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BITTERES HERZENSWEH

Lass Liebe an den Gram sich klammern,
Auf dass nicht beide untergehn;
Weit besser den Verlust bejammern,
Zernagt von bittern Herzenswehn.

ALFRED LORD TENNYSON, »IN MEMORIAM A.H.H.«

Adressat: Inquisitor Victor Whitelaw
Absender: Konsul Josiah Wayland

Nicht ohne ein Gefühl der Beklommenheit setze ich diesen Brief an Dich auf, Victor, denn schließlich kennen wir uns seit langen Jahren. Ich fühle mich ein wenig wie die Prophetin Kassandra: dazu verdammt, die Wahrheit zu kennen, aber bei niemandem Gehör zu finden. Vielleicht war es ja mein eigenes Vergehen, meine eigene Vermessenheit, die Charlotte Branwell zu dem Posten verholfen hat, den sie derzeit innehat und von dem aus sie mich plagt.

Ohne Unterlass untergräbt sie meine Autorität, was – wie ich fürchte – zu einer gravierenden Instabilität innerhalb der Kongregation führen wird. Das, was sich eigentlich für sie als Desaster hätte erweisen sollen – die Aufdeckung der Tatsache, dass sie unter ihrem Dach einen Spitzel beherbergt hat, sowie Jessamine Lovelace’ Komplizenschaft mit Mortmains Komplott –, wurde jedoch zu einem Triumph umgedeutet. Die Brigade feiert die Bewohner des Instituts als diejenigen, die die Identität des Magisters aufgedeckt und ihn aus London verjagt haben. Der Umstand, dass man in den vergangenen Monaten von ihm nichts gehört oder gesehen hat, wird auf Charlottes Urteilsvermögen zurückgeführt und keineswegs als ein taktischer Rückzug und eine Neugruppierung von Mortmains Truppen gesehen, was ich nämlich befürchte. Obwohl ich der Konsul bin und die Gemeinschaft der Nephilim führe, scheint es mir, dass diese Epoche als Charlotte Branwells Ära in die Geschichte eingehen und dass mein Vermächtnis verloren gehen wird …

Adressat: Inquisitor Victor Whitelaw
Absender: Konsul Josiah Wayland

Victor,

obwohl ich Deine Bemühungen sehr zu schätzen weiß, hege ich in Bezug auf Charlotte Branwell keine Befürchtungen, die ich nicht bereits in meinem Schreiben an die Kongregation angesprochen hätte.

Möge Dir die Kraft des Erzengels in diesen unruhigen Zeiten Mut schenken. Josiah Wayland

Das Frühstück verlief zunächst recht schweigsam. Gideon und Gabriel kamen gemeinsam in den Speiseraum; beide wirkten niedergeschlagen und Gabriel sprach kaum ein Wort. Er bat lediglich Henry, ihm die Butter zu reichen. Cecily hatte sich ans andere Ende des Tischs gesetzt und las ein Buch, während sie eine Scheibe Toast aß. Tessa hätte gerne gewusst, was sie las, doch Wills Schwester hielt das Buch so, dass man den Titel nicht lesen konnte. Will hockte gegenüber von Tessa; tiefe Schatten unter seinen Augen zeugten von einer schlaflosen, aber ereignisreichen Nacht. Tessa selbst stocherte lustlos und stumm in ihrem Kedgeree, bis plötzlich die Tür aufschwang und Jem hereinkam. Überrascht schaute sie auf und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Freude: Er wirkte nicht außergewöhnlich krank, nur blass und müde.

Anmutig ließ er sich auf den Stuhl neben ihr gleiten. »Guten Morgen.«

»Du siehst deutlich besser aus, Jemmy«, bemerkte Charlotte erfreut.

Jemmy? Tessa warf Jem einen amüsierten Blick zu; doch er zuckte nur die Achseln und grinste gutmütig. Als Tessa über den Tisch schaute, sah sie, wie Will sie beide beobachtete. Ihre Blicke trafen sich und in Tessas Augen stand eine stumme Frage: War es Will in der kurzen Zeit zwischen der Rückkehr zum Institut und dem Frühstück möglicherweise doch noch gelungen, irgendwo Yin Fen aufzutreiben? Nein, dachte sie nach einem Moment – er wirkte genauso überrascht wie sie.

»Ich fühle mich auch besser«, reagierte Jem auf Charlottes Bemerkung. »Die Brüder der Stille waren mir eine große Hilfe.« Er griff zur Teekanne und schenkte sich eine Tasse ein und Tessa beobachtete, wie sich die Sehnen und Muskeln unter seiner Hand bewegten – erschreckend deutlich sichtbar. Als er die Kanne wieder abstellte, tastete sie unter dem Tisch nach seiner Hand. Sofort nahm Jem ihre Finger und drückte sie beruhigend.

Im selben Moment drang Bridgets Stimme aus der Küche herüber:

»Kalt, so kalt bläst der Wind heut Nacht,
Kalt nieselt der eisige Regen;
Mein allerliebster Herzensdieb
Im Wald traf ihn der Degen.

Ich tu so viel für den Liebsten mein,
Wie jede Frau wohl mag;
Ich sitz und traure am Grabesstein
Ein Jahr und einen Tag.«

»Beim Erzengel, sie ist wirklich deprimierend«, murmelte Henry und ließ die Zeitung auf seinen Teller sinken, wobei sich der Rand mit Eigelb vollsog.

Charlotte öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn dann aber wieder.

»Immer nur Herzeleid, Tod und unerfüllte Liebe …«, fuhr Henry fort.

»Nun ja, davon handeln nun mal die meisten Lieder«, wandte Will ein. »Erfüllte Liebe ist wunderbar, eignet sich aber kaum zur Ballade.«

Jem schaute auf, doch bevor er etwas sagen konnte, schallte ein lauter Gong durch das Institut. Inzwischen war Tessa so vertraut mit ihrem Londoner Zuhause, dass sie die Türglocke sofort erkannte. Alle Anwesenden schauten gleichzeitig zu Charlotte – als wären ihre Köpfe von unsichtbaren Fäden gezogen worden.

Bestürzt legte Charlotte die Gabel auf den Teller. »Oje …«, setzte sie an. »Eigentlich hatte ich euch allen etwas mitteilen wollen, aber …«

»Ma’am?« Sophie kam mit einem kleinen Silbertablett in den Speiseraum und Tessa bemerkte, dass sie jeden Blickkontakt mit Gideon, der sie unverhohlen anschaute, bewusst vermied. »Konsul Wayland ist unten in der Eingangshalle und wünscht, Sie zu sprechen«, sagte Sophie mit leicht geröteten Wangen.

Charlotte nahm den gefalteten Papierbogen vom Tablett, warf einen Blick darauf, seufzte und erwiderte: »Also schön, bitte ihn herauf.«

Sofort verschwand Sophie mit rauschenden Röcken.

»Charlotte?« Henry klang verwirrt. »Was geht hier vor?«

»Das ist eine sehr gute Frage.« Mit einem Klirren ließ Will sein Besteck auf den Teller fallen. »Der Konsul? Taucht hier zum Frühstück auf? Was kommt denn als Nächstes? Der Inquisitor zum Tee? Ein Picknick mit den Stillen Brüdern?«

»Entenpasteten im Park«, murmelte Jem, woraufhin die beiden Parabatai ein kurzes Lächeln tauschten, ehe die Tür aufflog und der Konsul den Raum betrat.

Konsul Wayland war ein großer Mann, mit tiefem Brustkorb und kräftigen Oberarmen, und seine Robe, die seinen Status als Konsul unterstrich, schien immer etwas schief von seinen breiten Schultern zu hängen. Sein blonder Bart erinnerte an den eines Wikingers und auch seine Miene wirkte ziemlich stürmisch. »Charlotte«, sagte er ohne lange Vorrede, »ich bin hier, um mit dir über Benedict Lightwood zu sprechen.«

Ein leises Rascheln drang durch den Raum: Gabriels Finger krallten sich ins Tischtuch. Gideon legte beruhigend eine Hand über die seines Bruders.

