FÜRCHTE DIE DUNKLE NACHT
Wenn meine Seel in
Finsternis auch schwebt,
Zu neuem Licht sie sich schon bald
erhebt;
Zu sehr liebt’ ich der Sterne
Wacht,
als dass ich fürchte die dunkle Nacht.
SARAH WILLIAMS, »DER ALTE ASTRONOM«
»Will?«
Nachdem Will so lange in Grabesstille dagesessen hatte, die nur von Jems schwerem, unregelmäßigem Atem unterbrochen worden war, dachte er einen Augenblick lang, er hätte Wahnvorstellungen und würde sich die Stimme seines besten Freundes, die aus dem Halbdunkel mit ihm sprach, nur einbilden. Als Jem sein Handgelenk freigab, sank Will zurück in den Sessel am Bett. Sein Herz schlug wie wild, mit einer Mischung aus Erleichterung und mulmiger Furcht.
Jem drehte den Kopf auf dem Kissen und schaute in Wills Richtung. Seine Augen waren dunkel, ihr Silberton von der schwarzen Pupille verdrängt. Ein paar Sekunden lang sahen die beiden jungen Männer einander nur an. Der Moment fühlte sich an wie die Ruhe, die ihn während jedes Kampfes überkam, dachte Will, sobald sich die Gedanken in Luft auflösten und einem Gefühl der Unabwendbarkeit wichen.
»Will«, sagte Jem erneut, musste dann jedoch husten und hielt sich eine Hand vor den Mund. Als er sie wieder herunternahm, schimmerte Blut an seinen Fingern. »Habe ich … habe ich das geträumt?«
Ruckartig setzte Will sich auf. Jem hatte so klar, so sicher geklungen: Was hat Magnus gemeint, als er dich gefragt hat, ob ich wüsste, dass du Tessa liebst? Doch jetzt schien es, als sei dieser Anflug von Kraft und Energie wieder verflogen, denn er machte einen benommenen, verwirrten Eindruck.
Hatte Jem wirklich gehört, was Magnus gesagt hatte? Und falls ja, bestand möglicherweise die Chance, das Ganze als einen Fiebertraum, eine Halluzination abzutun? Der Gedanke erfüllte Will mit Erleichterung und Enttäuschung zugleich. »Was hast du geträumt?«, fragte er.
Nachdenklich betrachtete Jem seine blutbeschmierte Hand und ballte sie langsam zur Faust. »Der Kampf im Innenhof. Jessamines Tod. Und diese Automaten … Sie haben Tessa verschleppt, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Will leise und wiederholte die Worte, die Charlotte Stunden zuvor ihm gegenüber geäußert hatte. Sie hatten ihn nicht trösten können, aber vielleicht halfen sie ja Jem. »Ja, das ist richtig. Aber ich glaube nicht, dass sie ihr etwas antun werden. Vergiss nicht, dass Mortmain Tessa immer unversehrt in seine Gewalt bringen wollte.«
»Wir müssen sie finden. Das weißt du ganz genau, Will. Wir müssen …« Jem versuchte, sich aus den Kissen hochzudrücken und aufzusetzen, und musste sofort erneut husten. Blut sprühte auf die weiße Bettdecke. Will hielt Jems hagere, bebenden Schultern, bis der Hustenanfall ihn nicht länger quälte. Dann nahm er einen feuchten Lappen vom Nachttisch und machte sich daran, das Blut von Jems Händen zu entfernen. Als er ihm auch die Blutspritzer im Gesicht abwischen wollte, entwand Jem ihm den Lappen mit sanftem Druck und musterte ihn ernst. »Ich bin kein kleines Kind, Will.«
»Ich weiß.« Will ließ die Hände sinken. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, sie zu waschen, sodass sich nun Jessamines getrocknetes Blut mit Jems frischen Blutstropfen auf seinen Fingern mischte.
