewig auf Pump kaufen. Wie machen wir es also, Lightwood?«
»Hat Charlotte Sie je gefragt, ob Sie vielleicht eine Schattenjägerin werden wollen?«, erkundigte Gideon sich.
Sophie, die gerade mit einem Buch in der Hand die Leiter herunterstieg, erstarrte. Gideon saß an einem der Bibliothekstische, in der Nähe eines Erkerfensters, das auf den Innenhof hinausging. Vor ihm lagen etliche Bücher und Dokumente weit verstreut auf dem Tisch. Er und Sophie hatten bereits ein paar Stunden verbracht bei der Suche nach Listen und historischen Abhandlungen über Zauberformeln, nach Informationen zu Yin Fen, Heilpflanzen und Kräutern. Obwohl Gideons Wunde gut verheilte, hatte Sophie ihn gedrängt, sein Bein hochzulegen. Außerdem hatte sie angeboten, an seiner Stelle die Leiter hinauf- und hinabzusteigen, um die Bücher aus den obersten Regalen zu holen. Sie hielt gerade ein Werk namens De pseudomonarchia daemonum in der Hand, dessen Umschlag sich irgendwie schleimig anfühlte und das sie schnellstmöglich ablegen wollte, doch Gideons Frage hatte sie derartig verblüfft, dass sie mitten in der Bewegung innehielt. »Was meinen Sie damit?«, erwiderte sie und stieg die restlichen Stufen der Leiter hinab. »Warum sollte Charlotte mich so etwas fragen?«
Gideon wirkte blass – möglicherweise lag es aber auch nur am Schatten des Elbenlichts auf seinem Gesicht. »Miss Collins«, setzte er an, »Sie sind eine der besten Kämpferinnen, die ich je trainiert habe, Nephilim mit eingeschlossen. Deshalb habe ich Ihnen diese Frage gestellt. Es wäre doch eine Schande, so viel Talent zu vergeuden. Aber vielleicht wollen Sie ja gar keine Schattenjägerin werden?«
Sophie legte das Buch ab und setzte sich Gideon gegenüber an den Tisch. Sie wusste, dass sie eigentlich zögern und scheinbar über die Frage nachdenken sollte, aber die Antwort kam ihr über die Lippen, ehe sie sie zurückhalten konnte: »Ich habe nie etwas anderes gewollt, als Schattenjägerin zu werden.«
Interessiert beugte Gideon sich vor, sodass das Elbenlicht ihm in die Augen schien und ihnen jede Farbe nahm. »Haben Sie keine Angst wegen der damit verbundenen Gefahren? Je älter der Aszendierende ist, umso riskanter wird der gesamte Vorgang. Ich habe gehört, dass der Rat darüber nachdenkt, das Alter eines potenziellen Aszendierenden auf vierzehn oder sogar zwölf Jahre herabzusetzen.«
Doch Sophie schüttelte den Kopf. »Ich habe das Risiko nie gefürchtet und würde es gerne in Kauf nehmen. Meine einzige Sorge ist nur … wenn ich den Antrag stelle, könnte Mrs Branwell mich vielleicht für undankbar halten … nach allem, was sie für mich getan hat. Sie hat mir das Leben gerettet und mich in ihre Obhut genommen, hat mir Sicherheit und ein Zuhause geschenkt. Ich möchte ihr nicht für ihre Güte dadurch danken, dass ich aus ihren Diensten austrete.«
»Nein.« Gideon schüttelte den Kopf. »Sophie … Miss Collins … Sie sind eine freie Dienstbotin in einem Schattenjägerhaushalt. Sie besitzen das Zweite Gesicht. Und Sie wissen bereits alles, was es über Schattenweltler und Schattenjäger zu wissen gibt. Sie sind die perfekte Kandidatin für eine Aszension.« Entschlossen legte er eine Hand auf die Dämonenabhandlung. »Ich habe ein Stimmrecht in der Kongregation … ich könnte mich für Sie einsetzen.«
»Ich … ich kann nicht«, erwiderte Sophie leise. Verstand er denn nicht, wie groß die Versuchung war, der er sie aussetzte? »Und ganz gewiss nicht jetzt«, fügte sie hinzu.
»Nein, natürlich nicht jetzt, da Jem so krank ist«, pflichtete Gideon ihr hastig bei. »Aber vielleicht irgendwann in der Zukunft?« Seine Augen musterten ihr Gesicht.
Sophie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Der offensichtlichste und herkömmliche Weg zum Aufstieg vom Irdischen zum Schattenjäger bestand darin, einen Nephilim zu heiraten. Sophie fragte sich, was es wohl zu bedeuten hatte, dass Gideon diese Möglichkeit scheinbar ganz bewusst nicht ansprach.