Doch der Konsul hatte die beiden bereits ins Visier genommen. »Gabriel«, wandte er sich an den jüngeren der Lightwood-Brüder. »Ich hätte gedacht, dass du lieber bei den Blackthorns wohnen würdest, zusammen mit deiner Schwester.«

Gabriels Griff um den Henkel seiner Teetasse verstärkte sich. »Die Familie Blackthorn ist in ihrer Trauer über Ruperts Tod von Gram gebeugt«, entgegnete er. »Ich hielt es nicht für den geeigneten Zeitpunkt, mich ihnen aufzudrängen.«

»Nun ja, du trauerst schließlich um deinen Vater, oder etwa nicht?«, entgegnete Wayland. »Und wie heißt es doch gleich: Geteiltes Leid ist halbes Leid.«

»Konsul …«, setzte Gideon an und warf seinem Bruder einen besorgten Blick zu.

»Obwohl es andererseits gewiss ein wenig unangenehm sein dürfte, bei deiner Schwester zu logieren – wenn man bedenkt, dass sie dich des Mordes bezichtigt und Anzeige erstattet hat.«

Gabriel gab einen Laut von sich, als hätte ihn jemand mit kochendem Wasser übergossen.

Gideon dagegen warf seine Serviette auf den Tisch und sprang auf. »Tatiana hat was getan?«, fragte er aufgebracht.

»Du hast mich genau gehört«, erwiderte der Konsul.

»Das war kein Mord«, stellte Jem ruhig fest.

»Das sagst du«, hielt der Konsul entgegen. »Ich wurde allerdings darüber unterrichtet, dass es sich sehr wohl um Mord handelte.«

»Und hat man Sie auch darüber unterrichtet, dass Benedict sich in einen gigantischen Wurm verwandelt hatte?«, hakte Will nach, woraufhin Gabriel ihn überrascht anschaute, als hätte er nicht damit gerechnet, dass Will ihn verteidigen würde.

»Will, bitte«, warf Charlotte ein. »Konsul, ich habe Sie gestern darüber informiert, dass Benedict Lightwood im letzten Stadium von Astriola angetroffen wurde …«

»Du hast mir geschrieben, dass es zu einem Kampf kam und er getötet wurde«, widersprach der Konsul. »Aber mir wurde auch mitgeteilt, dass Benedict an Dämonenpocken erkrankt war und infolgedessen gejagt und getötet wurde, obwohl er keinerlei aktiven Widerstand geleistet hat.«

Will, dessen Augen verdächtig leuchteten, öffnete den Mund.

Doch Jem warf ihm einen warnenden Blick zu. »Das verstehe ich nicht«, redete er über Wills Protest hinweg. »Wie kann es sein, dass Sie von Benedict Lightwoods Tod wissen, aber nichts über die Todesumstände? Wenn man keinen Leichnam gefunden hat, dann liegt das daran, dass Benedict zum Schluss mehr Dämon als Mensch war und nach seinem Ableben in eine andere Dimension verschwand, wie das bei Dämonen so üblich ist. Aber die verschollenen Dienstboten und der Tod von Tatianas eigenem Ehemann …«

Der Konsul sah ihn ungehalten an. »Tatiana Blackthorn behauptet, dass eine Gruppe von Schattenjägern des Londoner Instituts ihren Vater ermordet hat und dass Rupert bei dem Kampf das Leben verlor.«

»Hat sie auch erwähnt, dass ihr Vater ihren Ehemann aufgefressen hat?«, erkundigte Henry sich und schaute endlich von seiner Zeitung auf. »Ja, ganz genau. Aufgefressen. Er hat nur einen blutigen Stiefel mit Beinstumpf übrig gelassen, den wir im Garten gefunden haben. Daran waren eindeutig Bissspuren zu erkennen. Es würde mich mal interessieren, wie das ein Unfall gewesen sein soll.«

»Ich meine ja, das fällt durchaus unter die Kategorie ›aktiver Widerstand‹«, sagte Will. »Den eigenen Schwiegersohn zu verspeisen, meine ich. Obwohl jede Familie mit ihren Streitigkeiten vermutlich anders umgeht.«

»Sie wollen damit doch nicht ernsthaft sagen, dass dieser Wurm … dass Benedict hätte überwältigt und gefesselt werden müssen«, wandte Charlotte ein. »Er befand sich im letzten Stadium der Dämonenpocken! Benedict Lightwood war vollkommen verrückt geworden und hatte sich in einen Wurm verwandelt!«

»Möglicherweise hat er sich auch erst in einen Wurm verwandelt und ist danach verrückt geworden«, gab Will zu bedenken. »Das können wir schließlich nicht mit Sicherheit sagen.«

»Tatiana ist zutiefst erschüttert«, sagte der Konsul. »Sie denkt darüber nach, Entschädigung zu verlangen …«

»Dann werde ich diese Reparationsleistungen zahlen«, warf Gabriel ein. Er hatte seinen Stuhl nach hinten geschoben und war aufgestanden. »Ich werde meiner absolut lachhaften Schwester für den Rest meines Lebens mein Gehalt abtreten, wenn sie darauf besteht. Aber ich werde auf keinen Fall ein Vergehen einräumen – weder von meiner Seite noch von irgendeinem von uns. Ja, ich habe ihm … dem Dämon einen Pfeil ins Auge geschossen. Und ich würde es jederzeit wieder tun. Worum es sich bei diesem Wesen auch immer gehandelt haben mag: Das war nicht mehr mein Vater.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Nicht einmal der Konsul schien darauf eine Antwort parat zu haben. Cecily hatte ihr Buch beiseitegelegt und schaute von Gabriel zum Konsul und wieder zurück.

»Bitte entschuldigen Sie meine offenen Worte, Konsul, aber was Tatiana Ihnen auch erzählt haben mag, sie weiß nicht, wie es wirklich war«, fuhr Gabriel fort. »Ich war der Einzige, der mit meinem Vater unter einem Dach gelebt hat, als sich sein Gesundheitszustand rapide verschlechterte. Ich war allein mit ihm, während er langsam, aber sicher den Verstand verlor. Als ich mir nach vierzehn Tagen keinen Rat mehr wusste, bin ich schließlich hierhergekommen und habe meinen Bruder um Hilfe gebeten«, sagte Gabriel. »Charlotte war so freundlich, mir die Unterstützung ihrer Schattenjäger anzubieten. Als wir endlich beim Haus eintrafen, hatte das Wesen, das einst mein Vater war, den Ehemann meiner Schwester in Stücke gerissen. Ich versichere Ihnen, Konsul, es bestand nicht die geringste Möglichkeit, meinen Vater noch irgendwie zu retten. Wir haben um unser Leben gekämpft.«

»Aber warum sollte Tatiana dann …?«

»Weil sie sich gedemütigt fühlt«, meldete Tessa sich zu Wort – zum ersten Mal, seit der Konsul den Raum betreten hatte. »Das hat sie mir gegenüber genau so gesagt. Sie war davon überzeugt, dass es einem Schandfleck auf dem guten Namen der Lightwoods gleichkäme, wenn bekannt würde, dass ihr Vater an Dämonenpocken erkrankt war. Ich vermute, sie versucht, eine andere Geschichte zu präsentieren, in der Hoffnung, dass Sie diese an die Kongregation weitergeben werden. Aber sie sagt nicht die Wahrheit.«

»Also wirklich, Konsul«, setzte Gideon an. »Was ergibt denn mehr Sinn? Dass wir alle durchgedreht sind, meinen Vater getötet haben und das Ganze nun zu vertuschen versuchen? Oder dass Tatiana lügt? Sie denkt doch nie gründlich nach; das wissen Sie genau.«

Gabriel stützte sich mit einer Hand auf die Rückenlehne des Stuhls neben ihm. »Wenn Sie glauben, dass ich derart leichtfertig einen Vatermord begangen habe, dann schlage ich vor, Sie bringen mich in die Stadt der Stille und lassen mich dort verhören.«

»Das wäre wahrscheinlich das Vernünftigste«, bestätigte der Konsul.

