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DER EROBERER WURM

Von Tollheit und Sünde gewürzt,
Dahinter sich lauter Elend und Graus
Zum verworrenen Knoten schürzt.

EDGAR ALLAN POE, »DER EROBERER WURM«

Als die Institutskutsche durch das Tor zum Lightwood House in Chiswick ratterte, konnte Tessa die Schönheit des Anwesens in Ruhe bewundern – was bei ihrem ersten Besuch mitten in der Nacht nicht möglich gewesen war. Ein langer, von Bäumen gesäumter Kiesweg führte zu einem imposanten weißen Gebäude mit einer kreisförmigen Auffahrt. Mit seinen klaren, symmetrischen Linien und hoch aufragenden Säulen besaß das Haus große Ähnlichkeit mit Skizzen, die Tessa einmal von antiken griechischen und römischen Tempeln gesehen hatte. Eine Kutsche stand vor der Eingangstreppe.

Sorgfältig gepflegte Kieswege schlängelten sich durch ein Labyrinth von Gärten, die selbst zu dieser kühlen Jahreszeit in leuchtenden Herbstfarben erstrahlten – spät blühende rote Rosen und Winterastern in warmen Orange-, Gelb- und Goldtönen.

Als Henry die Kutsche zum Stehen gebracht hatte, kletterte Tessa mit Jems Hilfe die Stufen hinunter. Nun hörte sie Wasser plätschern: vermutlich ein Bach, den man umgeleitet hatte, damit er durch die Gartenanlage strömte. Dieses Anwesen war so schön, dass Tessa es kaum mit dem Ort in Verbindung bringen konnte, an dem Benedict seinen schrecklichen Ball gegeben hatte – obwohl sie den Pfad wiedererkannte, den sie an jenem Abend genommen hatte. Er führte um das Haus herum zu einem Gebäudeteil, der den Eindruck erweckte, als habe man ihn erst kürzlich dort angebaut …

Hinter Tessa rollte die Equipage der Familie Lightwood vor, mit Gideon auf dem Kutschbock. Sekunden später drängten Gabriel, Will und Cecily gleichzeitig aus der Kutsche, während Gideon von seinem erhöhten Sitz kletterte. Die Geschwister Herondale stritten noch immer miteinander und Will unterstrich seine Argumente mit weit ausholenden Gesten, wohingegen Cecily ihn nur finster musterte. Ihr wütender Gesichtsausdruck verlieh ihr eine so große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder, dass Tessa unter anderen Umständen darüber gelacht hätte.

Gideon, der noch blasser wirkte als zuvor, drehte sich mit gezückter Klinge im Kreis. »Tatianas Kutsche«, sagte er knapp, als Jem und Tessa auf ihn zukamen, und zeigte auf das Fuhrwerk vor der Eingangstreppe, dessen Schläge weit geöffnet waren. »Sie muss spontan zu einem Besuch hergekommen sein …«

»Ausgerechnet heute!« Gabriel klang wütend, aber in seinen Augen stand große Sorge. Tatiana war ihre Schwester und hatte vor Kurzem geheiratet. Das schildförmige Zeichen auf dem Kutschschlag, ein Dornenkranz, musste das Familienwappen ihres Mannes sein, überlegte Tessa. Schweigend schauten sie und die anderen zu, wie Gabriel zur Kutsche ging und einen langen Säbel aus dem Gürtel zog. Vorsichtig spähte er durch die Tür und fluchte dann laut. »An den Sitzen klebt Blut«, wandte er sich an Gideon. »Und … dieses Zeugs hier.« Er stocherte mit der Säbelspitze an einem der Räder herum. Als er die Klinge zurückzog, baumelte ein langer, übel riechender Schleimfaden daran herab.

Will zückte sein Seraphschwert und rief: »Eremiel!« Sofort leuchtete die Klinge weiß auf wie ein heller Stern im herbstlichen Licht. Will zeigte zuerst nach Norden und dann nach Süden. »Die Gärten umgeben das gesamte Gebäude und erstrecken sich bis hinunter zum Fluss«, erklärte er. »Vor nicht allzu langer Zeit habe ich den Dämon Marbas durch jeden Winkel des Anwesens gejagt. Benedict muss hier irgendwo sein, denn ich glaube kaum, dass er das Gelände verlassen hat. Das Risiko, gesehen zu werden, ist einfach zu groß.«

»Wir übernehmen den Westflügel und ihr kümmert euch um den östlichen Teil«, sagte Gabriel. »Ruft, wenn ihr irgendetwas Ungewöhnliches seht; dann kommen wir sofort zu euch.« Entschlossen wischte er seine Klinge im Gras neben der Kiesauffahrt sauber und folgte seinem Bruder um das Gebäude herum.