»Als ich Sie eben gefragt habe, kam Ihre Antwort ohne jedes Zögern. Sie sagten, Sie hätten nie etwas anderes gewollt, als Schattenjägerin zu werden. Warum? Das Leben der Nephilim kann sehr brutal sein.«
»Jedes Leben kann brutal sein«, erwiderte Sophie. »Mein Leben vor meiner Ankunft im Institut war gewiss kein Zuckerschlecken. Vermutlich möchte ein Teil von mir deshalb Schattenjägerin werden, damit ich mich wehren kann, wenn noch einmal ein Mann mit einem Messer auf mich losgeht, so wie mein früherer Dienstherr. Ich möchte in der Lage sein, ihn auf der Stelle töten zu können.« Während sie sprach, tasteten ihre Finger nach ihrer Wange und strichen über das wulstige Narbengewebe – eine unbewusste Geste, die sie nicht unterdrücken konnte. Dann sah sie Gideons Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Bestürzung und Unbehagen, und ließ die Hand sinken.
»Ich wusste nicht, dass die Narbe daher stammt«, sagte er.
Sophie wandte den Blick ab. »Jetzt werden Sie als Nächstes sagen, dass sie gar nicht so hässlich ist oder dass Sie sie überhaupt nicht sehen oder etwas Ähnliches.«
»Ich sehe sie durchaus«, räumte Gideon mit leiser Stimme ein. »Schließlich bin ich nicht blind und wir Nephilim sind ein von Narben gekennzeichnetes Geschlecht. Ich sehe sie, aber sie ist nicht hässlich. Diese Narbe ist nur ein weiterer wunderschöner Teil des wunderschönsten Mädchens, das ich je gesehen habe.«
Bei diesen Worten errötete Sophie bis über beide Ohren – sie konnte förmlich fühlen, wie ihre Wangen brannten. Und als Gideon sich über den Tisch beugte, mit leuchtenden sturmgrünen Augen, holte sie entschlossen tief Luft. Er war nicht wie ihr früherer Dienstherr. Er war Gideon. Dieses Mal würde sie ihn nicht wegstoßen.
Im nächsten Moment flog die Tür auf. Charlotte stand auf der Schwelle; sie wirkte erschöpft, hatte tiefe Schatten unter den Augen und feuchte Flecken auf ihrem hellblauen Kleid.
Sofort sprang Sophie auf. »Mrs Branwell?«
»Ach, Sophie«, seufzte Charlotte. »Wäre es wohl möglich, dass du dich ein Weilchen zu Jem setzt? Er ist zwar noch nicht wieder aufgewacht, aber Bridget muss das Abendessen zubereiten – und ich fürchte, ihre schrecklichen Lieder bescheren ihm Albträume.«
»Selbstverständlich.« Sophie eilte zur Tür, ohne Gideon noch einen Blick zuzuwerfen. Doch als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihn leise und äußerst frustriert auf Spanisch fluchen hören konnte.
»Eigentlich wäre es nicht nötig gewesen, den Mann durch die Schaufensterscheibe zu werfen«, bemerkte Cecily.
»Das war kein Mann«, entgegnete Gabriel und schaute finster auf den Haufen von Gegenständen in seinen Armen. Er hatte das Paket mit Magnus’ Zutaten an sich genommen und noch ein paar weitere nützlich wirkende Objekte aus den Regalen. Dagegen hatte er die Zeitschriften, die sein Vater bestellt hatte, bewusst auf der Ladentheke zurückgelassen – nachdem er den Satyr durch eines der schmierigen Fenster geworfen hatte. Das Ganze war sehr befriedigend gewesen, mit Glassplittern überall im Raum verteilt. Die Wucht des Wurfs hatte sogar das baumelnde Skelett aus der Verankerung gerissen, woraufhin das Knochengerüst herabgestürzt und auf dem Boden in sich zusammengefallen war. »Sallows ist ein Nachtelbe, einer der Angehörigen des Finsteren Hofs.«
»Haben Sie ihn deshalb durch die Straßen gejagt?«
»Es war einfach ungehörig, einer Dame solche Bilder zu zeigen«, murmelte Gabriel, obwohl er sich eingestehen musste, dass die fragliche Dame nicht mit der Wimper gezuckt hatte und über seine Reaktion eher verärgert schien, statt sich von seinem ritterlichen Benehmen beeindruckt zu zeigen.
»Ich denke, es war etwas übertrieben, ihn in den Kanal zu werfen«, fügte Cecily hinzu.
»Er wird’s überleben … Ziegen sind gute Schwimmer.«
Cecilys Mundwinkel zuckten. »Das war nicht die feine englische Art.«
»Sie lachen ja«, stellte Gabriel überrascht fest.
»Tu ich nicht.« Cecily hob das Kinn und drehte das Gesicht weg.