Jem holte tief Luft. Dann warteten beide, ob dadurch möglicherweise ein weiterer Hustenanfall provoziert wurde. Als Jem aber ruhig weiteratmen konnte, fragte er: »Magnus hat gesagt, dass du Tessa liebst – stimmt das?«
»Ja«, bestätigte Will. Dabei hatte er das Gefühl, von einer hohen Klippe zu stürzen. »Ja, das stimmt.«
Im Halbdunkel weiteten sich Jems Augen und begannen zu funkeln. »Und liebt sie dich?«
»Nein.« Wills Stimme brach. »Ich habe ihr gesagt, dass ich sie liebe, aber sie hat keine einzige Sekunde geschwankt: Sie liebt nur dich.«
Jems Hände, deren Finger sich in die Bettdecke gekrallt hatten, entspannten sich etwas. »Du hast ihr also gesagt«, wiederholte er, »dass du sie liebst.«
»Jem …«
»Wann war das? Und welche tiefe Verzweiflung hat dich dazu getrieben?«
»Ich habe es ihr gesagt, bevor ich von eurer Verlobung wusste. An dem Tag, an dem ich erfuhr, dass auf mir doch kein Fluch lastete«, erzählte Will stockend. »Ich bin zu Tessa gegangen und habe ihr meine Liebe gestanden. Aber sie hat mir so behutsam wie möglich klargemacht, dass sie dich liebt – und nicht mich. Und dass ihr beide verlobt seid.« Will senkte den Blick. »Ich weiß nicht, ob das für dich irgendeine Rolle spielt, James, aber ich hatte wirklich keine Ahnung, dass Tessa dir etwas bedeutet. Ich war viel zu sehr mit meinen eigenen Gefühlen beschäftigt.«
Jem biss sich auf die Unterlippe, sodass seine weiße Haut etwas Farbe erhielt. »Bitte verzeih mir diese Frage – aber handelt es sich vielleicht nur um eine vorübergehende Schwärmerei, um ein schnell verfliegendes Strohfeuer …?« Er verstummte, als sein Blick auf Wills Gesicht fiel. »Nein«, murmelte Jem. »Ich sehe schon, dass das nicht der Fall ist.«
»Ich liebe sie so sehr, dass ich mir geschworen habe … Als sie mir versicherte, dass sie mit dir glücklich werden würde, da habe ich mir geschworen, nie wieder von meinen Gefühlen für sie zu sprechen und meine Zuneigung weder durch Worte noch durch Gesten oder Taten zu zeigen, um ihr Glück nicht zu gefährden. An meinen Gefühlen hat sich nichts geändert, aber ihr liegt mir beide so sehr am Herzen, dass ich kein Wort darüber verloren hätte, um das, was ihr gefunden habt, nicht in Gefahr zu bringen«, sprudelte Will nun hastig hervor, denn es erschien ihm nutzlos, sich noch länger zurückzuhalten. Wenn Jem ihn schon hassen würde, dann sollte er ihn wenigstens um der Wahrheit willen hassen und nicht wegen einer Lüge.
Jem musterte Will zutiefst betroffen. »Es tut mir so leid, Will. So unendlich leid. Ich wünschte, ich hätte davon gewusst …«
Will sackte in seinem Sessel zusammen. »Was hättest du denn tun können?«
»Ich hätte die Verlobung aufheben können …«
»Um damit euch beiden das Herz zu brechen? Was hätte mir das nutzen sollen? Du bist für mich wie eine Hälfte meiner Seele, Jem. Ich könnte nicht glücklich sein, solange du unglücklich bist. Und Tessa … liebt dich. Was wäre ich für ein schreckliches Monster, wenn ich glücklich dabei wäre, ausgerechnet den beiden Menschen, die ich am meisten liebe, furchtbaren Kummer zu bereiten? Nur weil ich dann möglicherweise die Genugtuung hätte zu wissen: Wenn ich Tessa schon nicht haben kann, dann kann sie auch niemand anderes haben?«
»Aber du bist mein Parabatai. Wenn du leidest, möchte ich dir helfen …«
»Das hier … das ist das Einzige, bei dem du mich nicht trösten kannst«, sagte Will.
Jem schüttelte den Kopf. »Wie konnte ich das nur übersehen? Dabei habe ich dir noch gesagt, dass mir auffällt, wie die Mauer um dich herum allmählich Risse bekommt. Und ich dachte…ich dachte, ich würde den Grund dafür kennen. Natürlich war mir immer klar, dass du eine schwere Last mit dir herumgetragen hast, und ich wusste, dass du Magnus aufgesucht hattest. Also dachte ich, dass du vielleicht Gebrauch von seinen magischen Fähigkeiten gemacht und dich von einer eingebildeten Schuld befreit hättest. Aber wenn ich auch nur geahnt hätte, dass dies alles mit Tessa zusammenhing, dann hätte ich ihr meine Gefühle niemals offenbart. Das weißt du doch, Will.«
»Woher hättest du das denn ahnen sollen?« Obwohl Will noch immer elend zumute war, fühlte er sich gleichzeitig wie befreit, als hätte man ihm eine schwere Last von den Schultern genommen. »Schließlich habe ich alles dafür getan, meine Gefühle zu verbergen. Du dagegen … du hast deine Gefühle nie versteckt. Rückblickend weiß ich, dass im Grunde alles klar und offensichtlich war, trotzdem habe ich es nicht wahrgenommen. Ich war völlig überrascht, als Tessa mir von eurer Verlobung erzählte. Du bist in meinem Leben immer die Ursache für Gutes und Schönes gewesen, James. Ich hätte nie geglaubt, dass du auch einmal die Ursache schrecklicher Schmerzen sein könntest. Deshalb habe ich ungerechterweise nie über deine Gefühle nachgedacht. Das ist auch der Grund dafür, warum ich so blind gewesen bin.«