Mit einem lauten Klirren, das alle am Tisch zusammenzucken ließ, setzte Cecily ihre Teetasse ab. »Das ist nicht fair«, protestierte sie. »Gabriel sagt die Wahrheit. Genau wie wir alle. Das müssen Sie doch wissen.«

Konsul Wayland warf ihr einen langen, abschätzigen Blick zu und wandte sich dann wieder Charlotte zu. »Du erwartest, dass ich dir vertraue?«, fragte er. »Und dennoch verbirgst du deine Handlungen vor mir. Und Handlungen haben nun einmal Konsequenzen, Charlotte.«

»Josiah, ich habe Sie in dem Moment von den Ereignissen im Lightwood House in Kenntnis gesetzt, in dem meine ausgesandten Schattenjäger zurückgekehrt waren und ich mich vergewissern konnte, dass sie wohlauf waren …«

»Du hättest mich vorher informieren müssen«, erwiderte der Konsul tonlos. »Sofort, als Gabriel hier um Hilfe gebeten hat. Dies war kein Routineeinsatz. Wie es aussieht, hast du dich selbst in eine Situation gebracht, in der ich dich verteidigen muss – ungeachtet der Tatsache, dass du gegen die Vorschriften verstoßen und diesen Einsatz ohne Einverständnis der Kongregation in die Wege geleitet hast.«

»Dazu war gar keine Zeit …«

»Genug!«, donnerte Wayland in einem Ton, der klarmachte, dass es alles andere als genug war. »Gideon und Gabriel, ihr beide werdet mich zum Verhör in die Stadt der Stille begleiten.« Charlotte setzte zu einem Protest an, doch der Konsul hielt abwehrend eine Hand hoch. »Es ist für alle Beteiligten ratsam, dass Gabriel und Gideon durch die Stillen Brüder von jedem Vorwurf freigesprochen werden; auf diese Weise lässt sich eine Menge Ärger vermeiden und es ermöglicht mir, Tatianas Antrag auf Entschädigung unverzüglich abzulehnen.« Dann wandte er sich an die Lightwood-Brüder. »Geht nach unten zu meiner Kutsche und wartet dort auf mich. Wir drei werden uns zur Stadt der Stille begeben; wenn die Brüder mit euch fertig sind und nichts von Bedeutung gefunden haben, bringe ich euch wieder hierher zurück.«

»Es gibt nichts zu finden«, stieß Gideon angewidert hervor. Dann nahm er seinen Bruder bei den Schultern und führte ihn aus dem Raum. Als er die Tür hinter ihnen schloss, bemerkte Tessa ein Funkeln an seiner Hand: Er trug wieder den Familienring der Lightwoods.

»Nun denn«, sagte der Konsul und fuhr zu Charlotte herum. »Warum hast du mich nicht sofort informiert, als deine Schattenjäger zurückgekehrt waren und dir von Benedicts Tod erzählt hatten?«

Charlotte heftete den Blick auf ihre Teetasse; ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst. »Ich wollte die Jungen schützen«, sagte sie schließlich. »Ich wollte ihnen ein paar Momente Ruhe gönnen. Eine kurze Verschnaufpause, nachdem sie zusehen mussten, wie ihr Vater vor ihren Augen gestorben war…und bevor Sie mit Ihrer Befragung beginnen konnten, Josiah!«

»Das ist ja wohl kaum der einzige Grund«, erwiderte der Konsul und ignorierte Charlottes Miene. »Da wären noch Benedicts Bücher und Unterlagen. Tatiana hat uns davon erzählt. Wir haben das ganze Haus durchsucht, aber seine Notizen sind verschwunden, sein Schreibtisch ist leer. Dies sind nicht deine Ermittlungen, Charlotte; Benedicts Unterlagen gehören dem Rat.«

»Was hoffen Sie denn, darin zu finden?«, erkundigte Henry sich und nahm die Zeitung von seinem Teller. Sein Tonfall klang beiläufig, aber ein hartes Funkeln in seinen Augen zeigte, dass er alles andere als desinteressiert war.

»Informationen über Benedicts Verbindung zu Mortmain. Informationen über potenzielle andere Ratsmitglieder mit möglichen Verbindungen zu Mortmain. Hinweise auf Mortmains Aufenthaltsort …«

»Und seine Geräte?«, fragte Henry.

Der Konsul brach mitten im Satz ab und wiederholte verständnislos: »Seine Geräte?«

»Die Höllengeräte. Seine Klockwerk-Armee. Eine Armee, die mit dem Ziel erschaffen wurde, die Nephilim zu vernichten. Mortmain beabsichtigt, sie gegen uns zu richten«, erklärte Charlotte, die sich offenbar wieder gefangen hatte und nun ihre Serviette beiseitelegte. »Und wenn man Benedicts zunehmend rätselhaften Notizen Glauben schenken darf, kommt dieser Moment früher als erwartet.«

»Dann hast du seine Tagebücher und Unterlagen also wirklich an dich genommen. Der Inquisitor war fest davon überzeugt.« Müde rieb Wayland sich die Augen.

»Selbstverständlich habe ich sie an mich genommen. Und selbstverständlich werde ich Ihnen die Unterlagen geben. Ich hatte nie etwas anderes beabsichtigt.« Vollkommen gefasst nahm Charlotte die kleine Silberglocke neben ihrem Teller und läutete sie. Als Sophie kurz darauf erschien, raunte sie ihr etwas zu, woraufhin das Dienstmädchen einen kurzen Knicks vor dem Konsul machte und dann wieder aus dem Raum schlüpfte.

»Du hättest die Dokumente an Ort und Stelle lassen sollen, Charlotte. Das ist die vorgeschriebene Verfahrensweise«, sagte der Konsul.

»Es gab keinen Grund, nicht wenigstens einen kurzen Blick hineinzuwerfen …«

»Das musst du meinem Urteilsvermögen überlassen – und dem Gesetz. Der Schutz der Lightwood-Brüder hat keinerlei Vorrang vor der Aufdeckung von Mortmains Aufenthaltsort, Charlotte. Du bist nicht die Leiterin der Schattenjägergemeinschaft; du bist Mitglied der Brigade und du hast mir Bericht zu erstatten. Ist das klar?«

»Ja, Konsul«, erwiderte Charlotte, als Sophie mit einem Stapel von Papieren das Speisezimmer betrat und diese wortlos dem Konsul reichte. »Wenn sich das nächste Mal ein geschätztes Mitglied unserer Gemeinschaft in einen Wurm verwandelt und ein anderes geschätztes Mitglied auffrisst, werden wir Sie unverzüglich davon in Kenntnis setzen.«

Wayland presste die Kiefer zusammen. »Dein Vater war mein Freund«, sagte er schließlich. »Ich habe ihm vertraut und deswegen habe ich auch dir vertraut. Bring mich nicht dazu, dass ich es bereuen muss, dich zur Institutsleiterin ernannt oder dich unterstützt zu haben, als Benedict Lightwood deinen Posten haben wollte.«

»Sie haben Benedict recht gegeben!«, rief Charlotte aufgebracht. »Als er vorschlug, mir nur vierzehn Tage für die Erfüllung einer Aufgabe zu geben, die sich unmöglich bewältigen ließ, da haben Sie zugestimmt! Sie haben kein einziges Wort zu meiner Verteidigung geäußert! Wenn ich keine Frau wäre, hätten Sie sich niemals so verhalten.«

»Wenn du keine Frau wärst, hätte ich das auch nicht gemusst«, entgegnete Wayland, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand mit rauschender Robe, auf der dunkle Runen matt schimmerten, aus dem Raum.

Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, zischte Will auch schon: »Wie konntest du ihm nur die Unterlagen geben? Wir brauchen diese Papiere …«

Charlotte, die sich wieder auf ihren Stuhl hatte sinken lassen, erwiderte mit halb geschlossenen Augen: »Ich bin die ganze Nacht aufgeblieben und habe die wichtigsten Passagen abgeschrieben. Das meiste davon war nur …«

»… Geschwafel?«, mutmaßte Jem.

»… Pornografie?«, sagte Will im selben Atemzug und fügte dann hinzu: »Es könnte natürlich auch beides gewesen sein. Oder habt ihr noch nie etwas von pornografischem Geschwafel gehört?«

Jem grinste und Charlotte stützte das Gesicht in die Hände. »Eher das Erstere als das Letztere, wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte sie. »Ich habe so viel wie möglich davon abgeschrieben, mit Sophies tatkräftiger Hilfe.« Sie schaute auf und wandte sich an Will: »Vergiss eines nicht, Will: Das Ganze ist nicht mehr unsere Angelegenheit. Mortmain ist jetzt das Problem des Rats – oder zumindest sehen die Ratsmitglieder das so. Sicher, es hat einmal eine Zeit gegeben, in der wir für Mortmain allein verantwortlich waren, aber …«

»Wir sind für Tessas Schutz verantwortlich!«, entgegnete Will in derart scharfem Ton, dass sogar Tessa erschrocken zusammenzuckte. Als er erkannte, dass ihn alle überrascht anschauten, erblasste Will leicht, fuhr aber dennoch fort: »Mortmain will Tessa noch immer. Wir dürfen nicht glauben, dass er einfach aufgegeben hat. Möglicherweise kommt er mit seinen Klockwerk-Automaten, möglicherweise mithilfe von Magie, Feuer und Verrat, aber er wird kommen.«

»Selbstverständlich werden wir Tessa beschützen«, sagte Charlotte. »Daran brauchst du uns nicht zu erinnern, Will. Sie ist eine von uns. Und wo wir gerade von ›uns‹ sprechen …« Sie schaute auf ihren Teller. »Jessamine kehrt morgen zu uns zurück.«

»Was?« Will stellte seine Teetasse derart hastig ab, dass sie umkippte und ihren restlichen Inhalt über das Tischtuch verteilte.

Ein aufgeregtes Raunen ging durch den Raum, wobei Cecily sich nur verwirrt umschaute und Tessa zwar kurz nach Luft schnappte, dann aber schwieg. Sie erinnerte sich an ihre letzte Begegnung mit Jessamine in der Stadt der Stille, wo sie bleich, verängstigt und mit geröteten Augen dagesessen hatte …

»Jessamine hat versucht, uns zu hintergehen, Charlotte. Und du lässt sie einfach hierher zurückkehren?«, protestierte Will.

»Sie hat sonst keinerlei Familie mehr. Ihr Vermögen wurde vom Rat konfisziert und außerdem ist sie nicht in der Verfassung, allein zu leben. Zwei Monate ständiger Verhöre in der Gebeinstadt haben sie an den Rand des Wahnsinns getrieben. Ich denke nicht, dass sie für irgendeinen von uns noch eine Gefahr darstellt.«

»Das haben wir vorher auch nicht gedacht«, warf Jem ein – mit einer Härte in der Stimme, die Tessa von ihm nicht erwartet hätte. »Und dennoch war sie dafür verantwortlich, dass Tessa beinahe in Mortmains Hände und wir anderen in Ungnade gefallen wären.«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Hier sind Mitleid und Menschlichkeit angebracht. Jessamine ist nicht mehr das Mädchen, das sie einmal war – wie jeder von euch wüsste, wenn ihr sie in der Stadt der Stille besucht hättet.«

»Ich habe keine Lust, meine Zeit mit Besuchen bei Verrätern zu vergeuden«, entgegnete Will kalt. »Hat sie noch immer diesen Unsinn dahergeplappert, dass Mortmain sich in Idris befindet?«

»Ja … deshalb haben die Stillen Brüder schließlich aufgegeben; sie konnten keinen vernünftigen Satz aus Jessamine herausbekommen. Das Mädchen hat keine Geheimnisse und weiß nichts, was auch nur annähernd von Bedeutung wäre. Und das ist ihr auch bewusst. Sie fühlt sich vollkommen wertlos. Wenn ihr euch doch nur in ihre Lage versetzen könntet …«

»Ich bezweifle nicht, dass sie für dich ein großartiges Schauspiel aufgeführt hat, Charlotte. Bestimmt war sie in Tränen aufgelöst und hat sich vor lauter Kummer die Kleidung zerrissen …«

»Nun ja, wenn sie schon ihre Kleidung zerreißt«, bemerkte Jem und schenkte seinem Parabatai ein kurzes Lächeln. »Du weißt ja, wie sehr Jessamine an ihrer Garderobe hängt.«

Will musste widerstrebend grinsen und Charlotte erkannte ihre Chance: »Ihr werdet sie nicht wiedererkennen, das versichere ich euch«, sagte sie. »Gebt ihr eine Woche, nur eine einzige Woche. Und wenn ihr sie dann noch immer nicht hier im Institut ertragen könnt, werde ich dafür sorgen, dass sie nach Idris gebracht wird.« Entschlossen schob sie ihren Teller fort. »So, und jetzt zu den Abschriften, die ich von Benedicts Unterlagen gemacht habe. Wer hilft mir dabei, sie durchzusehen?«

Adressat: Konsul Josiah Wayland
Absender: Die Kongregation

Verehrter Konsul,

bis zum Empfang Ihres letzten Schreibens waren wir der Überzeugung, dass es sich bei unseren Differenzen in Bezug auf Charlotte Branwell lediglich um unterschiedliche Ansichten handeln würde. Auch wenn Sie keine ausdrückliche Erlaubnis zur Verlegung der jungen Miss Lovelace ins Institut gegeben haben mögen, so wurde diese Genehmigung doch von der Bruderschaft erteilt, die für derartige Angelegenheiten schließlich zuständig ist. Es erschien uns als eine großzügige Geste, dem Mädchen zu gestatten, in das einzige ihr bekannte Zuhause zurückzukehren, ungeachtet ihrer Vergehen. Und was Woolsey Scott anbelangt, so sollten Sie wissen, dass er die Praetor Lupus anführt, eine Organisation, die wir seit vielen Jahren als Verbündete erachten.

Ihre Unterstellung, dass Mrs Branwell Kräften Gehör schenkt, die der Gemeinschaft der Nephilim feindlich gesinnt sind, ist zutiefst beunruhigend. Aber ohne einen Beweis widerstrebt es uns, auf Basis dieser Informationen weitere Schritte einzuleiten.

Im Namen des Erzengels
Die Kongregation

Die Kutsche des Konsuls war ein eleganter roter Glaslandauer mit fünf Fensterscheiben, der von einem Paar makelloser Grauschimmel gezogen wurde. Auf den Seiten prangte das Emblem der Nephilim – vier Mal der Buchstabe C. Wegen des feinen Nieselregens war der Kutscher tief in seinen Sitz gerutscht, sodass er in seinem gewachsten Kutschermantel und Hut fast zu verschwinden schien. Mit einem finsteren Blick forderte der Konsul, der seit Verlassen des Speisezimmers kein Wort gesagt hatte, die Lightwood-Brüder auf, in die Kutsche zu klettern. Dann stieg er ebenfalls ein und zog den Kutschschlag zu.

