DER GEIST HAT BERGE
Oh der Geist, Geist hat
Berge; Klippen des Sturzes
Kraß, jach, von keinem erlotet. Sie gering
achten
Mag, wer niemals dort hing. Noch kann unsre
dürftige
Dauer lang sich behaupten wider jene Steile
oder Tiefe. Hier! kriech,
Elender, unter einen Trost, der ausreicht im
Wirbelsturm: alles
Leben endet der Tod und jeder Tag stirbt mit
Schlaf.
GERARD MANLEY HOPKINS, »KEIN SCHLIMMSTES, ES GIBT KEINS«
Tessa konnte sich später nicht erinnern, ob sie während ihres Sturzes geschrien hatte. Sie wusste nur noch, dass sie sehr lange in die Tiefe gefallen war und dass sie den Fluss und die Felsen rasend schnell auf sich hatte zukommen sehen, mit dem Himmel zu ihren Füßen. Der Wind zerrte an ihrem Gesicht und riss an ihren Haaren, während sie durch die Luft wirbelte … und plötzlich einen kräftigen Ruck an ihrer Kehle spürte.
Ihre Hände schnellten zu ihrem Hals, doch die Kette mit dem Klockwerk-Engel wurde über ihren Kopf gehoben, als wäre eine gigantische Hand aus dem Himmel herabgefahren, um die Kette zu entfernen. Im nächsten Moment nahm Tessa ein metallisches Schimmern wahr. Zwei gewaltige Schwingen öffneten sich wie Tore und irgendetwas fing Tessas Sturz ab und unterbrach ihr unkontrolliertes Trudeln. Verwundert riss sie die Augen auf – das war doch nicht möglich, einfach unvorstellbar –, aber ihr Engel, ihr Klockwerk-Engel hatte plötzlich menschliche Dimensionen angenommen und schwebte über ihr. Seine riesigen mechanischen Schwingen schlugen ruhig im Wind.
Tessa starrte in ein ausdrucksloses, aber wunderschönes Gesicht, wie das einer Statue aus Metall. Allerdings hatte ihr Engel nun Hände, die so fein und mehrgliedrig waren wie ihre eigenen und sie festhielten, während die Schwingen sich langsam auf- und abbewegten. Tessa hatte das Gefühl, als würde sie schweben, sanft und leicht wie eine Pusteblume in der Brise.
Vielleicht sterbe ich ja, überlegte sie, das hier kann doch nicht sein. Aber der Engel hielt sie sicher, während sie gemeinsam nach unten sanken und der Boden immer näher kam. Schon bald konnte Tessa einzelne Felsen am Rand des Flusses ausmachen, die Stromschnellen um sie herum, die Spiegelung des Monds im Wasser. Die dunklen Schatten der Engelsschwingen zeichneten sich immer deutlicher und größer auf dem Untergrund ab, bis Tessa in diese Schatten eintauchte und zusammen mit dem Engel im Geröll des Flussufers landete.
Keuchend schnappte sie nach Luft, als sie auf dem Boden auftraf – allerdings eher vor Schreck als vor Schmerz. Dann hob sie rasch die Hände, als könnte sie den Sturz des Engels mit ihrem Körper abfangen. Doch der Klockwerk-Engel begann bereits zu schrumpfen; seine Schwingen falteten sich zusammen und er wurde kleiner und kleiner, bis er wieder seine ursprüngliche Größe erreicht hatte und wie ein Spielzeug neben ihr am Flussufer landete. Zitternd streckte Tessa eine Hand aus und zog ihn zu sich heran. Sie lag auf den harten Felsen und zum Teil in den eisigen Fluten; ihre Röcke sogen sich bereits mit kaltem Wasser voll. Hastig drückte Tessa den Anhänger an sich und kroch mit letzter Kraft die Uferböschung hinauf, wo sie schließlich auf trockenem Untergrund zusammenbrach, den Engel an ihre Brust gepresst, sein vertrautes Ticken dicht an ihrem Herzen.
Sophie saß an Jems Bett, in dem Sessel, der eigentlich Wills Stammplatz war, und wachte über den Schlaf des jungen Schattenjägers.
Vor nicht allzu langer Zeit wäre sie beinahe dankbar für eine Gelegenheit wie diese gewesen, überlegte sie – die Gelegenheit, Jem so nahe sein und ihm kalte Umschläge auf die Stirn legen zu können, während er sich im Fieber unruhig wälzte. Und obwohl sie ihn nicht mehr so wie früher liebte – auf eine Weise, wie man jemanden liebte, den man überhaupt nicht kannte, nämlich voller Bewunderung und aus großer Distanz –, brach es ihr dennoch das Herz, ihn so zu sehen.
Sie erinnerte sich daran, wie vor vielen Jahren eines der Mädchen in ihrem Heimatort an Auszehrung gestorben war und wie die Dorfbewohner darüber gesprochen hatten, dass die Krankheit sie erst schöner gemacht hatte, bevor sie ihr das Leben nahm: Die Tuberkulose hatte sie blasser und schlanker erscheinen lassen und ihren Wangen einen fiebrigen rosigen Glanz verliehen.
Auch Jems Gesicht war vom Fieber gerötet, während er den Kopf unruhig hin und her warf. Sein silberweißes Haar sah aus wie ein Frostgespinst und seine dünnen Finger krallten sich rastlos in die Bettdecke. Gelegentlich murmelte er ein paar Worte, aber immer auf Mandarin, was Sophie nicht verstand. Wieder und wieder rief er nach Tessa – Wo ai ni, Tessa. Bu lu run, he qing kuang fa sheng, wo men dou hui zai yi qi – und nach Will – sheng si zhi jiao –, und das auf eine Weise, die in Sophie den Wunsch weckte, Jems Hand zu nehmen und sie festzuhalten. Doch als sie seine Finger berührte, stieß er einen unterdrückten Schrei aus und riss die glühend heiße Hand weg.