Jem schloss die Augen. Seine Lider waren so dünn wie Pergament und schimmerten bläulich. »Dein Unglück macht mich sehr traurig«, sagte er. »Aber ich bin froh, dass du sie liebst.«
»Du bist froh?«
»Ja, denn das macht die Sache einfacher«, bestätigte Jem. »Es erleichtert mir meine Bitte an dich: Geh und finde Tessa.«
»Was, jetzt? Einfach so?«
Unfassbarerweise brachte Jem ein Lächeln zustande. »Hattest du das nicht gerade ohnehin vor, als ich deine Hand genommen und dich zurückgehalten habe?«
»Aber … Ich war nicht davon ausgegangen, dass du noch einmal zu Bewusstsein kommen würdest. Jetzt sieht die Situation völlig anders aus: Ich kann nicht einfach gehen und dich deinem Schicksal überlassen …«
Jem hob die Hand und einen Moment dachte Will, er würde nach seiner Hand greifen. Stattdessen krallte Jem seine Finger in Wills Ärmel. »Du bist mein Parabatai«, stieß er hervor. »Du hast gesagt, ich könnte alles von dir verlangen.«
»Aber ich habe geschworen, bei dir zu bleiben. ›Nur der Tod soll mich und dich scheiden …‹«
»Der Tod wird uns scheiden.«
»Du weißt doch, dass diese Worte aus einem längeren Abschnitt stammen«, sagte Will. »›Dringe nicht in mich, dass ich dich verlassen und umkehren und dir nicht folgen soll! Denn wo du hingehst, da gehe ich hin.‹«
Doch Jem bäumte sich auf und brüllte mit letzter Kraft: »Du kannst aber nicht da hingehen, wo ich hingehe! Und das würde ich auch gar nicht wollen!«
»Ich kann aber auch nicht fortgehen und dich allein sterben lassen!«
Da. Will hatte es ausgesprochen, hatte das Wort gesagt, die Möglichkeit eingeräumt. Sterben.
»Mit dieser Aufgabe kann niemand anderes betraut werden.« Jems Augen funkelten fiebrig, fast wild. »Meinst du etwa, ich wüsste nicht, dass niemand Tessa retten wird, wenn du es nicht tust? Glaubst du ernsthaft, es bricht mir nicht das Herz, dass ich nicht selbst gehen kann – oder zumindest mit dir zusammen?« Er zog Will zu sich heran. Seine Haut war so bleich wie das Milchglas eines Lampenschirms, und genau wie bei einer solchen Lampe schien auch von ihm ein Licht auszugehen, das tief aus seinem Inneren strahlte. »Nimm meine Hände, Will.«
Wie betäubt schloss Will seine Finger um Jems. Er glaubte, einen heftigen Stich in der Parabatairune auf seiner Brust zu spüren, als wüsste dieses Runenmal etwas, das er nicht wusste, und als würde es ihn vor einem bevorstehenden Schmerz warnen – einem Schmerz, der so groß sein würde, dass Will sich nicht vorstellen konnte, wie er ihn jemals ertragen und überleben sollte. Jem ist mein schweres Vergehen, hatte er Magnus einmal gesagt – und das hier war nun die Strafe dafür. Er hatte immer angenommen, Tessas Verlust sei die Strafe, die ihm auferlegt worden war, aber er hatte nie darüber nachgedacht, wie es sein würde, beide zu verlieren.
»Will«, setzte Jem an. »In all den Jahren habe ich dir etwas zu geben versucht, was du dir nicht selbst geben konntest.«
Wills Hände umfassten Jems Finger fester, die so dünn waren wie ein Reisigbündel. »Und das wäre?«
»Glauben«, sagte Jem. »Den Glauben daran, dass du besser bist, als du immer gedacht hast. Und Vergebung, denn du musst dich nicht immer selbst bestrafen. Ich habe dich immer geliebt, Will, ganz egal was du getan hast. Jetzt brauche ich dich, damit du für mich etwas tust, was ich nicht selbst tun kann: Sei meine Augen, wenn ich keine mehr habe. Sei meine Hände, wenn ich meine nicht mehr nutzen kann. Sei mein Herz, wenn meines nicht länger schlägt.«
»Nein!«, protestierte Will heftig. »Nein, nein, nein! Ich werde nichts dergleichen tun. Deine Augen werden sehen, deine Hände werden fühlen und dein Herz wird weiterschlagen.«
»Aber was, wenn nicht, Will …«
»Wenn ich mich halbieren könnte, würde ich das sofort tun – damit eine Hälfte von mir hier bei dir bleiben und die andere Tessa nachsetzen könnte …«
»Jeweils nur eine Hälfte von dir würde keinem von uns beiden nutzen«, erwiderte Jem. »Es gibt sonst niemand anderes, dem ich Tessas Verfolgung anvertrauen könnte; niemanden, der – so wie ich – sein Leben für ihre Rettung geben würde. Selbst wenn ich nichts von deinen Gefühlen gewusst hätte, ich hätte dich auf jeden Fall gebeten, diesen Auftrag für mich zu übernehmen. Aber jetzt, da ich sicher weiß, dass du sie so sehr liebst wie ich … Will, ich vertraue dir mehr als jedem anderen und glaube fester an dich als an jeden anderen, denn ich weiß, dass dein Herz in dieser Angelegenheit immer mit meinem eins sein wird. Wo men shi jie bai xiong di – wir sind mehr als nur Brüder, Will. Unternimm diese Reise, denn du unternimmst sie nicht nur für dich, sondern für uns beide.«
»Ich kann dich nicht hier zurücklassen, damit du dem Tod allein gegenübertrittst«, wisperte Will, doch er wusste, dass er geschlagen war – die Sanduhr seiner Willenskraft war abgelaufen.