Als sich der Landauer in Bewegung setzte, drehte Gabriel sich zum Fenster und starrte hinaus. Hinter seinen Augen hatte sich wieder dieses Brennen bemerkbar gemacht, das seit dem Vortag kam und ging und ihn manchmal so zu überwältigen drohte, dass er das Gefühl hatte, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

Ein gigantischer Wurm … im letzten Stadium von Astriola … die Dämonenpocken.

Als Charlotte und die anderen das erste Mal Vorwürfe gegen seinen Vater erhoben hatten, da hatte er ihnen nicht glauben wollen. Gideons Treuebruch war ihm wie ein Anfall von Wahnsinn erschienen – ein derartig ungeheuerlicher Verrat, dass er nur mit geistiger Umnachtung erklärt werden konnte. Sein Vater hatte ihm versichert, dass Gideon sich eines Besseren besinnen würde, dass er zurückkehren und bei der Verwaltung des Anwesens helfen würde. Aber Gideon war nicht zurückgekehrt. Und als die Tage immer kürzer und dunkler wurden und Gabriel seinen Vater immer seltener zu Gesicht bekam, da hatte er sich allmählich angefangen zu wundern und sich irgendwann auch Sorgen gemacht.

Benedict war gejagt und getötet worden.

Gejagt und getötet. Gabriel ließ sich die Worte wieder und wieder durch den Kopf gehen, doch sie ergaben keinen Sinn. Er hatte ein Monster getötet, so wie man es ihm von Kindesbeinen an beigebracht hatte. Aber dieses Monster war nicht sein Vater gewesen. Sein Vater lebte noch … irgendwo da draußen … und Gabriel würde ihn jeden Moment auf dem Gehweg entdecken, mit seinem wehenden grauen Mantel und den vertrauten, kantigen Gesichtszügen.

»Gabriel.« Die Stimme seines Bruders riss ihn aus dem Nebel seiner Erinnerungen und Träume. »Gabriel, der Konsul hat dich etwas gefragt.«

Verwundert schaute Gabriel auf. Wayland musterte ihn aus dunklen, erwartungsvollen Augen. Die Kutsche rollte inzwischen durch die Fleet Street, auf der Reporter, Rechtsanwälte und Straßenhändler geschäftig durch den dichten Verkehr eilten.

»Ich habe dich gefragt, ob dir die Gastlichkeit des Instituts zugesagt hat«, sagte der Konsul.

Gabriel blinzelte ihn an. Aus dem Nebel der vergangenen Tage waren ihm nur wenige Dinge im Gedächtnis geblieben: Charlotte, die ihn in den Arm nahm. Gideon, der ihm das Blut von den Händen wusch. Cecilys Gesicht, wie eine leuchtende, wilde Blüte. »Ja, ich denke schon«, erwiderte er mit rauer Stimme. »Wenn man bedenkt, dass das Institut nicht mein Zuhause ist.«

»Nun ja, Lightwood House ist sicherlich einzigartig«, sagte der Konsul. »Aber natürlich errichtet auf Blut und Kriegsbeute.«

Verständnislos starrte Gabriel ihn an, während Gideon leicht angewidert aus dem Fenster schaute. »Ich dachte, Sie wollten mit uns über Tatiana sprechen«, sagte er.

»Ich kenne Tatiana«, erwiderte Wayland. »Sie besitzt weder den Verstand eures Vaters noch die Güte eurer Mutter. Ich fürchte, sie hat nicht gerade den besten Teil abbekommen. Ihr Antrag auf Reparationsleistungen wird natürlich abgelehnt.«

Gideon fuhr herum und starrte den Konsul ungläubig an. »Wenn Sie so wenig von ihrer Aussage halten, warum sind wir dann hier?«

»Damit ich euch beide allein sprechen kann«, erklärte der Konsul. »Ihr müsst wissen, als ich Charlotte zur Leiterin ernannte, hatte ich die Hoffnung, dass dem Institut die Hand einer Frau guttun würde. Granville Fairchild war einer der unerbittlichsten Männer, die ich je gekannt habe, und obwohl er das Institut streng nach dem Gesetz geführt hat, war es ein kalter und alles andere als einladender Ort. Ausgerechnet hier in London, der großartigsten Stadt der Welt, konnte ein Schattenjäger sich nicht wie zu Hause fühlen.« Er zuckte die Achseln. »Ich dachte, wenn ich Charlotte mit der Leitung des Instituts beauftrage, würde sich das möglicherweise ändern.«

»Charlotte und Henry«, berichtigte Gideon.

»Henry war in dieser Angelegenheit nur eine Randfigur«, schnaubte der Konsul. »Wir wissen doch alle: In dieser Ehe hat sie die Hosen an, wie es so schön heißt. Henry sollte sich nicht einmischen – und das hat er in der Tat auch nicht getan. Doch das Gleiche galt eigentlich auch für Charlotte: Sie sollte gefügig sein und nach meinen Wünschen handeln. Und in dieser Hinsicht hat sie mich schwer enttäuscht.«

»Aber Sie haben sich doch für sie und gegen unseren Vater ausgesprochen!«, platzte Gabriel heraus, bereute seine Worte aber sofort. Gideon warf ihm einen scharfen Blick zu, woraufhin Gabriel seine behandschuhten Hände fest im Schoß verschränkte und die Lippen aufeinanderpresste.

Wayland musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. »Glaubst du etwa, euer Vater wäre gefügig gewesen?«, fragte er. »Ich hatte die Wahl zwischen zwei Übeln und ich habe mich für das kleinere entschieden. Schließlich hatte ich die Hoffnung, ich könnte Charlotte doch noch in den Griff bekommen. Aber jetzt …«

»Sir«, unterbrach Gideon den Konsul in besonders höflichem Ton, »warum erzählen Sie uns das alles?«

»Ah«, murmelte Wayland und warf einen Blick durch das regennasse Fenster. »Wir sind da.« Energisch klopfte er gegen die Glasscheibe, die sie von dem Kutscher trennte. »Richard! Halt die Kutsche vor den Argent Rooms an.«

Gabriel schaute rasch zu seinem Bruder, der jedoch nur verwundert die Achseln zuckte. Die Argent Rooms beherbergten ein berühmt-berüchtigtes Varietétheater am Piccadilly Circus. Damen von zweifelhaftem Ruf gingen dort ein und aus und es wurde behauptet, dass der Klub einem Schattenweltler gehörte und dass die »Magischen Vorführungen« an manchen Abenden echte Magie zeigten.

»Ich bin früher oft mit eurem Vater hierhergekommen«, sagte der Konsul, als sie zu dritt auf dem Gehweg standen. Gideon und Gabriel starrten durch den Nieselregen zu der recht geschmacklosen Theaterfront im pseudo-italienischen Stil hinauf, die man den ehemals schlichteren Gebäuden offensichtlich aufgepfropft hatte: Die Fassade präsentierte eine dreifache Kolonnade und einen ziemlich grellen blauen Anstrich. »Vor einigen Jahren hat die Polizei dem »Alhambra« die Lizenz entzogen, weil die Theaterleitung die Aufführung des Cancan auf ihrer Bühne gestattet hatte. Andererseits wird das »Alhambra« auch von Irdischen geführt. Dagegen ist dieses Etablissement hier wesentlich ansprechender. Wollen wir dann mal hineingehen?«, fragte er, doch sein Tonfall ließ keinerlei Widerspruch zu.

Gabriel folgte dem Konsul durch den Arkadeneingang, wo mehrere Geldscheine den Besitzer wechselten und Eintrittskarten für jeden von ihnen erworben wurden. Verwirrt starrte Gabriel auf sein Billett, das wie ein Reklamezettel aussah und die beste Unterhaltung in ganz London versprach. »Kraftakte«, las er Gideon vor, während sie durch einen langen Korridor gingen. »Dressurkunststücke, Stärkste Frau der Welt, Akrobaten, Zirkusnummern und humoristische Sänger.«

Gideon murmelte irgendetwas vor sich hin.