Ratlos sank Sophie gegen die Sessellehne und fragte sich, ob sie Charlotte herbeiholen sollte. Charlotte würde bestimmt darüber informiert werden wollen, falls sich Jems Zustand verschlimmerte. Sophie wollte sich gerade erheben, als Jem plötzlich keuchte und ruckartig die Augen aufschlug. Unschlüssig verharrte Sophie in ihrem Sessel und musterte Jem besorgt. Seine Iriden schimmerten in einem so hellen Silberton, dass sie fast weiß wirkten.
»Will?«, fragte er. »Will, bist du das?«
»Nein«, erwiderte Sophie mit angehaltenem Atem; sie wagte es kaum, sich zu bewegen. »Ich bin’s, Sophie.«
Jem holte leise Luft und drehte den Kopf in ihre Richtung. Sie sah, dass es ihn Mühe kostete, sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Doch dann lächelte er unfassbarerweise – jenes freundliche Lächeln, mit dem er vor vielen Jahren ihr Herz gewonnen hatte. »Natürlich«, murmelte er. »Sophie. Will ist nicht … Ich habe ihn fortgeschickt.«
»Er hat Tessas Verfolgung aufgenommen«, erklärte Sophie.
»Gut.« Jems lange Finger zupften an der Bettdecke, ballten sich zu Fäusten – und entspannten sich dann. »Ich … bin froh darüber.«
»Er fehlt Ihnen«, stellte Sophie fest.
Jem nickte langsam. »Ich kann es spüren…seine Abwesenheit…wie ein Band tief in meinem Inneren, das sehr straff gespannt ist. Damit hatte ich nicht gerechnet. Seit unserer Parabatai-Zeremonie sind wir nie weit voneinander entfernt gewesen.«
»Cecily sagte, Sie hätten ihn fortgeschickt.«
»Ja«, bestätigte Jem. »Er ließ sich nur schwer überreden. Ich denke, wenn er Tessa nicht ebenfalls lieben würde, hätte ich ihn nicht dazu bewegen können, ihr nachzureiten.«
Sophie starrte Jem mit offenem Mund an. »Sie wissen davon?«
»Noch nicht sehr lange«, sagte Jem. »So grausam bin ich nicht. Wenn ich davon gewusst hätte, dann hätte ich Tessa niemals einen Heiratsantrag gemacht. Ich hätte mich zurückgehalten. Nein, ich habe es nicht gewusst. Aber jetzt, da meine Kräfte schwinden und mir viele Dinge plötzlich sonnenklar erscheinen, denke ich, dass ich es herausgefunden hätte – selbst wenn Will es mir nicht gesagt hätte. Letztendlich hätte ich es gewusst.« Jem lächelte, als er Sophies bestürzte Miene sah. »Ich bin froh, dass ich nicht bis zum Ende warten musste.«
»Und Sie sind nicht aufgebracht?«
»Nein, ich freue mich«, erklärte Jem. »So werden die beiden sich umeinander kümmern können, wenn ich nicht mehr da bin – zumindest hoffe ich das. Will meinte, dass Tessa ihn nicht liebt, aber … bestimmt wird sie ihn im Laufe der Zeit lieben lernen. Will macht es einem nicht schwer, ihn zu lieben, und er hat ihr sein Herz geschenkt, voll und ganz. Das kann ich sehen. Ich hoffe nur, dass sie es ihm nicht bricht.«
Sophie fiel darauf beim besten Willen keine Antwort ein. Sie wusste nicht, was irgendjemand angesichts solch einer Liebe hätte sagen können – bei so viel Nachsicht, so viel Geduld, so viel Hoffnung. In den vergangenen Monaten hatte sie oft bedauert, dass sie von Will Herondale je schlecht gesprochen hatte, denn sie hatte beobachtet, wie er sich zurückhielt und damit Tessa und Jem erlaubte, ihr Glück zu genießen. Und Sophie wusste auch, dass Tessas Glück nicht gänzlich ungetrübt sein konnte, da es mit dem Wissen verbunden war, dass sie Will damit wehtat. Und vermutlich war sie, Sophie, auch die Einzige, die wusste, dass Tessa manchmal im Schlaf nach Will rief und dass die Narbe in Tessas Hand nicht von einem versehentlichen Unfall mit einem Schürhaken stammte. Es war vielmehr eine bewusst herbeigeführte Verletzung, die sie sich zugefügt hatte, um durch schrecklichen körperlichen Schmerz einen schrecklichen emotionalen Schmerz zu überlagern – schließlich hatte es ihr fast das Herz gebrochen, dass sie Wills Liebe nicht erwidern durfte. Sophie hatte Tessa im Arm gehalten, während sie weinte und sich die Blüten in der Farbe von Wills Augen aus den Haaren riss, und Sophie hatte auch die Spuren manch schlafloser, tränenreicher Nacht mit Puder überdeckt.
Sollte sie Jem jetzt davon erzählen?, fragte sie sich. Wäre es wirklich ein Akt der Güte, ihm zu versichern: Ja, Tessa liebt Will ebenfalls. Sie hat versucht, sich diese Gefühle zu versagen, aber sie liebt ihn dennoch. Welcher Mann würde diese Worte wirklich gern über seine zukünftige Braut hören wollen?