Jem berührte die Parabatairune auf seiner Schulter durch den dünnen Stoff seines Nachtgewands. »Ich bin nicht allein«, sagte er. »Wo auch immer wir sind, wir sind eins.«
Langsam erhob Will sich aus dem Sessel. Er konnte nicht fassen, was er gerade tat, aber es bestand kein Zweifel daran. »Wenn es ein Leben nach diesem hier geben sollte«, sagte er, »dann lass mich dich dort wiedertreffen, James Carstairs.«
»Es wird andere Leben geben.« Jem streckte seine Hand aus und einen Moment hielten sich die beiden jungen Männer fest an den Händen – wie damals während ihres Parabatai-Rituals, als sie über zwei Feuerkreise hinweg die Finger miteinander verschränkt hatten. »Die Welt ist ein Rad«, fuhr Jem fort. »Ob wir nun steigen oder fallen, wir tun es gemeinsam.«
Will fasste noch fester Jems Hand. »Also gut«, brachte er mit erstickter Stimme hervor, »wenn es für mich, wie du sagst, wirklich noch andere Leben geben wird, dann können wir nur beten, dass ich daraus nicht einen ebenso großen Schlamassel mache wie aus diesem hier.«
Bei diesen Worten schenkte Jem seinem Freund ein Lächeln – jenes Lächeln, das Will immer, selbst an seinen schwärzesten Tagen, hatte aufheitern können. »Ich denke, für dich besteht durchaus noch Hoffnung, Will Herondale.«
»Ich werde wohl allein lernen müssen, wie man hofft … ohne dich, der es mir zeigen könnte.«
»Tessa …«, setzte Jem an. »Tessa kennt Verzweiflung und sie weiß auch, was Hoffnung ist. Ihr könnt es euch gegenseitig beibringen. Finde sie, Will, und sage ihr, dass ich sie immer geliebt habe. Nur damit du es weißt: Mein Segen begleitet euch beide.«
Die beiden Schattenjäger schauten sich fest in die Augen und hielten den Blickkontakt. Will brachte es nicht übers Herz, Auf Wiedersehen zu sagen oder überhaupt irgendetwas zu sagen. Er drückte Jems Hand ein letztes Mal, gab sie dann frei, drehte sich um und marschierte zur Tür hinaus.
Die Pferde waren in den Stallungen hinter dem Institut untergebracht – Cyrils Reich, in das sich die anderen nur selten verirrten. Bei dem Gebäude hatte es sich ursprünglich um ein altes Pfarrhaus gehandelt, mit einem unebenen, jedoch sorgfältig gefegten Steinboden. Entlang der Außenwand war eine Reihe von Pferdeboxen errichtet worden, von denen allerdings nur zwei besetzt waren: In der einen stand Balios und in der anderen Xanthos. Beide schliefen und nur ihre Schweife zuckten leicht im Traum. Frisches Heu türmte sich in den Futtertrögen und an den Wänden hingen Sattel- und Zaumzeug, alles auf Hochglanz poliert. Falls er von dieser Mission lebend zurückkehren sollte, so nahm Will sich vor, würde er dafür sorgen, dass Charlotte erfuhr, welch hervorragende Arbeit Cyril leistete.
Mit sanftem Raunen weckte er Balios aus seinen Träumen und führte ihn aus der Box. Schon als kleiner Junge – lange vor seiner Ankunft im Institut – hatte er gelernt, wie man Pferde sattelte und aufzäumte; deshalb ließ er seinen Gedanken nun freien Lauf, während er die Steigbügel hochzog, den Sitz des Sattels auf beiden Seiten überprüfte und dann behutsam unter Balios hindurchgriff, um den Sattelgurt zu befestigen.
Er hatte für niemanden eine Nachricht hinterlassen. Jem würde den anderen Bescheid geben, denn Will hatte feststellen müssen, dass er jetzt – da er sie am dringendsten benötigte – einfach nicht die richtigen Worte fand. Er konnte noch immer nicht ganz begreifen, dass es möglicherweise ein Abschied für immer war, und deshalb ging er in Gedanken wieder und wieder die Dinge durch, die er in seine Satteltaschen gepackt hatte: Kampfmontur, ein sauberes Hemd und einen Stehkragen (für den Fall, dass er unterwegs irgendwann einmal wie ein Gentleman aussehen musste), zwei Stelen, alle Waffen, die er verstauen konnte, Brot, Käse, Trockenobst und irdisches Geld.