Will wandte sich in die andere Richtung, dicht gefolgt von Jem. Cecily und Tessa bildeten die Nachhut. An der Hausecke hielt Will kurz inne und sondierte den Garten auf ungewöhnliche Anzeichen oder Geräusche. Einen Augenblick später bedeutete er den anderen, ihm zu folgen.

Während sie sich leise vorwärts bewegten, blieb Tessa mit einem Absatz im Kies stecken, der überall unter den Hecken lag. Sie strauchelte kurz, richtete sich aber sofort wieder auf.

Doch Will warf ihr über die Schulter einen finsteren Blick zu und knurrte: »Tessa!«

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er sie Tess genannt hatte, doch das war wohl endgültig vorbei, dachte Tessa.

»Du solltest nicht hier sein«, fuhr er fort. »Du bist auf einen Kampf überhaupt nicht vorbereitet. Warte wenigstens in der Kutsche.«

»Nein, das werde ich nicht«, erwiderte Tessa trotzig.

Verärgert wandte Will sich an Jem, der ein Lächeln zu unterdrücken versuchte: »Tessa ist deine Verlobte. Bring du sie gefälligst zur Vernunft.«

Jem, der seinen Stockdegen gezückt hatte, lief ein paar Schritte über den Kies auf sie zu. »Tessa, bitte tu es mir zuliebe.«

»Du glaubst, dass ich nicht kämpfen kann …«, entgegnete Tessa und erwiderte seinen Blick mit erhobenem Kopf, »… weil ich ein Mädchen bin.«

»Ich glaube, dass du nicht kämpfen kannst, weil du ein Brautkleid trägst«, erklärte Jem. »Und wenn du mich fragst, wäre selbst Will nicht in der Lage, in diesem Kleid vernünftig zu kämpfen.«

»Möglicherweise nicht kämpfen«, kommentierte Will, der Ohren hatte wie eine Fledermaus, »aber ich würde eine strahlende Braut abgeben.«

Plötzlich zeigte Cecily in die Ferne. »Was ist das da?«

Die drei anderen wirbelten herum und sahen, dass eine Gestalt auf sie zustürmte. Da die Sonne schon tief stand, war Tessa einen Moment geblendet und konnte nicht viel erkennen. Doch schon bald verwandelte sich das verschwommene Bild in eine junge Frau, die in ihre Richtung lief. Sie hatte ihren Hut verloren; ihre hellen Haare wehten im Wind. Als sie näher kam, sah Tessa, dass sie groß und hager war und ein leuchtend rosafarbenes Kostüm trug, das einmal sehr elegant gewesen sein musste. Jetzt aber hing es zerfetzt und blutgetränkt an ihr herab. Hysterisch kreischend warf sie sich Will in die Arme.

Will taumelte rückwärts und hätte beinahe sein Schwert fallen lassen. »Tatiana …«

Tessa vermochte nicht zu sagen, ob Will die junge Frau wegschob oder ob sie sich aus eigenem Antrieb zurückzog. Jedenfalls löste sie sich ein paar Zentimeter von Will, sodass Tessa zum ersten Mal ihr schmales, kantiges Gesicht sehen konnte. Sie hatte die gleichen rotblonden Haare wie Gideon, die gleichen leuchtend grünen Augen wie Gabriel und hätte eigentlich hübsch sein können, wäre da nicht dieser verkniffene Ausdruck ständiger Missbilligung in ihrem Gesicht gewesen. Und trotz der Tränen, die ihr über die Wangen strömten, hatte sie etwas Theatralisches an sich, als wüsste sie ganz genau, dass alle Augen auf sie gerichtet waren – vor allem Wills.