»Miss Gray schätzt Mr Herondale sehr und sie würde ihm bestimmt nicht leichtfertig das Herz brechen«, erklärte Sophie schließlich. »Aber ich wünschte, Sie würden nicht so reden, als wäre Ihr Tod unabwendbar, Mr Carstairs. Selbst in diesem Moment haben Mrs Branwell und die anderen nicht die Hoffnung aufgegeben, doch noch ein Heilmittel zu finden. Ich denke, Sie werden mit Miss Gray bestimmt sehr alt werden und viele glückliche Jahre erleben.«
Jem lächelte auf eine Weise, als wüsste er etwas, von dem Sophie nichts ahnte. »Das ist sehr freundlich von dir, Sophie. Ich weiß, ich bin ein Schattenjäger, und wir Schattenjäger treten nicht gern aus dem Leben. Wir kämpfen bis zur letzten Minute. Schließlich stammen wir aus dem Reich der Engel – und dennoch fürchten wir es. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass man sich seinem eigenen Ende furchtlos stellen kann, ohne sich dem Tod zu beugen. Der Tod wird nie Macht über mich haben.«
Sophie musterte ihn besorgt; Jem schien wie im Fieber zu sprechen. »Mr Carstairs? Soll ich Charlotte holen?«
»Gleich, Sophie, aber…dein Gesichtsausdruck vorhin, als ich von Will und Tessa sprach …« Jem beugte sich vor. »Dann stimmt es also?«
»Was stimmt?«, fragte Sophie mit zittriger Stimme. Doch sie wusste, welche Frage er nun stellen würde, und sie konnte Jem unmöglich anlügen.
Will war schlecht gelaunt. Der Tag hatte neblig, feucht, einfach scheußlich begonnen. Er war mit einem unguten Gefühl aus unruhigem Schlaf hochgeschreckt und hatte das Frühstück aus gummiartigen Eiern mit kaltem Speck, das die Wirtin ihm im stickigen Salon serviert hatte, nur mit Mühe hinunterwürgen können. Mit jeder Faser seines Körpers hatte er sich danach gesehnt, schnell aufzubrechen und die Reise fortzusetzen.
Ständige Regengüsse hatten seine Kleidung so durchnässt, dass er nun trotz mehrerer Wärmerunen ununterbrochen zitterte. Auch Balios verabscheute den Schlamm, der an seinen Hufen sog, während sie über die durchweichte Landstraße ritten. Mürrisch fragte Will sich, wie es sein konnte, dass der Nebel sich auch von innen an seiner Kleidung absetzte und kondensierte. Wenigstens hatten sie Northamptonshire erreicht, was immerhin ein kleiner Erfolg war. Aber seit dem Morgen hatten sie nur zwanzig Meilen zurückgelegt und Will weigerte sich, eine Pause einzulegen – obwohl Balios ihm sehnsüchtige Blicke zuwarf, als sie Towcester passierten. Es schien, als würde er um eine Box in einem warmen Stall und etwas Hafer bitten. Und Will war auch fast geneigt, ihm nachzugeben: Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit hatte ihn erfasst, so kalt und unentrinnbar wie der Regen. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, über die Landstraßen zu hetzen? Glaubte er ernsthaft, er könnte Tessa auf diese Weise finden? War das nicht dumm?
Mittlerweile machte auch die umliegende Landschaft keinen allzu einladenden Eindruck mehr und der Schlamm verwandelte den steinigen Untergrund in einen tückischen Pfad. Auf einer Seite des Wegs ragte eine hohe Felswand auf und verdunkelte den Himmel, während das Gelände auf der anderen Seite steil abfiel. Am Boden der Klamm schimmerten die Fluten eines schlammigen Wildbachs. Obwohl Will die Zügel seines Pferdes in Richtung der Felswand zog, weit weg von der tiefen Schlucht, wirkte Balios dennoch nervös und scheute immer wieder vor dem steilen Abhang. Will hatte den Kragen zum Schutz gegen den Regen hochgeklappt und hielt den Kopf beim Reiten gesenkt – und nur aus diesem Grund entdeckte er den goldgrün schimmernden Gegenstand, der zwischen den Felsen am Wegesrand lag.
Im Nu brachte er Balios zum Stehen und schwang sich so schnell aus dem Sattel, dass er im Schlamm fast ausgerutscht wäre. Der Regen prasselte nun förmlich auf ihn herab, als er zur Böschung ging und sich hinkniete, um die goldene Kette zu untersuchen, die sich an einem spitzen Felsvorsprung verfangen hatte. Vorsichtig nahm Will das Schmuckstück an sich und richtete sich auf. Es handelte sich um einen kreisrunden Jadeanhänger, mit eingravierten chinesischen Schriftzeichen auf der Rückseite. Will wusste nur zu gut, was dort stand:
Doch wo zwei Menschen einig sind in ihrem innern Herzen, da brechen sie die Stärke selbst von Eisen oder Erzen.
Jems Verlobungsgeschenk an Tessa. Wills Hand schloss sich fest um den Anhänger, während er einen Moment reglos dastand. Unwillkürlich musste er an die Begegnung mit Tessa im Treppenhaus denken. Der Jadeanhänger an ihrem Hals hatte ihm wie eine brutale Erinnerung an Jem entgegengeleuchtet, als Tessa gesagt hatte: Es heißt, man könne sein Herz nicht teilen, und dennoch …
»Tessa!«, brüllte Will plötzlich laut und seine Stimme hallte von den Felswänden wider. »Tessa!«
Einen Augenblick lang stand er zitternd am Wegesrand. Was hatte er denn erwartet – etwa eine Antwort? Es war doch ziemlich unwahrscheinlich, dass Tessa hier steckte, irgendwo verborgen zwischen den Felsen. Und wie zur Bestätigung hörte Will nur das Rauschen von Wind und Regen. Dennoch wusste er ohne jeden Zweifel, dass es sich bei dem Schmuckstück um Tessas Anhänger handelte. Vielleicht hatte sie sich die Kette vom Hals gerissen und aus dem Fenster der Kutsche fallen lassen, um ihm den Weg zu zeigen, so wie Hänsel und Gretel mit Brotkrumen den Pfad durch den Wald markiert hatten. Die Tat einer Märchenbuchheldin – und deshalb etwas, das seine Tessa, ohne zu zögern, tun würde. Vielleicht fanden sich ja noch weitere Hinweise, wenn er diesem Weg folgte, überlegte Will. Und zum ersten Mal seit langer Zeit keimte Hoffnung in ihm auf.