Als Will den Sattelgurt festschnallte, hob Balios den Kopf und wieherte. Ruckartig drehte Will den Kopf. In der Stalltür stand eine schlanke, weibliche Gestalt. Während Will in ihre Richtung starrte, hob sie die rechte Hand, woraufhin ihr Elbenlichtstein aufflammte und ihr Gesicht beleuchtete: Cecily.
Sie trug einen blauen Samtumhang und die langen Haare offen. Unter dem Saum des Umhangs schauten ihre nackten Füße hervor.
Will richtete sich auf. »Cecy, was tust du hier?«
Seine Schwester machte einen Schritt auf ihn zu, hielt dann inne und warf einen Blick auf ihre nackten Füße. »Dasselbe könnte ich dich fragen.«
»Ich rede gern nachts mit den Pferden; sie sind erstklassige Zuhörer. Aber du solltest nicht in deinem Nachtgewand hier draußen herumlaufen. Hier treiben sich gelegentlich Lightwoods herum.«
»Sehr witzig. Wohin brichst du auf, Will? Falls du nach weiterem Yin Fen suchen willst, nimm mich mit.«
»Ich habe nicht vor, nach weiterem Yin Fen zu suchen.«
Plötzlich dämmerte es Cecily. »Du nimmst Tessas Verfolgung auf. Du reitest nach Wales, zum Cadair Idris!«
Will nickte.
»Lass mich dich begleiten, Will. Nimm mich mit«, bat Cecily.
Will brachte es nicht über sich, sie anzusehen. Er drehte sich um, holte mit zitternden Händen Zaumzeug und Gebiss und wandte sich wieder Balios zu. »Ich kann dich nicht mitnehmen. Du bist nicht in der Lage, Xanthos zu reiten, dazu fehlt dir das Training. Und ein herkömmliches Pferd würde unser Vorankommen nur unnötig behindern.«
»Bei den Kutschpferden hat es sich um Automaten gehandelt. Du kannst nicht ernsthaft hoffen, sie einzuholen …«
»Davon gehe ich auch nicht aus. Balios mag zwar das schnellste Pferd in ganz England sein, aber auch er muss sich ausruhen und schlafen. Ich habe mich bereits damit abgefunden: Auf der Landstraße werde ich Tessa nicht mehr einholen. Ich kann nur hoffen, dass ich noch rechtzeitig am Cadair Idris eintreffe, bevor es zu spät ist.«
»Dann lass mich dir nachreiten. So brauchst du dich nicht darum zu sorgen, dass ich dein Tempo drosseln könnte …«
»Sei doch vernünftig, Cecy!«
»Vernünftig?«, brauste Cecily auf. »Ich sehe nur, dass mein Bruder mich schon wieder verlässt! Jahrelang, Will, jahrelang habe ich darauf gewartet, dass ich endlich nach London aufbrechen und dich suchen kann. Und jetzt, da wir wieder zusammen sind, machst du dich wieder davon!«
Das Pferd bewegte sich unruhig, als Will ihm die Gebissstange ins Maul schob und das Zaumzeug über seinen Kopf gleiten ließ. Balios mochte keine lauten Stimmen. Beruhigend strich Will ihm über den Hals.
»Will.« Cecily klang gefährlich. »Sieh mich an oder ich werde das gesamte Haus aufwecken und dich aufhalten, das schwöre ich!«
Resigniert lehnte Will den Kopf gegen Balios’ Hals und schloss die Augen. Er nahm den Geruch von Heu und Pferd wahr, von Schweiß und süßlichem Rauch, der noch vom Kaminfeuer in Jems Zimmer in seiner Kleidung hing. »Cecily«, setzte er an. »Ich muss die Gewissheit haben, dass du hier und damit in Sicherheit bist, sonst kann ich nicht aufbrechen. Ich kann mir nicht um Tessa Sorgen machen, meilenweit vor mir auf der Straße, und gleichzeitig um dich, meilenweit hinter mir, weil mich die Angst um euch sonst umbringt. Es schweben schon zu viele Menschen, die ich liebe, in Gefahr.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Will konnte Balios’ Herzschlag unter seinem Ohr pulsieren hören, sonst aber nichts. Er fragte sich, ob Cecily wohl gegangen war, ob sie während seiner Antwort hinausspaziert war, um die anderen Institutsbewohner zu wecken. Vorsichtig hob er den Kopf.