»Eine riesige Kreatur«, wimmerte sie. »Ein Monster … es hat den armen Rupert aus der Kutsche gerissen und sich mit ihm davongemacht!«

Will schob Tatiana noch weiter von sich fort. »Was meinst du mit ›Es hat sich mit ihm davongemacht‹?«

Tatiana zeigte in die Ferne. »D-dort hinten!«, schluchzte sie. »Das Monster hat ihn in den italienischen Garten gezerrt. Zunächst konnte Rupert seinem Biss entkommen, aber dann hat es ihn verfolgt. Und sosehr ich auch geschrien habe, es hat meinen armen Liebling einfach nicht l-losgelassen!« Erneut brach sie in Tränen aus.

»Du hast geschrien«, stellte Will kühl fest. »War das alles? Oder hast du sonst noch etwas getan?«

»Ich habe sehr viel geschrien«, erwiderte Tatiana gekränkt, löste sich dann vollständig aus Wills Griff und funkelte ihn aus ihren grünen Augen an. »Wie ich sehe, bist du so kleinlich wie eh und je.« Dann schaute sie an Tessa vorbei zu Jem. »Mister Carstairs«, sagte sie förmlich, als wären sie auf einer Gartenparty. Als ihr Blick an Cecily hängen blieb, kniff sie die Augen zu Schlitzen. »Und du musst …«

»Ach, beim Erzengel!« Genervt schob Will sich an ihr vorbei, woraufhin Jem Tessa ein kurzes Lächeln schenkte und ihm dann folgte.

»Du kannst niemand anderes als Wills Schwester sein«, wandte Tatiana sich aufgeregt an Cecily, während Will und Jem in der Ferne verschwanden. Tessa hingegen ignorierte sie demonstrativ.

Cecily starrte sie ungläubig an. »Das bin ich. Allerdings wüsste ich nicht, was das ausgerechnet jetzt für eine Rolle spielt. Tessa … kommst du mit?«

»Natürlich«, sagte Tessa und folgte ihr. Ob es Will – oder Jem – nun gefiel oder nicht: Sie würde nicht tatenlos zusehen, wie die beiden sich in Gefahr begaben. Sie wollte bei ihnen sein. Nach einem Moment hörte sie Tatianas zögerliche Schritte auf dem Kiesweg hinter sich.

Sie entfernten sich nun vom Haus und liefen leise in Richtung des italienischen Gartens, der halb versteckt hinter einer hohen Hecke lag. In der Ferne spiegelte sich ein Sonnenstrahl auf der Glasfläche einer Orangerie mit Kuppeldach. Es war ein wunderschöner Herbsttag, mit einer frischen Brise, die den Duft von feuchtem Laub herantrug. Tessa hörte ein Rascheln und warf einen Blick über die Schulter zum Haus. Die glatte weiße Fassade ragte hoch hinter ihr auf, nur durchbrochen von geschwungenen Balkonen.

»Will«, wisperte sie, als er die Arme hob und ihre Hände sanft von seinem Nacken löste.

Langsam streifte er Tessas Handschuhe ab, die kurz darauf neben der Maske und den Haarnadeln auf dem Boden landeten. Dann nahm er seine eigene Maske ab, warf sie beiseite, fuhr sich mit den Händen durch die feuchten schwarzen Haare und schob sie sich aus der Stirn. Die untere Kante der Maske hatte leichte Vertiefungen auf seinen Wangen hinterlassen, wie helle Narben. Doch als Tessa die Rillen berühren wollte, fing er ihre Hände sanft ab. »Nein, nicht…Bitte lass mich dich zuerst berühren«, raunte er. »Ich habe mich so lange danach gesehnt …«

Eine heiße Röte stieg Tessa in die Wangen und sie wandte sich vom Haus und den damit verbundenen Erinnerungen ab. Inzwischen hatte die kleine Gruppe eine Lücke in der Hecke erreicht. Durch diese Öffnung war der italienische Garten deutlich zu sehen, umgeben von weiteren Sträuchern und Bäumen. Im Zentrum der halbkreisförmigen Gartenanlage befand sich ein Springbrunnen, in den eine Statue der Göttin Venus Wasser goss. Weitere Statuen säumten die Wege, die strahlenförmig vom Zentrum abgingen: berühmte Politiker und Geschichtsschreiber der Antike wie Caesar, Herodot oder Thukydides, aber auch Dichter und Dramatiker wie Aristoteles, Ovid und Homer. Tessa hastete gerade an den Statuen von Vergil und Sophokles vorbei, als ein markerschütternder Schrei die Stille zerriss.