»Und Schlangenmenschen«, fügte Gabriel fröhlich hinzu. »Anscheinend zeigen sie eine Frau, die in der Lage ist, ihren Fuß auf den eigenen Kopf …«

»Beim Erzengel, dieser Ort ist schlimmer als jedes billige Schmierentheater«, unterbrach Gideon ihn. »Gabriel, schau dir auf keinen Fall irgendetwas an, solange ich es nicht ausdrücklich sage.«

Gabriel rollte genervt mit den Augen, während sein Bruder ihn am Ellbogen packte und ihn in einen Raum zog, bei dem es sich eindeutig um den Großen Salon handelte: ein riesiger Saal, dessen Decken mit Reproduktionen von Gemälden alter Meister geschmückt waren – darunter auch Botticellis Die Geburt der Venus. Allerdings waren die Deckenmalereien inzwischen rauchverhangen und ziemlich ramponiert. Gaslüster hingen von vergoldeten Stuckrosetten und erfüllten den Raum mit gelblichem Licht.

Entlang der Wände standen Polsterbänke, auf denen sich dunkle Gestalten drängten – Gentlemen, umgeben von Damen, deren Kleidung zu grell und deren Gelächter zu laut war. Musik drang vom Podium im vorderen Bereich des Saals. Grinsend strebte der Konsul darauf zu. Eine Frau in Frack und Zylinder tanzte geschmeidig über die Bühne und sang ein Lied mit dem Titel »Oh, du Schlimmer, du willst immer«. Als sie sich umdrehte, blitzten ihre Augen im Schein der Gaslüster grünlich auf.

Ein Werwolf, schoss es Gabriel durch den Kopf.

»Wartet hier einen Moment, Jungs«, sagte der Konsul und verschwand dann in der Menge.

»Entzückend«, murmelte Gideon und zog Gabriel näher zu sich heran, als eine Frau in einem eng geschnürten Satinkleid mit wiegenden Hüften an ihnen vorbeischwankte. Sie roch nach Gin und irgendeiner anderen Substanz, etwas, das geheimnisvoll und süßlich wirkte … ein bisschen wie James Carstairs Geruch nach Karamellzucker.

»Wer hätte gedacht, dass der Konsul ein solcher Schwerenöter ist?«, meinte Gabriel. »Hätte das hier nicht bis nach dem Verhör in der Gebeinstadt warten können?«

»Er hat nicht vor, uns in die Stadt der Stille zu bringen.« Gideon presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

»Ach nein?«

»Sei doch kein Trottel, Gabriel. Natürlich nicht. Wayland will irgendetwas anderes von uns. Ich weiß zwar noch nicht genau, was es ist, aber er hat uns hierher geschleppt, um uns zu verunsichern … Und das hätte er nicht getan, wenn er sich nicht ziemlich sicher wäre, dass er uns gegenüber etwas in der Hand hat … etwas, das verhindert, dass wir Charlotte oder sonst irgendjemandem von diesem Besuch erzählen.«

»Vielleicht ist er ja wirklich oft mit Vater hier gewesen.«

»Mag sein, aber deshalb sind wir nicht hier«, sagte Gideon bestimmt. Er verstärkte den Griff um Gabriels Arm, als der Konsul schließlich wieder auftauchte, mit einer kleinen Flasche in der Hand, die scheinbar Sprudelwasser enthielt.

Doch Gabriel schätzte, dass das Getränk sehr wahrscheinlich mit einem guten Schuss Alkohol versetzt war. »Was denn, nichts für uns?«, fragte er, erntete dafür aber einen scharfen Blick von seinem Bruder und ein säuerliches Lächeln vom Konsul. Gabriel erkannte, dass er nicht wusste, ob Wayland eine Familie und möglicherweise Kinder besaß. Er war einfach nur der Konsul.

»Habt ihr Jungs auch nur den Hauch einer Ahnung, in welcher Gefahr ihr schwebt?«, fragte Wayland.

»Gefahr? Wegen Charlotte?« Gideon klang skeptisch.

»Nein, nicht wegen Charlotte.« Der Konsul wandte sich nun beiden Brüdern zu. »Euer Vater hat nicht einfach nur gegen das Gesetz verstoßen – er hat es mit Füßen getreten. Er hat nicht nur Geschäfte mit Dämonen getrieben, sondern das Bett mit ihnen geteilt. Ihr beide seid Lightwoods – die einzigen noch lebenden Nachkommen dieser Familie. Ihr habt weder Cousins noch Onkel oder Tanten. Ich könnte dafür sorgen, dass eure gesamte Familie aus den Annalen der Nephilim gestrichen wird und ihr beide, mitsamt eurer Schwester, auf die Straße geworfen werdet, wo ihr dann entweder verhungert oder euch euren Lebensunterhalt inmitten der Irdischen erbetteln müsst. Ich hätte jedes Recht dazu, dies zu tun. Und was glaubt ihr, wer wohl zu euch stehen würde? Wer zu eurer Verteidigung den Mund aufmachen würde?«

Gideon war bleich geworden und die Knöchel seiner Finger, die noch immer Gabriels Arm umklammerten, traten weiß hervor. »Das ist nicht fair«, protestierte er. »Wir haben von alldem nichts gewusst. Mein Bruder hat unserem Vater vertraut. Er kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden …«

»Er hat ihm vertraut? Dein Bruder hat ihm den Todesstoß versetzt, oder etwa nicht?«, konterte der Konsul. »Natürlich, ihr habt alle euren Teil beigetragen, aber sein coup de grâce hat euren Vater schließlich niedergestreckt – was darauf hindeutet, dass er sehr wohl wusste, was euer Vater war.«

Gabriel spürte, dass Gideon ihn besorgt musterte. Die Luft im Saal war warm und stickig und raubte ihm den Atem. Die Frau auf der Bühne sang inzwischen ein Lied namens »Die Olly hat drei nette Kavaliere«. Dabei stampfte sie im Rhythmus der Musik mit einem Gehstock auf den Boden, sodass die Bühnenbretter bebten.

»Die Sünden der Väter … Ihr könnt und werdet für die Vergehen eures Vaters bestraft werden, wenn ich es so will. Was wirst du tun, Gideon, wenn deinen Geschwistern die Runen entzogen werden? Wirst du tatenlos danebenstehen und zusehen?«

Gabriels rechte Hand zuckte; wenn Gideon nicht schneller gewesen wäre und sein Handgelenk festgehalten hätte, hätte er den Arm ausgestreckt und den Konsul an der Gurgel gepackt.

»Was wollen Sie von uns?«, fragte Gideon mit beherrschter Stimme. »Sie haben uns doch nicht hierher gebracht, um uns Angst einzujagen – Sie wollen irgendetwas anderes. Und wenn es sich dabei um eine einfache oder legale Sache handeln würde, hätten Sie das nicht hier, sondern in der Stadt der Stille angesprochen.«

»Schlauer Junge!«, bemerkte der Konsul. »Ich will, dass ihr mir einen kleinen Gefallen erweist. Wenn ihr das für mich übernehmt, kann ich zwar noch immer nicht verhindern, dass Lightwood House konfisziert wird, aber ich werde dafür sorgen, dass ihr eure Ehre und euren Namen, euer Anwesen in Idris und euren Platz als Schattenjäger behaltet.«

»Und was genau sollen wir für Sie erledigen?«

»Ich möchte, dass ihr Charlotte observiert. Insbesondere ihre Korrespondenz. Teilt mir mit, welche Briefe sie erhält und verschickt, vor allem die von und nach Idris.«

»Sie wollen, dass wir sie bespitzeln«, stellte Gideon mit tonloser Stimme fest.