Doch Cecily stand noch immer reglos im Türrahmen, nur beleuchtet vom Elbenlicht in ihrer Hand. »Tessa hat mir erzählt, dass du einmal nach mir gerufen hast«, sagte sie. »Als du krank warst. Warum hast du nach mir gerufen, Will?«
»Cecily.« Das Wort klang wie ein leiser Atemzug. »Jahrelang bist du mein … mein Talisman gewesen. Ich dachte, ich wäre für Ellas Tod verantwortlich. Also bin ich aus Wales fortgegangen, damit ich wusste, dass du außer Gefahr bist. Die Vorstellung, dass es dir gut ging und du glücklich warst, wog den Schmerz über den Abschied von dir und unseren Eltern auf.«
»Ich habe nie verstanden, warum du gegangen bist«, sagte Cecily. »Ich habe alle Schattenjäger immer für Monster gehalten. Ich konnte einfach nicht begreifen, wieso du zum Institut geflohen bist. Also habe ich mir immer ausgemalt, dass ich hierherkommen und vorgeben würde, ebenfalls eine Schattenjägerin werden zu wollen, sobald ich alt genug wäre. Danach wollte ich dich davon überzeugen, mit mir nach Hause zurückzukehren. Doch als ich dann von dem Fluch erfuhr, wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Denn nun verstand ich zwar, warum du hierhergekommen warst, konnte aber noch immer nicht verstehen, warum du bleiben wolltest.«
»Jem …«
»Selbst wenn er stirbt …«, setzte Cecily an und sah, wie Will zusammenzuckte. »Selbst wenn Jem stirbt, wirst du nicht zu Mam und Dad zurückkehren, stimmt’s? Du bist ein Schattenjäger durch und durch. Was Vater nie war. Das ist auch der Grund für deine Weigerung, ihnen zu schreiben. Du weißt nicht, wie du um Vergebung bitten und ihnen gleichzeitig sagen sollst, dass du nicht heimkehren wirst.«
»Ich kann nicht nach Hause zurück, Cecily, denn es ist nicht länger mein Zuhause. Ich bin ein Schattenjäger – das liegt mir im Blut.«
»Du weißt doch, dass ich deine Schwester bin, oder etwa nicht?«, erwiderte Cecily. »Und mir liegt es ebenfalls im Blut.«
»Du hast gesagt, du würdest nur so tun, als ob …« Einen Moment lang blickte Will sie prüfend an, dann meinte er langsam: »Aber du gibst es nicht nur vor, richtig? Ich habe dich trainieren und kämpfen sehen. Du empfindest dasselbe wie ich damals: Als sei das Institut der erste feste Boden unter deinen Füßen. Als hättest du endlich den Ort gefunden, an den du gehörst. Du bist eine Schattenjägerin.«
Cecily schwieg.
Will spürte, wie sich ein schiefes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. »Ich bin froh«, sagte er. »Froh, dass eine Herondale im Institut sein wird, selbst wenn ich …«
»… selbst wenn du nicht zurückkehrst? Will, lass mich mitkommen, lass mich dir helfen …«
»Nein, Cecily. Reicht es denn nicht, dass ich akzeptiere, dass du dieses Leben wählst, ein Leben voller Kampf und Gefahren, obwohl ich mir immer ein sicheres Leben für dich gewünscht habe? Nein, ich kann dich nicht mitnehmen, auch wenn du mich dafür hasst.«
Cecily seufzte. »Sei doch nicht so theatralisch, Will. Musst du immer darauf bestehen, dass die Leute dich hassen, während sie das ganz eindeutig nicht tun?«
»Ich bin theatralisch«, erwiderte Will. »Wenn ich kein Schattenjäger wäre, dann hätte ich großartige Zukunftsaussichten als Schauspieler gehabt. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass man mich mit Lob und Beifall überschüttet hätte.«
Cecily schien diese Bemerkung nicht lustig zu finden, was Will ihr im Grunde nicht verübeln konnte. »Ich interessiere mich nicht für deine Interpretation von Hamlet«, entgegnete sie. »Wenn du mich schon nicht mitnehmen willst, dann versprich mir wenigstens, wenn du nun aufbrichst … versprich mir, dass du zurückkommen wirst.«
»Das kann ich dir nicht versprechen«, sagte Will. »Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende dafür tun. Und dann werde ich auch einen Brief an unsere Eltern schreiben. So viel kann ich dir immerhin versprechen.«
»Nein«, widersprach Cecily. »Keinen Brief. Versprich mir: Wenn du zurückkommst, wirst du zusammen mit mir nach Hause reisen und Mam und Dad erklären, warum du fortgegangen bist und dass du ihnen keine Vorwürfe machst und sie noch immer liebst. Ich verlange auch nicht, dass du für immer nach Hause zurückkehrst. Weder du noch ich … keiner von uns beiden wird dazu jemals wieder in der Lage sein. Aber wir können ihnen wenigstens alles erklären und sie damit etwas trösten. Und jetzt sag mir nicht, das sei gegen die Vorschriften, Will, denn ich weiß nur allzu gut, wie sehr du es genießt, gegen Regeln zu verstoßen.«
»Siehst du?«, meinte Will. »Du kennst deinen großen Bruder doch ein wenig. Also gut, ich gebe dir mein Wort: Wenn all diese Bedingungen erfüllt sind, werde ich deiner Bitte nachkommen.«
Cecilys Schultern und Gesicht entspannten sich. Jetzt, nachdem ihre Wut verraucht war, wirkte sie klein und schutzlos, obwohl Will genau wusste, dass dieser Eindruck täuschte.