Sofort wirbelte Tessa herum. Ein paar Meter hinter ihr stand Tatiana stocksteif da, mit schreckgeweiteten Augen. Tessa stürmte zu ihr, und als sie sie erreichte, krallte Tatiana sich blind an ihr fest, als hätte sie im Moment vergessen, wer Tessa war.

»Rupert«, stöhnte sie und starrte geradeaus.

Tessa folgte ihrem Blick und entdeckte einen Stiefel, der unter einer Hecke hervorragte. Einen Augenblick lang nahm Tessa an, dass Rupert bewusstlos auf dem Boden lag, der Rest seines Körpers hinter dem Blattwerk versteckt. Doch als sie sich vorbeugte, erkannte sie, dass der Stiefel und ein paar Zentimeter angefressenes, blutiges Gewebe, das aus dem Stiefelschaft herausragte, das Einzige waren, was es dort zu sehen gab.

»Ein zwölf Meter langer Wurm?«, murmelte Will, während er und Jem sich – dank der Unhörbarkeitsrunen – lautlos durch den italienischen Garten bewegten. »Denk nur mal an den Fisch, den wir damit fangen könnten.«

Jem musste unwillkürlich grinsen. »Das ist nicht lustig!«

»Ein bisschen schon.«

»Du kannst die Situation nicht auf Wurmwitze reduzieren, Will. Wir reden hier schließlich von Gabriels und Gideons Vater.«

»Wir reden nicht nur von ihm, wir jagen ihn sogar durch einen Skulpturengarten, weil er sich in einen Wurm verwandelt hat.«

»In einen dämonischen Wurm«, berichtigte Jem ihn und spähte vorsichtig um eine Hecke. »Eine riesige Schlange. Hilft das vielleicht gegen deinen unangemessenen Humor?«

»Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der dir mein unangemessener Humor ein gewisses Vergnügen bereitet hat«, seufzte Will. »Wie sich der Wurm doch gewunden hat.«

»Will …«, setzte Jem an, wurde aber von einem schrillen Schrei unterbrochen.

Beide Jungen wirbelten herum und sahen, wie Tatiana Blackthorn Tessa in die Arme fiel. Tessa fing sie auf und stützte sie, während Cecily sich auf eine Öffnung in der Hecke zubewegte und mit der Leichtigkeit der geübten Schattenjägerin ihre Seraphklinge zückte.

Will konnte zwar nicht hören, was seine Schwester sagte, aber die Klinge leuchtete sofort auf, erhellte ihr Gesicht und erfüllte Will mit einem überwältigenden Gefühl der Angst. Hastig setzte er sich in Bewegung, Jem dicht hinter ihm.

Tatiana hing schlaff in Tessas Armen und wimmerte mit schmerzverzerrtem Gesicht: »Rupert! Rupert!« Tessa kämpfte mit dem Gewicht des anderen Mädchens und Will wollte ihr zu Hilfe eilen, doch Jem war bereits bei ihr und griff Tessa unter die Arme. Und das war auch richtig so. Schließlich war er ihr Verlobter.

Entschlossen riss Will sich von ihrem Anblick fort und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Schwester. Cecily trat gerade zwischen den Hecken hindurch, die Klinge hocherhoben in der Hand, während sie sich vorsichtig um Rupert Blackthorns grausige sterbliche Überreste herumbewegte.

»Cecily!«, rief Will aufgebracht, woraufhin sie sich langsam zu ihm umdrehte …

Im selben Augenblick schien die Welt um sie herum zu explodieren. Eine Fontäne aus Erde und Dreck brach vor ihnen aus dem Boden hervor und schoss wie ein Geysir hoch in den Himmel hinauf. Erdklumpen und Steine hagelten herab und in der Mitte der Fontäne stieg eine gewaltige Schlange auf, mit lidlosen, blinden Augen und schuppiger, grauweiß schimmernder Haut. Die Farbe von totem Gewebe, dachte Will unwillkürlich. Ein furchtbarer Gestank ging von der Kreatur aus, wie der Verwesungsgeruch eines Grabes. Tatiana brachte ein Wimmern hervor, erschlaffte vollständig und zog Tessa mit sich zu Boden.