»Ich wünsche keine weiteren Überraschungen wie die mit eurem Vater«, erwiderte Wayland. »Charlotte hätte seine Erkrankung niemals vor mir geheim halten dürfen.«

»Sie hatte keine andere Wahl«, erklärte Gideon. »Das Ganze war Teil der Vereinbarung, die die beiden getroffen hatten …«

Der Konsul presste die Lippen zusammen. »Charlotte Branwell hat nicht das Recht, Vereinbarungen dieses Ausmaßes ohne mein Einverständnis zu treffen. Ich bin ihr Vorgesetzter. Sie sollte und darf sich nicht auf diese Weise über mich hinwegsetzen. Sie und diese Gruppe im Institut verhalten sich so, als lebten sie in ihrem eigenen Land und nach ihren eigenen Gesetzen. Man muss sich doch nur einmal ansehen, was mit dieser Jessamine Lovelace passiert ist: Sie hat uns alle hintergangen und damit fast zu unserer vollständigen Vernichtung beigetragen. James Carstairs ist ein dem Tode geweihter Drogenabhängiger. Dieses Gray-Mädchen ist ein Wechselbalg oder ein Hexenwesen und hat im Institut nichts zu suchen – diese lächerliche Verlobung soll doch der Teufel holen. Und Will Herondale … Will Herondale ist ein verzogenes Bürschchen und Lügner, der zu einem Kriminellen heranwachsen wird, falls er überhaupt jemals erwachsen wird.« Der Konsul schwieg einen Moment, holte schnaufend Luft und fuhr dann fort: »Charlotte mag das Institut wie ihr persönliches Anwesen führen, aber das ist es nun mal nicht. Es ist und bleibt ein Institut und untersteht dem Konsul. Und das Gleiche gilt für euch.«

»Charlotte hat nichts getan, dass sie einen derartigen Verrat von mir verdient«, sagte Gideon.

Wütend stach der Konsul mit dem Finger in seine Richtung. »Das ist genau das, was ich meine! Deine Loyalität hat nicht ihr zu gelten – das kann und darf nicht sein. Deine Loyalität gilt mir … hat mir zu gelten. Hast du das verstanden?«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann verliert ihr alles: Haus, Ländereien, Name, Abstammung, Lebensziel.«

»Wir tun es«, sagte Gabriel rasch, bevor Gideon erneut etwas erwidern konnte. »Wir werden Charlotte für Sie observieren.«

»Gabriel …«, setzte Gideon an.

»Nein«, wandte Gabriel sich an seinen Bruder. »Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich verstehe, dass du kein Lügner sein willst. Aber unsere oberste Loyalität gilt unserer Familie. Die Blackthorns würden Tati auf die Straße werfen, wo sie nicht einen Moment überleben würde … weder sie noch das Kind …«

Gideon erbleichte. »Tatiana erwartet ein Kind?«

Trotz der schrecklichen Situation verspürte Gabriel einen Anflug von Genugtuung darüber, dass er etwas wusste, was seinem Bruder nicht bekannt war. »Ja«, bestätigte er. »Wenn du noch zu unserer Familie gehören würdest, hättest du das gewusst.«

Müde schaute Gideon sich im Saal um, als suchte er nach einem vertrauten Gesicht; dann wandte er sich machtlos wieder seinem Bruder und dem Konsul zu. »Ich …«

Konsul Wayland schenkte zuerst Gabriel und anschließend Gideon ein kaltes Lächeln. »Dann haben wir also eine Abmachung, Gentlemen?«

Gideon zögerte einen langen Moment und nickte schließlich. »Also gut, wir tun es.«

Den Ausdruck, der sich bei diesen Worten auf dem Gesicht des Konsuls abzeichnete, sollte Gabriel so schnell nicht vergessen. Seine Miene spiegelte Genugtuung, aber kaum Überraschung. Ganz offensichtlich hatte er von den Lightwood-Brüdern nichts anderes, nichts Besseres erwartet.

»Scones?«, fragte Tessa ungläubig.

Ein Lächeln umspielte Sophies Mundwinkel. Sie kniete mit einem Lappen und einem Eimer Seifenlauge vor dem Kamin. »Ich wäre fast aus den Pantinen gekippt, so überrascht war ich«, bestätigte sie. »Dutzende von Scones. Unter seinem Bett und alle steinhart.«

»Du meine Güte«, murmelte Tessa, rutschte an die Bettkante und stützte sich auf die Hände. Jedes Mal, wenn Sophie in ihrem Zimmer sauber machte, musste Tessa sich zurückhalten, um ihr nicht beim Kaminanzünden oder beim Staubwischen zu helfen. Sie hatte es immer mal wieder versucht, aber nachdem Sophie sie zum vierten Mal mit sanfter, aber fester Hand aufs Bett zurückgedrückt hatte, hatte Tessa schließlich aufgegeben. »Und du bist wütend geworden?«, fragte sie nun.

»Selbstverständlich! Diese ganze zusätzliche Arbeit, die vielen Mal mit einem schweren Tablett die Treppen hinauf und hinunter und dann versteckt er das Gebäck einfach … es würde mich nicht wundern, wenn wir im Herbst eine Mäuseplage kriegen.«

Tessa nickte angesichts des potenziellen Nagetierproblems. »Aber ist es denn nicht auch ein wenig schmeichelhaft, dass er solche Anstrengungen unternommen hat, nur um dich zu sehen?«

Sophie setzte sich kerzengerade auf. »Nein, das ist nicht schmeichelhaft. Er hat nicht nachgedacht. Er ist ein Schattenjäger und ich bin eine Irdische. Ich darf mir von ihm nichts erwarten. Im besten Falle könnte er mir anbieten, dass ich seine Mätresse werde, während er eine Schattenjägerin zur Frau nimmt.«

Tessa bekam einen Kloß im Hals, als sie sich an Wills Worte auf dem Institutsdach erinnerte. Er hatte ihr genau dasselbe angeboten – Schimpf und Schande – und sie hatte sich furchtbar klein und wertlos gefühlt. Natürlich hatte es sich dabei um eine Lüge gehandelt, doch die Erinnerung daran schmerzte noch immer.

»Nein«, sagte Sophie und schaute auf ihre rauen, geröteten Hände. »Es ist besser, wenn ich diese Möglichkeit erst gar nicht in Betracht ziehe. So werde ich auch nicht enttäuscht.«

»Ich denke, die Lightwoods sind ehrliche und anständige Männer«, wandte Tessa ein.

Sophie strich sich die Haare aus dem Gesicht und berührte leicht die Narbe, die ihre Wange teilte. »Manchmal denke ich, es gibt überhaupt keine ehrlichen und anständigen Männer.«

Während die Kutsche durch die Straßen des West End in Richtung Institut ratterte, blieben Gideon und Gabriel stumm. Inzwischen goss es in Strömen und der Regen prasselte so laut auf das Kutschdach, dass man ohnehin keinen Ton verstanden hätte, überlegte Gabriel.

Gideon betrachtete angelegentlich seine Schuhe und schaute auch nicht auf, als das Institut im Dunst aufragte und sie durch das Tor fuhren.

Bei der Eingangstreppe angekommen, beugte der Konsul sich vor, griff über Gabriel hinweg und öffnete den Kutschschlag, damit sie aussteigen konnten. »Ich vertraue euch beiden«, sagte er. »Und nun seht zu, dass auch Charlotte euch vertraut. Aber erzählt keiner Menschenseele von unserem Gespräch. Was diesen Nachmittag anbelangt, so habt ihr ihn bei den Stillen Brüdern verbracht.«

Wortlos kletterte Gideon aus der Kutsche, dicht gefolgt von Gabriel. Dann machte der Landauer kehrt und fuhr davon, zurück in den grauen Londoner Nachmittag. Schwarz-gelbe Wolken verdunkelten den Himmel, aus dem bleischwere Tropfen zu fallen schienen; die Nebelschwaden waren so dicht, dass Gabriel kaum das Eisentor erkennen konnte, dass sich hinter der Kutsche des Konsuls schloss. Und die Hände, die in diesem Moment aus dem Nebel hervorschossen und ihn am Kragen fassten, sah er auch nicht. Sein Bruder hatte ihn gepackt und zog ihn einige Meter um das Institut herum. Gabriel wäre fast gestürzt, als Gideon ihn gegen die Steine des alten Kirchengebäudes drückte. Sie befanden sich in der Nähe der Stallungen, im Sichtschutz einer der Pfeilermauern, waren dem Regen allerdings weiterhin ausgeliefert.