»Ach ja, bevor ich gehe, möchte ich dir noch etwas schenken«, sagte er leise. Dann griff er unter sein Hemd und hob die Kette, die Magnus ihm gegeben hatte, über den Kopf. Der Anhänger glühte im schwachen Licht des Stallgebäudes in einem warmen Rubinrot.
»Deine Damenkette?«, fragte Cecily. »Nun ja, ich muss zugeben, dass sie dir nicht sonderlich steht.«
Will ging auf seine Schwester zu und legte ihr die glitzernde Kette an. Der Rubin schmiegte sich an ihre Kehle, als sei er wie für sie geschaffen. Cecily schaute ihren Bruder mit ernsten Augen an. »Trage diese Kette Tag und Nacht. Der Anhänger wird dich warnen, sobald Dämonen in der Nähe sind«, erklärte Will. »Er wird dich beschützen – was ich mir wünsche – und er wird deine Kampfkünste verbessern, was du dir wünschst.«
Behutsam legte Cecily ihrem Bruder eine Hand an die Wange. »Da bo ti, Gwilym. Byddaf yn dy golli di.«
»Ich dich auch«, erwiderte Will. Dann wandte er sich Balios zu und schwang sich in den Sattel. Cecily trat einen Schritt zurück, als er aus dem Stall ritt, den Kopf gegen den Wind senkte, Balios die Sporen gab und in die dunkle Nacht hinauspreschte.
Ruckartig fuhr Tessa aus einem Traum voller Blut und Metallmonster hoch.
Sie lag zusammengekrümmt wie ein kleines Kind auf der Bank einer großen Kutsche, deren Fenster hinter schweren Samtvorhängen verborgen lagen. Die Sitzbank war hart und unbequem und mehrere Sprungfedern drückten ihr in die Seite, in ihr zerrissenes und verschmutztes Kleid. Ihre Frisur hatte sich gelöst und die Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht.
Auf der gegenüberliegenden Sitzbank, in eine der Ecken gedrückt, saß eine reglose Gestalt, von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Pelzumhang gehüllt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ansonsten war die Kutsche leer.
Mühsam drückte Tessa sich hoch, wobei sie gegen ein Schwindelgefühl und dann gegen eine Woge der Übelkeit ankämpfen musste. Vorsichtig legte sie ihre Hände auf ihren Bauch und versuchte, tief einzuatmen, obwohl die übel riechende Luft in der Kutsche nicht unbedingt zur Beruhigung ihres Magens beitrug. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr der Schweiß im Inneren ihres Mieders herablief.
»Sie werden sich doch nicht übergeben müssen, oder?«, fragte eine krächzende Stimme. »Chloroform hat manchmal diese Nebenwirkung.«
Die Kapuze drehte sich in Tessas Richtung und darunter erkannte sie Mrs Blacks Gesicht. Auf den Stufen des Instituts war sie zu geschockt gewesen, um die Züge ihrer damaligen Entführerin eingehend zu betrachten, doch jetzt, da Tessa sie aus der Nähe sah, jagte ihr der Anblick einen Schauer über den Rücken. Mrs Blacks Haut schimmerte grünlich, die Augen waren schwarz gemasert und die Lippen hingen schlaff herab, wodurch ihre graue Zunge zum Vorschein kam.
»Wohin bringen Sie mich?«, fragte Tessa fordernd. In Schauerromanen waren das immer die ersten Worte der entführten Heldin und Tessa hatte sich jedes Mal darüber aufgeregt. Doch nun erkannte sie, dass diese Frage tatsächlich einen Sinn ergab: In einer solchen Situation wollte man nun einmal als Allererstes wissen, wohin man gebracht wurde.
»Zu Mortmain«, erklärte Mrs Black. »Mehr Informationen werde ich nicht herausrücken. Ich habe strenge Anweisungen.«
Obwohl Tessa im Grunde nichts anderes erwartet hatte, raubte ihr die Vorstellung einen Moment den Atem. Reflexartig wandte sie sich von Mrs Black ab und zog den Vorhang vor ihrem Fenster beiseite.
Draußen war es inzwischen dunkel; der Mond schien halb verdeckt hinter Wolken hervor. Eine hügelige, schroffe Landschaft zog an ihnen vorbei, ohne irgendwelche Lichter, die auf eine mögliche Bebauung hingedeutet hätten, dafür mit schwarzen Felsformationen. So unauffällig wie möglich tastete Tessa nach dem Türgriff und versuchte, ihn herunterzudrücken; doch der Kutschschlag war verriegelt.