Mit frischem Mut kehrte er zu Balios zurück und schwang sich in den Sattel. Er würde keine weiteren Pausen einlegen; bis zum Abend würden sie auf jeden Fall Staffordshire erreichen. Als Will sein Pferd wieder auf den Pfad dirigierte, ließ er die Kette in seine Manteltasche gleiten, wo die eingravierten Worte der Liebe und Hingabe wie ein Brandmal zu glühen schienen.
Nie zuvor hatte Charlotte sich derartig erschöpft gefühlt. Das Kind, das sie unter dem Herzen trug, kostete sie mehr Kraft als erwartet und außerdem war sie die Nacht über wach gewesen und den ganzen Tag hin und her gelaufen. Ihr Kleid trug Flecken von Henrys Labor und ihre Fußgelenke schmerzten vom unermüdlichen Klettern auf die Leiter in der Bibliothek. Doch als sie die Tür zu Jems Zimmer öffnete und sah, dass Jem nicht nur wach war, sondern sogar aufrecht im Bett saß und sich mit Sophie unterhielt, vergaß sie ihre Müdigkeit und strahlte vor Erleichterung übers ganze Gesicht. »James!«, rief sie. »Ich hatte mich schon gefragt…ich bin froh, dass du aufgewacht bist.«
Sophie, deren Wangen leicht gerötet waren, erhob sich sofort aus dem Sessel. »Möchten Sie, dass ich gehe, Mrs Branwell?«
»Oh ja, bitte, Sophie. Bridget hat wieder eine ihrer Anwandlungen; sie sagt, sie könne das Bang Mary nicht finden. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon sie spricht.«
Sophie hätte beinahe gelächelt – wenn ihr Herz nicht so wild geschlagen hätte, weil sie befürchtete, gerade eine schreckliche Dummheit begangen zu haben. »Das Bain-Marie«, erläuterte sie. »Ich werde es für Bridget heraussuchen.« Sie ging zur Tür, hielt einen Moment inne und warf einen schnellen Blick über die Schulter in Jems Richtung, der gegen seine Kissen lehnte und sehr bleich, aber gefasst wirkte. Bevor Charlotte noch irgendetwas sagen konnte, war Sophie jedoch schon verschwunden und Jem winkte Charlotte mit einem matten Lächeln zu sich heran.
»Charlotte, wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mir bitte meine Geige bringen?«, bat er.
»Selbstverständlich.« Charlotte ging zum Fenster, wo seine Geige in ihrem Kasten aus Palisanderholz auf einem Tisch lag, zusammen mit dem Bogen und einer kleinen, runden Dose Kolofonium. Vorsichtig hob sie das Instrument aus dem Kasten und brachte es zum Bett, woraufhin Jem ihr die Geige behutsam aus den Armen nahm. Dankbar ließ Charlotte sich in den Sessel an seinem Bett sinken. »Oh …«, murmelte sie einen Moment später. »Bitte entschuldige. Ich habe den Bogen vergessen. Wolltest du etwas spielen?«
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Jem beruhigend und zupfte sanft mit den Fingern an den Saiten, was dem Instrument gedämpft singende Töne entlockte. »Das nennt man Pizzicato – das Erste, was mein Vater mir auf der Geige beigebracht hat. Es erinnert mich an meine Kindheit.«
Eigentlich bist du noch immer ein Kind, hätte Charlotte am liebsten gerufen, doch sie schwieg. Jem fehlten nur noch wenige Wochen bis zu seinem achtzehnten Geburtstag – dem Tag, an dem alle Schattenjäger volljährig wurden. Und nur weil sie in ihm noch immer den dunkelhaarigen Jungen erkennen konnte, der vor Jahren mit blassem Gesicht, großen Augen und seiner Geige unter dem Arm aus Shanghai im Institut eingetroffen war, bedeutete das nicht, dass Jem inzwischen nicht längst erwachsen war.
Schweigend nahm sie das Kästchen mit dem Yin Fen von Jems Nachttisch und klappte es auf. Nur noch eine hauchdünne Schicht Pulver bedeckte den Boden, kaum ein Teelöffel voll. Charlotte musste gegen den Kloß ankämpfen, der sich in ihrem Hals bildete; sie klopfte das Pulver in ein Glas und goss Wasser aus einer Karaffe darüber, damit sich das Yin Fen wie Zucker auflöste. Als sie Jem das Getränk reichte, stellte er die Geige beiseite, nahm das Glas entgegen und starrte mit nachdenklichem Blick in die Flüssigkeit.
»Ist das der Rest?«, fragte er.