Kalte Tropfen liefen Gabriel über den Kopf, den Hals hinunter und schließlich in den Kragen hinein. »Gideon …«, protestierte er, während seine Füße auf den rutschigen Steinplatten Halt suchten.

»Sei still.« Gideon musterte ihn aus großen Augen, die im dämmrigen Licht fast grau wirkten und nur noch eine Spur Grün aufwiesen.

»Du hast recht.« Gabriel senkte seine Stimme. »Wir sollten uns genau absprechen. Wenn uns irgendjemand fragt, was wir heute Nachmittag getan haben, müssen unsere Antworten hundertprozentig übereinstimmen, denn sonst klingt unsere Geschichte unglaubwürdig …«

»Ich hab gesagt, du sollst still sein.« Gideon stieß seinen Bruder so fest mit den Schultern gegen die Mauer, dass Gabriel schmerzerfüllt aufkeuchte. »Wir werden Charlotte von unserem Gespräch mit dem Konsul nichts erzählen. Aber wir werden sie auch nicht bespitzeln. Gabriel, du bist mein Bruder und ich liebe dich. Ich würde alles tun, um dich zu beschützen. Aber ich werde nicht zulassen, dass wir beide unsere Seelen verkaufen.«

Gabriel musterte seinen Bruder. Regen lief von Gideons nassen Haaren und tropfte auf den Kragen seines Mantels. »Wenn wir uns weigern, könnten wir auf der Straße enden.«

»Ich werde Charlotte nicht belügen«, erwiderte Gideon.

»Gideon …«

»Hast du den Ausdruck auf Waylands Gesicht gesehen?«, unterbrach Gideon seinen Bruder. »Als wir zugestimmt haben, für ihn zu spionieren und damit das Haus, in dem man uns so großzügig beherbergt, zu hintergehen. Der Konsul war nicht im Geringsten überrascht. Er hat keinen Moment an unserer Einwilligung gezweifelt. Denn von den Lightwoods erwartet er nichts anderes als Betrug und Verrat. Das ist unser Geburtsrecht.« Gideon verstärkte seinen Griff um die Arme seines Bruders. »Das Leben dreht sich um mehr als nur ums nackte Überleben«, stieß er hervor. »Wir haben unsere Ehre, wir sind Nephilim. Wenn Wayland uns auch das nimmt, haben wir wirklich nichts mehr.«

»Wieso?«, hakte Gabriel nach. »Wieso bist du dir so sicher, dass Charlotte auf der richtigen Seite kämpft?«

»Weil unser Vater das nie getan hat«, erklärte Gideon. »Weil ich Charlotte kenne. Weil ich seit Monaten inmitten dieser Leute lebe und weil ich weiß, dass sie gute Menschen sind. Weil Charlotte Branwell mir immer nur Freundlichkeit entgegengebracht hat. Und weil Sophie sie liebt.«

»Und du liebst Sophie.«

Gideon presste die Lippen aufeinander.

»Sie ist eine Irdische und ein Dienstmädchen«, sagte Gabriel. »Ich weiß wirklich nicht, was du dir davon versprichst.«

»Nichts«, entgegnete Gideon heiser. »Ich verspreche mir gar nichts. Aber die Tatsache, dass du felsenfest davon überzeugt bist, zeigt, dass unser Vater uns in dem Glauben erzogen hat, wir sollten nur dann rechtschaffen handeln, wenn wir mit einer Belohnung rechnen dürfen. Ich habe Charlotte mein Wort gegeben, und das werde ich nicht brechen. So sieht die Situation nun mal aus, Gabriel. Wenn dir das nicht gefällt, werde ich dich zu Tatiana und den Blackthorns schicken. Ich bin mir sicher, sie werden dich bei sich aufnehmen. Aber ich werde Charlotte nicht belügen.«

»Doch, das wirst du«, widersprach Gabriel. »Wir beide werden gegenüber Charlotte lügen. Aber wir werden auch gegenüber dem Konsul lügen.«

Gideon kniff die Augen zu Schlitzen. Regen tropfte von seinen Wimpern. »Was meinst du damit?«

»Wir werden Waylands Wunsch befolgen und Charlottes Korrespondenz lesen. Und dann werden wir ihm Bericht erstatten, allerdings wird unser Bericht nicht der Wahrheit entsprechen.«

»Wenn wir ihm ohnehin irreführende Informationen liefern wollen, wozu müssen wir Charlottes Korrespondenz dann lesen?«

»Damit wir wissen, was wir ihm nicht schreiben dürfen«, erläuterte Gabriel und spürte einen seltsamen Geschmack im Mund – bitter und schmutzig, als wäre ihm Regenwasser vom Institutsdach auf die Lippen getropft. »Damit wir ihm nicht versehentlich doch die Wahrheit sagen.«

»Wenn wir entdeckt werden, könnte das für uns schwerwiegende Konsequenzen haben.«

Gabriel spuckte etwas Regenwasser auf den Boden. »Dann sag du mir, was wir tun sollen. Bist du bereit, für die Bewohner des Instituts schwerwiegende Konsequenzen zu riskieren oder nicht? Denn ich … ich tue das in erster Linie für dich und weil …«

»Weil?«

»Weil ich einen Fehler begangen habe: Ich habe mich in unserem Vater geirrt. Ich habe ihm geglaubt, und das hätte ich nicht tun sollen.« Gabriel holte tief Luft. »Ich hatte unrecht und möchte das wiedergutmachen. Und wenn ich dafür bezahlen muss, bin ich bereit, den Preis zu zahlen.«

Gideon musterte ihn lange und eindringlich. »War das schon die ganze Zeit dein Plan? Als du Waylands Forderungen zugestimmt hast, vorhin in den Argent Rooms, hattest du das in dem Moment beabsichtigt?«

Langsam wandte Gabriel den Blick ab und schaute in Richtung des regennassen Innenhofs. Vor seinem inneren Auge sah er Gideon und sich selbst, als sie noch sehr viel jünger waren. Sie standen an der Themse, die an das Anwesen ihres Elternhauses angrenzte, und Gideon zeigte ihm, wie man den sumpfigen Uferbereich am sichersten überquerte. Sein Bruder hatte ihm immer die sicheren Pfade gezeigt. Und es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie einander blind vertraut hatten – eine Zeit, die inzwischen lange zurücklag. Aber er sehnte sich von ganzem Herzen danach zurück, viel stärker als nach dem verlorenen Vater. »Würdest du mir denn glauben, wenn ich dir sage, dass es so ist?«, erwiderte er bitter. »Denn es ist die Wahrheit.«

Gideon schwieg einen Moment. Und dann spürte Gabriel, wie er nach vorn gezogen und sein Gesicht in die feuchte Wolle von Gideons Mantel gedrückt wurde, während sein Bruder ihn fest im Arm hielt, ihn beruhigend hin und her schaukelte und murmelte: »Alles wird gut, kleiner Bruder. Es wird alles gut.«

Adressat: Die Kongregation
Absender: Konsul Josiah Wayland

Also gut, meine Herren. In diesem Fall bitte ich lediglich um etwas Geduld und keine überhasteten Entscheidungen. Wenn Sie Beweise wünschen, werde ich Beweise liefern.
Ich werde mich in dieser Angelegenheit bald wieder melden.

Im Namen des Erzengels und zur Wahrung seiner Größe
Konsul Josiah Wayland