Der Wurm wand sich hin und her, um sich aus dem Erdreich zu befreien. Wütend sperrte er das Maul auf, das seinen Kopf in zwei Hälften teilte wie ein gewaltiger, mit haifischartigen Zähnen besetzter Schlitz, und stieß ein heiseres Zischen aus.

»Halt!«, schrie Cecily, die flammende Seraphklinge vor sich ausgestreckt. Sie wirkte vollkommen furchtlos. »Verschwinde, du elende Kreatur!«

Ruckartig warf der Wurm den Kopf zu ihr herum. Cecily stand unerschütterlich da, die Klinge in der Hand, während sich die scharfen Zähne pfeilschnell auf sie zubewegten. Doch Will war schneller: Er machte einen Satz und stieß seine Schwester beiseite, sodass sie beide in dem Moment unter eine Hecke rollten, in dem der Kopf des Wurms dröhnend auf den Boden auftraf und einen tiefen Krater darin hinterließ – genau an der Stelle, an der Cecily gerade noch gestanden hatte.

»Will!« Cecily riss sich von ihm los, allerdings nicht rechtzeitig, um eine Kollision zu vermeiden: Ihre Seraphklinge traf Will am Unterarm und hinterließ eine rote Brandwunde. »Das war vollkommen unnötig!«, fauchte sie ihn an und ihre blauen Augen funkelten zornig.

»Dir fehlt die nötige Erfahrung!«, brüllte Will, fast außer sich vor Wut und Sorge. »Du bringst dich noch um! Rühr dich nicht vom Fleck!« Er griff nach Cecilys Klinge, doch sie drehte sich von ihm weg und sprang auf die Beine. Eine Sekunde später attackierte der Wurm erneut, mit weit aufgerissenem Maul. Beim Versuch, seine Schwester außer Gefahr zu bringen, hatte Will sein eigenes Schwert verloren. Die Waffe lag mehrere Schritte entfernt. Blitzschnell warf Will sich auf die Seite und entging den scharfen Zähnen der Kreatur nur um Haaresbreite.

Aber im nächsten Moment war Jem zur Stelle, einen Stockdegen in der Hand, und trieb dem Wurm die Klinge tief in die Flanke. Sofort sprühte schwarzes Blut aus der Stichwunde. Die Kreatur stieß einen infernalischen Schrei aus, zuckte zurück und verschwand zischelnd hinter einer Hecke.

Will wirbelte herum. Er konnte Cecily kaum sehen, denn Jem hatte sich zwischen sie und Benedict geworfen. Hinter Jem, der mit Blut und Dreck beschmiert war, hatte Tessa Tatiana auf ihren Schoß gezogen. Ihre Röcke bauschten sich im Wind – das Fuchsiarosa von Tatianas Kostüm mischte sich mit dem Gold von Tessas ruiniertem Brautkleid. Tessa hatte sich über Tatiana gebeugt, um ihr den Anblick ihres Vaters zu ersparen. Ihre Haare und Kleidung waren getränkt von schwarzem Dämonenblut, ihr Gesicht kreidebleich. Als sie aufschaute, trafen sich ihre und Wills Blicke.

Einen Moment lang verschwanden der Garten, die Geräusche und der faulige Gestank des Dämons und Will war mit Tessa allein an einem vollkommen stillen Ort. Am liebsten wäre er zu ihr gelaufen, hätte die Arme um sie geschlungen, sie beschützt.

Doch dieses Vorrecht gebührte Jem, nicht ihm. Nicht ihm.

Der Moment verstrich und im nächsten Augenblick rappelte Tessa sich auf, zerrte Tatiana auf die Beine und legte sich ihren Arm um die Schultern, während sich das Mädchen halb ohnmächtig gegen sie lehnte.