»Magnus arbeitet an einem Heilmittel«, versicherte Charlotte ihm. »Wir alle beschäftigen uns damit. Gabriel und Cecily sind losgezogen, um Zutaten für eine Arznei zu kaufen, die dich bei Kräften hält. Und Sophie und Gideon und ich durchforsten die gesamte Bibliothek. Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Alles.«
Jem schaute Charlotte überrascht an. »Das ist mir gar nicht bewusst gewesen.«
»Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit«, sagte Charlotte. »Wir sind doch deine Familie; wir würden alles für dich tun. Bitte gib die Hoffnung nicht auf, Jem. Ich brauche dich kräftig und willensstark.«
»Meine gesamte Kraft und Willensstärke gehören dir«, erwiderte Jem kryptisch. Dann kippte er das aufgelöste Yin Fen in einem Zug hinunter und reichte ihr das leere Glas. »Charlotte?«
»Ja?«
»Hast du die Auseinandersetzung über den Namen eures Kindes schon gewonnen?«
Charlotte musste verwundert lachen. Es erschien ihr merkwürdig, jetzt über ihr Kind nachzudenken. Aber andererseits – warum auch nicht? Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen. Der Gedanke daran war eine willkommene Abwechslung von ihrer ständigen Sorge über Jems Zustand, Tessas Entführung und Wills gefährlicher Mission. »Nein, noch nicht«, räumte sie ein. »Henry besteht noch immer auf den Namen Buford.«
»Letztendlich wirst du gewinnen«, sagte Jem. »So wie immer. Du würdest eine hervorragende Konsulin abgeben, Charlotte.«
Charlotte rümpfte die Nase. »Als Frau auf dem Posten des Konsuls? Nach all dem Ärger, den ich mit der Leitung des Instituts schon habe?!«
»Irgendjemand muss eben immer die Erste sein«, entgegnete Jem. »Natürlich ist das nicht leicht und oft auch keine dankbare Aufgabe, aber es ist wichtig.« Nachdenklich senkte er den Kopf. »Du trägst eines der wenigen Dinge in dir, die ich bedauere.«
Verwirrt schaute Charlotte ihn an.
»Ich hätte das Baby wirklich gern gesehen.«
Obwohl es sich nur um einen schlichten, leicht wehmütigen Wunsch handelte, schnitt er Charlotte wie ein Stück Glas mitten durchs Herz. Tränen schossen ihr in die Augen und liefen still die Wangen hinab.
»Charlotte«, setzte Jem an, als wollte er sie trösten. »Du hast dich immer um mich gekümmert. Und du wirst dich genauso um das Baby kümmern. Ich bin mir sicher, du wirst ihm eine wundervolle Mutter sein.«
»Du darfst jetzt nicht aufgeben, Jem«, flehte Charlotte mit erstickter Stimme. »Als man dich zu mir gebracht hat, hieß es, du hättest nur noch ein oder zwei Jahre zu leben. Und inzwischen hast du die Prognose schon um fast vier Jahre übertroffen. Bitte bleib noch ein paar Tage länger am Leben. Nur noch ein paar Tage. Tu es mir zuliebe.«
Jem betrachtete sie nachdenklich, fast zärtlich. »Ich habe dir zuliebe gelebt … dann Will und schließlich auch Tessa zuliebe – und auch mir selbst zuliebe, denn ich wollte mit ihr zusammen sein. Aber ich kann nicht ewig anderen Leute zuliebe weiterleben. Niemand kann behaupten, dass der Tod in mir einen willigen Gefährten gefunden hat oder dass ich leichten Herzens aus dieser Welt scheide. Wenn du sagst, dass du mich brauchst, werde ich für dich da sein – solange wie es mir möglich ist. Ich werde für dich und deine Lieben leben und gegen den Tod ankämpfen, bis nichts mehr von mir übrig ist. Aber das wäre nicht das, was ich mir wünsche.«
»Aber …« Charlotte schaute ihn zögernd an. »Aber was würdest du dir denn wünschen?«
Jem schluckte und strich mit der Hand über seine Geige, die neben ihm stand. »Ich habe eine Entscheidung getroffen«, sagte er. »Ich habe sie getroffen, als ich Will aufgefordert habe, Tessa nachzureiten.« Einen Moment senkte er den Kopf, dann blickte er wieder auf und heftete seine blassen, umschatteten Augen auf Charlottes Gesicht, als versuchte er, es ihr begreiflich zu machen. »Ich möchte, dass die Suche eingestellt wird«, sagte er. »Ich weiß von Sophie und von dir, dass die anderen sich noch immer um ein Heilmittel bemühen. Und ich weiß auch, dass ich Will mein Einverständnis dazu gegeben habe. Aber ich möchte, dass ihr die Suche nicht weiter fortsetzt, Charlotte. Es ist vorbei.«
Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, als Cecily und Gabriel zum Institut zurückkehrten. Für Cecily war es ein völlig neuartiges Erlebnis gewesen, mit jemand anderes als Will oder Charlotte durch London zu streifen. Und sie hatte mit Erstaunen bemerkt, als welch angenehmer Begleiter Gabriel Lightwood sich entpuppte. Er hatte sie zum Lachen gebracht, auch wenn sie sich große Mühe gab, das vor ihm zu verbergen. Und er hatte liebenswürdigerweise sämtliche Päckchen getragen, obwohl sie fest damit gerechnet hatte, dass er sich dagegen wehren würde, wie ein geplagter Lakai behandelt zu werden.
Zugegeben, vermutlich hätte er diesen Nachtelben wirklich nicht durch die Schaufensterscheibe und anschließend in den Limehouse-Kanal werfen sollen. Aber sie konnte ihm das kaum zum Vorwurf machen. Denn sie wusste ganz genau: Gabriel hatte die Beherrschung nicht deshalb verloren, weil der Satyr ihr unschickliche Bilder gezeigt hatte, sondern weil er die Erinnerung an seinen Vater geweckt hatte.
Seltsam, wie wenig Gabriel seinem Bruder ähnelte, überlegte Cecily, während sie die Institutstreppe hinaufstiegen. Sie hatte Gideon zwar seit ihrer Ankunft in London gemocht, fand ihn aber ein wenig still und sehr zurückhaltend. Er redete kaum, und obwohl er Will manchmal bei ihrem Training aushalf, wirkte er allen gegenüber distanziert und nachdenklich – mit Ausnahme von Sophie. In ihrer Gegenwart sah man seinen wachen Geist aufblitzen. Denn er besaß einen sehr trockenen Humor und eine scharfe Beobachtungsgabe, die wunderbar zu seinem ruhigen Naturell passten.