Aber Gabriel hatte das Grinsen, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, bereits gesehen. Er war sprachlos. Nachdem sie ihn die ganze Zeit so verächtlich behandelt und ihm nur freche Antworten gegeben hatte, war er fest davon ausgegangen, dass sein letzter Gefühlsausbruch sie dazu veranlassen würde, Charlotte alles brühwarm zu berichten, sobald sie im Institut eintrafen. Stattdessen wirkte sie belustigt. Gabriel schüttelte den Kopf, während sie in die Garnet Street einbogen – er würde die Herondales nie verstehen.
»Würden Sie mir bitte die Phiole aus dem Regal dort drüben reichen, Mr Bane, wenn Sie so freundlich wären?«, bat Henry.
Magnus war so freundlich. Er stand in der Mitte von Henrys Laboratorium und betrachtete die glänzenden Gegenstände auf den Tischen um ihn herum. »Was sind das alles für Gerätschaften, wenn ich mir die Frage erlauben darf?«, erkundigte er sich höflich.
Henry, der zwei Paar Schutzbrillen gleichzeitig trug – ein Paar auf dem Kopf und eines auf der Nase –, wirkte gleichermaßen erfreut und nervös angesichts dieser Frage. (Magnus nahm an, dass er die beiden Brillenpaare in einem Anflug von Zerstreutheit aufgesetzt hatte. Doch er beschloss, lieber nicht zu fragen, falls Henry damit irgendeiner neuen Mode zu folgen versuchte.) Vorsichtig hob Henry ein rechteckiges Metallobjekt mit mehreren Knöpfen hoch. »Nun ja, das hier … das ist ein Sensor, ein Gerät zum Aufspüren von Dämonenenergie.« Langsam bewegte er den Metallgegenstand in Magnus’ Richtung, woraufhin der Sensor einen lauten Heulton von sich gab.
»Beeindruckend!«, rief Magnus hocherfreut. Dann nahm er ein Gebilde aus Stoff vom Tisch, auf dem ein großer ausgestopfter Vogel thronte. »Und was ist das hier?«
»Die Todeshaube«, verkündete Henry.
»Ah, verstehe!« Magnus lächelte. »Bei Gefahr kann eine Dame daraus eine Waffe hervorziehen, um sich gegen ihre Feinde zu wehren.«
»Äh, leider nicht«, räumte Henry ein. »Ihr Verwendungszweck klingt deutlich besser. Ich wünschte, Sie wären hier gewesen, als mir die Idee dazu kam. Bedauerlicherweise wickelt sich diese Haube nur um den Kopf eines Feindes und erstickt ihn – vorausgesetzt, er trägt die Haube in diesem Moment.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass es nicht einfach wird, Mortmain zum Tragen einer Haube zu bringen«, bemerkte Magnus. »Obwohl ihm die Farbe bestimmt vorzüglich stehen würde.«
Henry brach in schallendes Gelächter aus. »Sehr amüsant, Mr Bane.«
»Bitte, nennen Sie mich doch Magnus.«
»Sehr gern!« Entschlossen warf Henry die Haube hinter sich und hob ein rundes Glasgefäß mit einer glitzernden Substanz hoch. »Dieses Pulver hier lässt Geister sichtbar werden, wenn man es in die Luft streut«, erklärte er.
Bewundernd hielt Magnus das Gefäß mit den schimmernden Partikeln gegen das Licht, und als Henry ihm aufmunternd zunickte, entfernte er den Korken. »Es scheint wirklich sehr fein zu sein«, sagte er und verteilte spontan etwas Pulver auf seiner Hand. Die Substanz überzog seine braune Haut mit einem schimmernden Leuchten. »Und zusätzlich zu seinem praktischen Nutzen hat es offenbar auch noch kosmetische Zwecke. Dieses Pulver würde meiner Haut ewigen Glanz verleihen.«
Henry runzelte die Stirn. »Nun ja, nicht ewigen«, berichtigte er, doch dann hellte sich seine Miene auf. »Aber ich kann das Pulver jederzeit für Sie herstellen!«
»Ich könnte glänzen, wann immer ich will!« Magnus schenkte Henry ein breites Grinsen. »Diese Erfindungen sind wirklich faszinierend, Mr Branwell. Sie denken anders als alle anderen Nephilim, denen ich bisher begegnet bin. Ich muss gestehen, ich habe die Schattenjäger immer für etwas fantasielos gehalten, trotz ihres oft hochdramatischen Privatlebens, aber Sie haben mir zu völlig neuen Einsichten verholfen! Gewiss werden Sie von der Schattenjägergemeinschaft sehr geschätzt und genießen großes Ansehen als ein Gentleman, der sein Volk wahrlich vorangebracht hat.«
»Nein«, räumte Henry traurig ein. »In der Regel wünschen sie, dass ich endlich damit aufhöre, neue Erfindungen vorzuschlagen und irgendwelche Dinge in Brand zu stecken.«