»Du musst sie von hier wegbringen. Sie kommt hier sonst noch um«, sagte Will und ließ seinen Blick über den Garten schweifen. »Sie besitzt keinerlei Schattenjägererfahrung.«

Ein vertrauter, sturer Zug zeichnete sich um Tessas Mundwinkel ab. »Ich will euch aber nicht alleinlassen.«

Cecily starrte ihren Bruder entsetzt an. »Du meinst doch nicht etwa … Würde dieser Wurm denn nicht innehalten? Sie ist seine Tochter. Wenn er noch irgendetwas für seine Familie empfindet …«

»Er hat seinen Schwiegersohn verschlungen, Cecy«, knurrte Will. »Tessa, bring Tatiana von hier weg, wenn dir ihr Leben lieb ist. Und bleib mit ihr beim Haus. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie hierher zurückgerannt käme.«

»Vielen Dank, Will«, murmelte Jem, als Tessa auf dem Absatz kehrtmachte und Tatiana wütend fortzerrte.

Doch Will empfand Jems Worte wie drei Nadelstiche in seinem Herzen. Jedes Mal, wenn er Tessa beschützte, ging Jem davon aus, dass er es ausschließlich ihm zuliebe tat. Und jedes Mal wünschte Will, Jem läge damit richtig. Aber jeder Nadelstich hatte einen Namen. Schuld. Scham. Liebe.

Plötzlich schrie Cecily auf. Ein Schatten verdunkelte die Sonne und die Hecke vor Will flog auseinander. Einen Moment starrte er in den dunkelroten Schlund des gewaltigen Wurms, von dessen Zähnen Speichelfäden herabhingen. Sofort griff Will nach dem Schwert an seinem Gürtel, doch der Wurm holte bereits zum tödlichen Angriff aus. In seinem Hals steckte ein Dolch, den Will sofort wiedererkannte, ohne sich dafür umdrehen zu müssen – Jems Waffe. Dann hörte er, wie sein Parabatai einen warnenden Schrei ausstieß, während der Wurm sich erneut auf Will stürzte. Pfeilschnell riss Will sein Schwert hoch und rammte es dem Wesen von unten, durch den Unterkiefer hindurch, in den Rachen. Blut spritzte in alle Richtungen und brannte sich mit einem Zischen in Wills Kampfmontur. Irgendetwas traf ihn in der Kniekehle, er verlor das Gleichgewicht und schlug mit der Schulter hart auf den steinigen Boden auf. Keuchend schnappte er nach Luft. Gleichzeitig bemerkte er, dass sich der dünne, geringelte Schwanz des Wurms um seine Knie gewunden hatte. Hektisch trat Will um sich, während er Sternchen sah, Jems besorgte Miene, den blauen Himmel über sich …

Pfumm. Ein Pfeil bohrte sich in den Schlangenschwanz, direkt unterhalb von Wills Knie. Benedicts Griff um seine Beine erschlaffte und Will rollte sich auf die Seite. Er rappelte sich auf und sah, wie Gideon und Gabriel Lightwood über den Gartenweg angerannt kamen. Gabriel hielt einen Bogen in der Hand und legte im Laufen einen weiteren Pfeil ein. Will erkannte zu seiner Überraschung, dass Gabriel Lightwood gerade auf seinen eigenen Vater geschossen hatte, um ihm das Leben zu retten.

Der Kopf des Wurms peitschte nach hinten und dann spürte Will auch schon zwei Hände, die ihm unter die Arme griffen und ihn hochhievten. Jem. Er gab Will frei, zückte seinen Stockdegen und starrte geradeaus. Der Dämonenwurm bäumte sich vor Schmerz auf, wand sich hin und her und entwurzelte dabei Sträucher und Hecken. Blätter flogen umher und die Schattenjäger keuchten und husteten gegen den Staub an, der die Luft erfüllte. Will konnte Cecily krächzen hören und hätte ihr am liebsten befohlen, zum Haus zurückzulaufen. Doch er wusste, dass sie seiner Aufforderung nicht folgen würde.

Fauchend warf der Wurm den Kopf so lange hin und her, bis sich der Dolch in seinem Hals löste, klirrend zu Boden fiel und zwischen den Rosensträuchern landete. Dann verschwand er und hinterließ dabei eine Spur aus Schleim und schwarzem Blut. Gideon verzog das Gesicht und fischte die Waffe mit Handschuhen aus dem Gebüsch.

Doch im nächsten Moment bäumte Benedict sich wie eine Kobra auf, das speicheltriefende Maul weit aufgerissen. Gideon hob das Schwert, wirkte aber gegenüber dem gewaltigen Rumpf der Kreatur wie ein Zwerg.