Aus den wenigen Informationen, die Cecily den Gesprächen mit Tessa, Will und Charlotte entnommen hatte, hatte sie sich ein Bild von der Geschichte der Familie Lightwood gemacht. Und allmählich verstand sie auch, warum Gideon so still war. In gewisser Hinsicht hatte er genau wie Will und sie selbst der eigenen Familie den Rücken gekehrt und trug nun die Narben dieses Verlusts. Gabriels Entscheidung ließ sich damit nicht vergleichen: Er war bei seinem Vater geblieben und hatte den langsamen Verfall von dessen Körper und Geist miterlebt. Was war ihm dabei wohl durch den Kopf gegangen? An welchem Punkt hatte er erkannt, dass er die falsche Entscheidung getroffen hatte?, fragte Cecily sich.
Im nächsten Moment öffnete Gabriel die Institutstür, und als sie die Eingangshalle betraten, schallte ihnen aus dem ersten Geschoss Bridgets Stimme entgegen:
»Siehst du nicht dort den engen
Pfad,
Wo Dorn und Unkraut wachsen dicht?
Das ist der Pfad der Redlichkeit,
Ob viele, traun! ihn suchen nicht.
Siehst du nicht jenen breit
breiten Weg,
Durch Lilienblumen führt er hin?
Das ist der Sünden eb’ner Pfad,
Ob manche den Himmelsweg nennen ihn.«
»Sie singt«, bemerkte Cecily und erklomm die erste Stufe. »Schon wieder.«
Gabriel, der geschickt die Päckchen balancierte, schnaubte gleichmütig. »Ich sterbe vor Hunger. Ob sie mir wohl etwas Brot und kaltes Huhn gibt, wenn ich ihr sage, dass mir ihre Lieder nicht auf die Nerven gehen?«
»Ihre Lieder gehen jedem auf die Nerven.« Cecily warf Gabriel einen Seitenblick zu. Sein Bruder mochte zwar gut aussehen, aber Gabriels Gesicht hatte markante Züge, die Cecily für wesentlich eleganter hielt. »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte sie unvermittelt.
»Was ist nicht meine Schuld?«
Inzwischen hatten sie die Treppe vom Erdgeschoss zum ersten Stock erklommen und gingen durch den Korridor, der Cecily recht dunkel erschien. Die Elbenlichter brannten offenbar auf kleinster Stufe. Aus der Küche drang weiterhin Bridgets Gesang zu ihnen:
»Es war dunkle Nacht und kein
Stern entfacht,
Und sie tauchten in Blut bis zum Knie allfort,
Denn alles auf Erden vergossene Blut
Rinnt durch Bäch’ und Quellen im Lande dort.«
»Das mit Ihrem Vater«, erklärte Cecily.
Gabriels Kiefermuskeln spannten sich an und einen Moment lang rechnete Cecily mit einer scharfen Entgegnung. Stattdessen erwiderte er nur: »Möglicherweise war es meine Schuld, möglicherweise auch nicht. Aber ich hatte mich dafür entschieden, die Augen vor seinen Verbrechen zu verschließen. Ich habe an ihn geglaubt, als das ganz offensichtlich ein Fehler war, und er hat den Namen unserer Familie in den Schmutz gezogen.«
Cecily schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte, die Nephilim seien alle Monster, die meinen Bruder entführt hatten. Ich habe fest daran geglaubt, weil meine Eltern fest daran geglaubt haben. Aber sie haben sich geirrt. Und wir sind nicht unsere Eltern, Gabriel: Wir müssen nicht die Bürde ihrer Entscheidungen oder ihrer Sünden tragen. Sie können dem Namen der Familie Lightwood wieder neuen Glanz verleihen.«
»Genau das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir«, erwiderte Gabriel bitter. »Sie haben sich freiwillig dafür entschieden hierherzukommen. Aber ich wurde aus meinem Elternhaus vertrieben – gejagt von einem Monster, das mal mein Vater war.«
»Nun ja«, bemerkte Cecily gutmütig, »aber doch nicht den ganzen Weg hierher. Nur bis Chiswick, oder?«
»Was …?«
Cecily lächelte ihn an. »Ich bin Will Herondales Schwester. Sie können nicht von mir erwarten, dass ich die ganze Zeit todernst bin.«
Das Mienenspiel, das Gabriel bei diesen Worten bot, war so komisch, dass Cecily leise lachen musste. Und sie kicherte noch immer, als Gabriel kurz darauf die Bibliothekstür aufdrückte und sie gemeinsam eintraten. Doch dann blieben beide wie angenagelt stehen.
Charlotte, Henry und Gideon saßen an einem der langen Tische. Magnus stand etwas weiter entfernt am Fenster, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Seine Haltung wirkte steif und unbehaglich. Henry sah bleich und erschöpft aus, Charlottes Gesicht war tränenüberströmt und Gideons Miene eine starre Maske.
Das Lachen erstarb Cecily auf den Lippen. »Was ist passiert? Habt ihr eine Nachricht erhalten? Ist Will …?«
»Es geht nicht um Will«, sagte Charlotte. »Es betrifft Jem.«
Mit einer Mischung aus Erleichterung und schlechtem Gewissen biss Cecily sich auf die Lippe und ihr Puls beruhigte sich wieder. Ihr erster Gedanke hatte ihrem Bruder gegolten, aber natürlich schwebte sein Parabatai in viel akuterer Gefahr. »Jem?«, brachte sie leise hervor.
»Er lebt noch«, beantwortete Henry ihre unausgesprochene Frage.