»Aber jede Erfindung ist mit einem Risiko verbunden!«, rief Magnus empört. »Ich habe gesehen, was für tief greifende Umwälzungen die Erfindung der Dampfmaschine über die Welt gebracht hat … und die explosionsartige Zunahme von Druckerzeugnissen und die Fabriken und Stahlwerke, die Englands Landschaft für immer verändert haben. Irdische haben die Welt in ihre Hände genommen und etwas Wunderbares geschaffen. Hexenwesen haben zu allen Zeiten Zauberformeln erdacht und perfektioniert, um die Welt nach ihren Vorstellungen zu ändern. Sollen denn die Schattenjäger die Einzigen sein, die stillstehen und unverrückbar sind – und damit dem Untergang geweiht? Wieso rümpfen sie über Ihre geniale Schöpferkraft die Nase? Das ist doch so, als würde man sich vom Licht abwenden und in Richtung der Schatten gehen.«
Henry errötete bis an die Haarwurzeln. Es war offensichtlich, dass niemand ihn für seine Erfindungen jemals gelobt hatte, von Charlotte vielleicht abgesehen. »Sie bringen mich in Verlegenheit, Mr Bane.«
»Magnus«, erinnerte ihn der Hexenmeister freundlich. »Darf ich nun einen Blick auf Ihre bisherige Arbeit zu diesem Portal werfen? Die Erfindung, die ein Lebewesen von einem Ort zum nächsten teleportiert?«
»Selbstverständlich.« Henry zog einen dicken Stapel Notizblätter heran, der in einer Ecke seines mit Zetteln übersäten Tischs lag, und schob ihn zu Magnus.
Der Hexenmeister nahm die Blätter und überflog sie interessiert. Jede Seite war in einer unleserlichen, krakeligen Handschrift mit Dutzenden von mathematischen Gleichungen bedeckt, die Formeln und Runen auf erstaunlich harmonische Weise kombinierten. Magnus spürte, wie sein Herz beim Lesen schneller zu schlagen begann: Diese Arbeit war genial, das Werk eines wahren Genies. Allerdings gab es ein kleines Problem. »Ich verstehe, was Sie zu erreichen versuchen«, sagte er. »Und das ist Ihnen auch fast perfekt gelungen, aber …«
»Ja, fast.« Henry fuhr sich mit den Händen durch die rötlichen Haare, sodass seine Schutzbrille verrutschte. »Das Portal lässt sich öffnen, aber nicht steuern. Deshalb weiß man nicht, ob man am gewünschten Zielort landet oder in einer anderen Welt, wenn nicht sogar in der Hölle. Das Risiko wäre einfach zu groß und deswegen ist die ganze Idee nutzlos.«
»Mit diesen Runen lässt sich das nicht machen«, konstatierte Magnus. »Sie brauchen andere, völlig andere.«
Henry schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nur die Runen aus dem Grauen Buch verwenden. Alles andere wäre Magie. Und Magie zählt nicht zu den Mitteln der Nephilim. Dieser Weg ist uns versperrt.«
Magnus musterte Henry nachdenklich. »Aber mir ist er nicht versperrt«, verkündete er und nahm den Stapel Papiere an sich.
Nachtelben schätzten das Licht nicht besonders. Deshalb hatte Sallows – dessen richtiger Name ganz anders lautete – nach seiner Rückkehr in den Laden sofort Wachspapier über die Fensterscheibe geklebt, die dieser junge Schattenjäger so rücksichtslos zerbrochen hatte. Seine Brille hatte er ebenfalls verloren, irgendwo in den Fluten des Limehouse Cut. Und offenbar würde ihm auch niemand die sehr teuren Zeitschriften bezahlen, die er für Benedict Lightwood bestellt hatte. Alles in allem ein sehr unerfreulicher Tag.
Als die Türglocke ging, schaute er gereizt auf und runzelte die Stirn. Er hatte die Tür doch fest verriegelt, oder etwa nicht? »Schon wieder zurück, Nephilim?«, fauchte er. »Willst du mich vielleicht noch mal in den Kanal werfen? Du solltest nämlich wissen, dass ich sehr mächtige Freunde habe …«
»Daran zweifle ich nicht, du Gauner.« Die große Gestalt mit einer Kapuze über dem Kopf griff hinter sich und zog die Tür fest ins Schloss. »Und ich würde nur zu gern mehr über sie erfahren.« Eine Klinge blitzte kalt im schummrigen Licht auf, woraufhin der Satyr furchterfüllt zurückwich. »Ich hätte da ein paar Fragen an dich«, fuhr der Mann an der Tür fort. »Und an deiner Stelle würde ich gar nicht erst versuchen zu fliehen – jedenfalls nicht, wenn dir deine Finger lieb sind …«