»Gideon!« Kreidebleich riss Gabriel seinen Bogen hoch. Will wirbelte zur Seite, als der Pfeil an ihm vorbeipflog und sich in den Schlangenkörper bohrte. Der Wurm kreischte, warf sich herum und schlängelte mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon. Als er die Statuen passierte, fegte seine Schwanzspitze ein Standbild vom Sockel und wickelte sich fest darum, bis die Statue zu Staub zerbarst und als Steinhagel im Zierbrunnen landete.

»Beim Erzengel, er hat gerade Sophokles zerquetscht«, bemerkte Will, während der Wurm hinter einem hohen Gebäude verschwand, das an einen griechischen Tempel erinnerte. »Hat denn heutzutage niemand mehr Respekt vor den Klassikern?«

Keuchend ließ Gabriel den Bogen sinken. »Du Narr«, fuhr er seinen Bruder an. »Was hast du dir dabei gedacht, einfach so auf ihn loszugehen?«

Gideon wirbelte herum und zeigte mit dem blutigen Schwert auf Gabriel. »Nicht auf ›ihn‹. Auf es. Das ist nicht mehr unser Vater, Gabriel. Wenn du diese Tatsache noch immer nicht kapierst …«

»Ich habe einen Pfeil auf ihn abgeschossen!«, brüllte Gabriel. »Was willst du denn noch von mir, Gideon?«

Doch Gideon schüttelte nur den Kopf, als widere sein Bruder ihn an. Selbst Will, der Gabriel nun wirklich nicht mochte, verspürte einen Hauch Mitleid mit ihm. Schließlich hatte er tatsächlich auf die Kreatur geschossen.

»Wir müssen diesem Wesen nachsetzen«, sagte Gideon. »Es hat sich hinter der Gloriette versteckt …«

»Der was?«, fragte Will.

»Eine Gloriette, Will«, erklärte Jem. »Das ist ein rein zur Schau dienender Prachtbau. Ich nehme an, das Gebäude besitzt nicht mal einen richtigen Innenausbau.«

Gideon schüttelte den Kopf. »Nein, das ist alles nur Gips und Stuck. Wenn wir zwei uns von dieser Seite anschleichen und ihr beide von der anderen …«

»Cecily, was machst du da?«, rief Will und fiel Gideon damit ins Wort. Er wusste, dass er wie ein überreizter Vater klang, aber es war ihm egal.

Seine Schwester hatte ihre Klinge wieder in den Gürtel gesteckt und versuchte, eine der kleineren Eiben zu erklimmen, die sich innerhalb des ersten Heckenrondells befanden.

»Jetzt ist nicht der Moment, um auf Bäume zu klettern!«, tadelte Will.

Cecily warf ihm einen wütenden Blick zu, während der Wind ihr die schwarzen Haare ins Gesicht fegte. Sie setzte zu einer Antwort an, doch bevor sie etwas sagen konnte, ertönte ein tiefes Rumpeln wie von einem Erdbeben und die Gloriette zerbarst in Tausende von Gipsstücken. Und dann sahen sie, wie der Wurm direkt auf sie zusteuerte, mit der furchterregenden Geschwindigkeit einer führerlosen Dampflok.

Als Tessa mit der schluchzenden Tatiana die Auffahrt vor dem Lightwood House erreichte, machten sich sowohl ihr Hals als auch ihr Rücken schmerzhaft bemerkbar. Unter ihrem Brautkleid war sie in ein enges Korsett geschnürt, das ihr zusammen mit Tatianas Gewicht auf ihrer linken Schulter den Atem nahm.

Sie war erleichtert, als die Kutschen endlich in Sicht kamen – erleichtert, aber auch verblüfft. Der vordere Bereich des Anwesens wirkte so friedlich: Die Fuhrwerke standen noch an Ort und Stelle, die Pferde zupften ein paar Grashalme und die Fassade des Gebäudes war vollkommen unversehrt. Mühsam schleppte Tessa Tatiana zur ersten Kutsche, riss den Schlag auf und half ihr beim Einsteigen. Sie zuckte kurz zusammen, als sich Tatianas scharfe Fingernägel in ihre Schulter gruben, während das Mädchen sich und ihre Röcke in die Kutsche hievte.