»Na ja, dann. Wir haben alles besorgt«, verkündete Gabriel und legte sämtliche Päckchen auf den Tisch. »Alles, was Magnus uns aufgeschrieben hatte – die Damiana-Blätter, die Wassernüsse …«
»Danke«, sagte Magnus vom Fenster aus, ohne sich jedoch umzudrehen.
»Ja, euch beiden vielen Dank«, pflichtete Charlotte ihm bei. »Ihr habt alles getan, worum ich euch gebeten habe, und dafür bin ich euch dankbar. Aber ich fürchte, eure Bemühungen waren vergebens.« Sie schaute auf die Päckchen und blickte dann wieder auf. Es war offensichtlich, dass die Worte sie große Mühe kosteten: »Jem hat eine Entscheidung getroffen. Er möchte, dass wir die Suche nach einem Heilmittel einstellen. Er hat den letzten Rest des Yin Fen eingenommen; seine Vorräte sind damit vollständig aufgebraucht. Jetzt ist es nur noch eine Frage von Stunden … Ich habe bereits nach den Brüdern der Stille geschickt. Es wird Zeit, sich zu verabschieden.«
Im Fechtsaal war es dunkel; nur etwas Mondlicht fiel durch die hohen Fenster herein und warf lange Schatten auf den Parkettboden. Cecily saß auf einer der abgenutzten Holzbänke und starrte auf das Muster, das der Mond auf die Dielen vor ihr malte.
Ihre rechte Hand spielte unruhig mit dem roten Anhänger an ihrer Kehle und sie musste unwillkürlich an ihren Bruder denken. Ihr Körper war hier im Institut, aber ihre Gedanken waren bei Will: auf dem Rücken seines Pferdes, tief gegen den Wind gebeugt, während er wie der Teufel über die Straßen ritt, die London von Dolgellau trennten. Cecily fragte sich, ob er Angst hatte. Und ob sie ihn wohl jemals wiedersehen würde.
Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als die Tür quietschend aufschwang. Ein langer Schatten fiel auf den Boden, und als Cecily aufschaute, entdeckte sie Gabriel Lightwood, der sie überrascht anblinzelte.
»Sie verstecken sich hier, stimmt’s?«, fragte er. »Das ist…schade.«
»Wieso?«, hakte Cecily nach und wunderte sich über ihre eigene Stimme, die ganz normal, fast schon ruhig klang.
»Weil ich mich ebenfalls hier verstecken wollte.«
Cecily schwieg einen Moment. Gabriel machte einen verunsicherten Eindruck – eigentlich ungewöhnlich, da er sonst immer so selbstsicher wirkte. Auch wenn dieses Selbstvertrauen leichter zu erschüttern schien als das seines Bruders. In der Dunkelheit konnte Cecily die Farbe seiner Augen und Haare nicht ausmachen, aber dadurch sah sie zum ersten Mal die Ähnlichkeit zwischen Gabriel und Gideon: derselbe entschlossene Zug um den Mund, dieselben weit auseinanderliegenden Augen und dieselbe wachsame Haltung. »Wenn Sie wollen, können Sie sich hier mit mir zusammen verstecken«, schlug sie vor.
Gabriel nickte und durchquerte den Raum, setzte sich jedoch nicht neben Cecily, sondern ging zum Fenster und schaute hinaus. »Die Kutsche der Stillen Brüder ist da«, bemerkte er.
»Ja«, bestätigte Cecily. Sie wusste aus dem Codex, dass die Brüder der Stille die Ärzte und Priester der Schattenjäger waren und dass man sie nicht nur am Kindsbett, sondern auch am Krankenbett erwarten durfte – und natürlich am Sterbebett. »Ich habe überlegt, ob ich Jem noch einmal besuchen soll. Will zuliebe. Aber ich … bringe es einfach nicht fertig. Ich bin ein Feigling«, fügte sie nachdenklich hinzu – eine Aussage, die sie vorher nie über sich selbst getroffen hätte.
»Dann bin ich auch ein Feigling«, meinteGabriel. Der Mond beleuchtete nur eine Hälfte seines Gesichts, wodurch es so aussah, als würde er eine Halbmaske tragen. »Ich bin hier heraufgekommen, um allein zu sein … und um mich von den Stillen Brüder fernzuhalten, denn ehrlich gesagt, jagt mir ihr Anblick immer wieder einen Schauer über den Rücken. Ich dachte, ich könnte vielleicht eine Patience legen. Wenn Sie wollen, können wir aber auch gemeinsam Karten spielen.« »So wie Pip und Estella in Große Erwartungen«, sagte Cecily leicht amüsiert. »Nein, tut mir leid – ich kenne kein einziges Kartenspiel. Meine Mutter hat versucht, Karten und Ähnliches vom Haus fernzuhalten, weil mein Vater … eine besondere Schwäche dafür hatte.« Nachdenklich betrachtete sie Gabriel. »In mancher Hinsicht sind wir uns tatsächlich sehr ähnlich: Unsere Brüder sind beide fortgegangen, sodass wir ohne Geschwister allein zurückgeblieben sind, mit einem Vater, dessen Zustand sich von Tag zu Tag verschlechterte. Nach Ellas Tod und Wills Flucht war mein Vater eine Weile von allen guten Geistern verlassen. Er hat Jahre gebraucht, um sich von diesen Schlägen zu erholen – und in der Zwischenzeit haben wir unser Zuhause verloren. Genau wie Sie Lightwood House verloren haben.«