»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte die Dunkle Schwester. »Sie können die Tür nicht öffnen. Falls Sie versuchen zu fliehen, würde ich Sie sowieso wieder einfangen. Ich bin inzwischen deutlich schneller als früher.«
»Waren Sie deswegen auf den Stufen plötzlich verschwunden?«, hakte Tessa nach. »Auf der Treppe des Instituts?«
Mrs Black schenkte ihr ein überlegenes Lächeln. »Ich war nur für Ihre Augen verschwunden. Tatsächlich hab ich mich lediglich schnell zur Seite und dann wieder zurückbewegt. Mortmain hat mir diese Fähigkeit gegeben.«
»Ist das der Grund, weshalb Sie das hier tun?«, fauchte Tessa. »Aus Dankbarkeit gegenüber Mortmain? Er hatte keine besonders hohe Meinung von Ihnen. Schließlich hat er Jem und Will losgeschickt, um Sie zu töten, als er annahm, Sie könnten seinen Plänen im Weg stehen.«
In dem Moment, in dem Tessa Jems und Wills Namen aussprach, kehrte ihre Erinnerung schlagartig zurück und ließ sie erbleichen. Man hatte sie mitten im Getümmel entführt, während die Schattenjäger auf den Stufen des Instituts verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatten. Hatten sie sich gegen die Automaten behaupten können? War irgendjemand von ihnen verwundet oder – Gott bewahre! – getötet worden? Aber das würde sie doch sicher wissen, oder? Sie würde es spüren, wenn Jem oder Will irgendetwas zugestoßen wäre, oder nicht? Sie war mit beiden so eng verbunden wie mit ihrem eigenen Herzen.
»Nein«, sagte Mrs Black in dem Moment. »Um die Frage, die in Ihren Augen geschrieben steht, zu beantworten: Sie würden es nicht wissen, wenn einer der beiden tot wäre – ganz gleich welcher dieser hübschen Schattenjägerknaben, die Sie so anhimmeln. Die meisten Leute bilden sich das gern ein, aber sofern keine magische Verbindung wie etwa ein Parabatai-Bund existiert, handelt es sich dabei nur um Wunschdenken. Als ich mit Ihnen aufgebrochen bin, kämpften die beiden gerade um ihr Leben.« Sie grinste und ihre Zähne schimmerten metallisch in der Dunkelheit. »Wenn Mortmain mich nicht angewiesen hätte, Sie ihm unversehrt zu übergeben, dann hätte ich Sie dort gelassen und zugesehen, wie die Automaten Sie in Stücke zerfetzt hätten.«
»Warum will er mich unverletzt in seine Gewalt bringen?«
»Sie und Ihre ständigen Fragen – ich hatte schon fast vergessen, wie lästig das war. Offenbar gibt es irgendeine Information, die nur Sie ihm liefern können. Und er will Sie noch immer heiraten. Dieser alte Narr! Von mir aus können Sie ihn für den Rest seines Lebens herumschikanieren. Sobald ich bekommen habe, was ich von ihm will, mache ich mich ohnehin aus dem Staub.«
»Aber ich weiß nichts, was für Mortmain von Interesse sein könnte!«
Mrs Black schnaubte. »Sie sind so jung und dumm. Ist Ihnen denn noch immer nicht klar, dass Sie kein Mensch sind, Miss Gray? Offensichtlich wissen Sie nur sehr wenig über Ihre Fähigkeiten. Wir hätten Ihnen möglicherweise mehr beigebracht, aber Sie waren ja so störrisch. Sie werden feststellen müssen, dass Mortmain weniger nachsichtig ist.«
»Nachsichtig?«, fauchte Tessa. »Sie haben mich grün und blau geprügelt.«
»Es gibt Schlimmeres als körperliche Schmerzen, Miss Gray. Und Mortmain kennt keine Gnade.«
»Ganz genau.« Tessa beugte sich vor, während der Klockwerk-Engel unter ihrem Mieder doppelt so schnell schlug wie sonst. »Warum tun Sie, was er von Ihnen verlangt? Sie wissen doch, dass Sie ihm nicht trauen können … und dass er Sie mit dem größten Vergnügen vernichten würde …«
»Ich brauche etwas, was nur er mir geben kann«, erklärte Mrs Black. »Und ich werde alles tun, um es zu bekommen.«
»Und was genau ist das?«, hakte Tessa nach. Sie hörte, wie Mrs Black lachte.
Dann schob die Dunkle Schwester ihre Kapuze nach hinten und öffnete den Kragen ihres Umhangs.
In Geschichtsbüchern hatte Tessa von den aufgespießten Köpfen auf der London Bridge gelesen, sich aber nie vorstellen können, welch grausigen Anblick diese geboten haben mussten. Offensichtlich war der Prozess der Verwesung von Mrs Blacks Kopf nach der Enthauptung nicht rückgängig gemacht worden, denn graue Hautlappen hingen von einem Metallspieß herab, auf den man ihren Schädel gedrückt hatte. Statt eines Körpers besaß sie nur eine glatte Metallstange, aus der zwei stockartige Gliedmaßen herausragten. Und die grauen Glacéhandschuhe, die das verbargen, was sich am Ende dieser Arme befand, verliehen dem Ganzen den letzten makabren Schliff.
Entsetzt schrie Tessa auf.