»Lightwood House hat man uns weggenommen«, erwiderte Gabriel mit einem plötzlichen Anflug von Bitterkeit. »Aber um ehrlich zu sein, bin ich darüber nicht nur traurig: Meine Erinnerungen an diesen Ort …« Er schauderte. »Mein Vater hatte sich zwei Wochen lang in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Ich hätte viel eher herkommen und um Hilfe bitten sollen, aber ich war zu stolz. Ich wollte mir und Gideon gegenüber nicht eingestehen müssen, dass ich mich in unserem Vater geirrt hatte. In diesen zwei Wochen habe ich kaum ein Auge zugemacht. Wieder und wieder habe ich gegen die Tür gehämmert und meinen Vater angefleht, endlich herauszukommen oder mit mir zu reden, aber aus dem Raum hörte ich nur unmenschliche Geräusche. Daraufhin habe ich nachts meine Tür verriegelt … und am nächsten Morgen Blut auf der Treppe gefunden. Ich habe mir einzureden versucht, die Dienstboten seien bestimmt geflohen, doch im Grunde wusste ich es besser. Und um auf Ihre Bemerkung zurückzukommen: Nein, Cecily, wir sind uns nicht sehr ähnlich, denn Sie sind freiwillig gegangen. Sie waren mutig. Ich bin dagegen geblieben, bis ich keine andere Wahl mehr hatte. Ich bin geblieben, obwohl ich wusste, dass das falsch war.«
»Sie sind ein Lightwood«, widersprach Cecily. »Sie sind aus Loyalität zu Ihrer Familie geblieben. Das kann man nicht als Feigheit bezeichnen.«
»Wirklich nicht? Ist Loyalität auch dann noch eine lobenswerte Eigenschaft, wenn sie unangebracht ist?«
Cecily öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Gabriel musterte sie eindringlich; seine Augen funkelten im Mondlicht. Er schien fast verzweifelt auf ihre Antwort zu warten und sie fragte sich, ob er sonst überhaupt irgendjemanden zum Reden hatte. Denn sie konnte sich gut vorstellen, dass er sich mit seinen moralischen Bedenken ungern an seinen Bruder wandte. Gideon wirkte so unerschütterlich, als hätte er sich in seinem ganzen Leben kein einziges Mal hinterfragt und als könnte er für diejenigen, die Zweifel an sich hatten, kaum Verständnis aufbringen.
»Ich denke«, setzte Cecily an und wählte ihre Worte mit Bedacht, »dass jede gute Regung zu etwas Bösem verbogen werden kann. Sehen Sie sich doch nur mal den Magister an. Er handelt aufgrund seines Hasses auf die Schattenjäger, aus Loyalität gegenüber seinen Eltern, die ihn geliebt haben und getötet wurden. Das ist zwar nicht vollkommen unverständlich … aber dennoch keine Entschuldigung für seine Taten. Ich glaube, wenn wir eine Entscheidung treffen – und jede unserer Entscheidungen fällt unabhängig von unseren zuvor getroffenen Entscheidungen aus –, müssen wir nicht nur unsere Gründe hinterfragen, sondern auch überlegen, welche Konsequenzen damit verbunden sind und ob vielleicht anständige Menschen unter dieser Entscheidung zu leiden haben werden.«
Einen Moment herrschte Stille im Raum. Dann meinte Gabriel: »Sie sind sehr weise, Cecily Herondale.«
»Sie sollten sich nicht allzu viele Gedanken über die Entscheidungen machen, die Sie in der Vergangenheit getroffen haben, Gabriel«, sagte sie. »Sorgen Sie nur dafür, dass Sie in Zukunft die richtigen treffen. Wir sind jederzeit in der Lage, uns zu verändern und unserem besseren Ich näher zu kommen.«
»Das wäre aber nicht das Ich, das mein Vater von mir erwartet hätte«, gab Gabriel zu bedenken. »Trotz allem muss ich feststellen, dass ich die Hoffnung auf seine Anerkennung nur widerstrebend aufgebe.«
Cecily seufzte. »Wir können uns nur darum bemühen, unser Bestes zu tun, Gabriel. Ich selbst habe lange versucht, das Kind zu sein, das meine Eltern sich wünschten – die Dame, die ich ihrer Erwartung nach hätte sein sollen. Und ich bin von zu Hause fortgegangen, um Will zurückzuholen, weil ich dachte, das sei das Richtige für ihn und meine Eltern. Denn ich wusste, wie sehr es sie bekümmerte, dass er einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Aber dieser Weg ist genau der richtige für Will, auch wenn er auf Umwegen dorthin gelangt ist. Es ist sein Weg. Sie brauchen nicht den Weg einzuschlagen, den Ihr Vater gewählt hätte oder den Ihr Bruder möglicherweise wählt. Sie können der Schattenjäger sein, der Sie sein möchten.«
Gabriel klang sehr jung, als er entgegnete: »Woher wissen Sie denn, dass ich die richtige Entscheidung treffen werde?«
Aus dem Innenhof drang das Klappern von Hufen zu ihnen herauf. Die Brüder der Stille verließen das Institut. Jem, dachte Cecily mit einem Stich im Herzen. Ihr Bruder hatte ihn immer als eine Art Nordstern betrachtet – als einen Kompass, der unerschütterlich zur richtigen Entscheidung zeigte. Bisher hatte Cecily eigentlich nie gedacht, dass Will im Leben besonders viel Glück gehabt hatte; auch die aktuellen Ereignisse sprachen nicht dafür, und dennoch…Dennoch hatte Will in gewisser Hinsicht großes Glück gehabt. Denn er hatte einen Menschen gehabt, an den er sich immer hatte wenden können und bei dem er sich nicht ständig sorgen musste, vielleicht zu einem falschen Stern aufzublicken.
Cecily räusperte sich und versuchte, ihre Stimme möglichst fest und entschlossen klingen zu lassen – um ihrer beider willen. »Vielleicht, Gabriel Lightwood, habe ich ja großes Vertrauen zu Ihnen.«