»Oh Gott«, stöhnte Tatiana. »Diese Schande! Diese schreckliche Schande, wenn der Rat erfährt, was meinem Vater widerfahren ist. Du meine Güte, hätte er denn nicht wenigstens eine Sekunde lang an mich denken können?«

Verwirrt blinzelte Tessa. »Dieses Ding …«, setzte sie an. »Ich denke nicht, dass es in der Lage war, an irgendjemanden zu denken, Mrs Blackthorn.«

Tatiana musterte sie benommen und einen Moment schämte Tessa sich für die Abneigung, die sie ihr gegenüber empfand. Sie war alles andere als begeistert, dass Will sie aus dem Garten geschickt hatte, wo sie den anderen möglicherweise eine Hilfe gewesen wäre, aber Tatiana hatte gerade mit ansehen müssen, wie ihr eigener Vater ihren Ehemann in Stücke gerissen hatte. Sie verdiente etwas mehr Mitgefühl, als Tessa bisher hatte aufbringen können.

Tessa bemühte sich, ihrer Stimme einen sanfteren Klang zu geben: »Ich weiß, dass Sie einen schweren Schock erlitten haben. Vielleicht möchten Sie sich ja ein wenig hinlegen …«

»Du bist sehr groß«, fiel Tatiana ihr ins Wort. »Hat sich da noch kein Gentleman drüber beschwert?«

Sprachlos starrte Tessa sie an.

»Und du bist wie eine Braut gekleidet«, fuhr Tatiana fort. »Ist das nicht äußerst merkwürdig? Wäre eine Kampfmontur für diese Aufgabe nicht besser geeignet? Zwar ist die Schattenjägerkluft nicht gerade schmeichelhaft für die Figur und Not kennt ja bekanntlich kein Gebot, aber …«

Plötzlich ertönte ein lautes Klirren. Tessa drehte den Kopf und schaute sich um. Das Geräusch war aus dem Inneren des Gebäudes gekommen. Henry, schoss es Tessa durch den Kopf. Henry war ins Haus gegangen – allein. Der Wurm befand sich zwar irgendwo im Garten, aber dennoch handelte es sich nun einmal um Benedicts Haus. Tessa musste an den Ballsaal denken und an die Dämonen, die sich dort bei ihrem letzten Besuch vergnügt hatten. Hastig raffte sie ihre Röcke. »Bleiben Sie hier, Mrs Blackthorn. Ich muss nachschauen, woher dieses Geräusch kam.«

»Nein!« Ruckartig setzte Tatiana sich auf. »Lass mich nicht allein!«

»Tut mir leid.« Tessa trat einen Schritt zurück. »Aber ich muss nach Henry sehen. Bitte bleiben Sie in der Kutsche!«

Tatiana rief ihr irgendetwas hinterher, doch Tessa stürmte bereits die Stufen hinauf. Dann drückte sie die Haustür auf und fand sich in einer großen Eingangshalle wieder, mit ihrem schachbrettartigen Fußboden aus weißen und schwarzen Marmorplatten und dem riesigen, allerdings unbeleuchteten Lüster an der Decke. Durch die hohen Fenster strömte Tageslicht in die Halle, von der eine prachtvolle, geschwungene Treppe ins Obergeschoss führte.

»Henry!«, rief Tessa. »Henry, wo bist du?«

Statt einer Antwort ertönte aus dem oberen Stockwerk ein Schrei und weiteres Klirren. Tessa lief die Treppe hinauf und strauchelte kurz, da sich ihr Fuß im Saum ihres Kleides verfing und eine Naht aufriss. Ungeduldig fegte sie den Rock beiseite und lief einen langen Korridor entlang, an dessen taubenblauen Wänden Dutzende goldgerahmte Radierungen hingen. Am Ende des Ganges angekommen, stieß Tessa die doppelflügelige Tür auf und stürmte in den Raum.

Es handelte sich eindeutig um ein Herrenzimmer – eine Bibliothek oder ein Studierzimmer: dunkle Vorhänge aus schwerem, samtigem Stoff, Ölgemälde mit Darstellungen von Seeschlachten, dunkelgrüne Tapeten, die jedoch mit seltsamen dunklen Flecken übersät waren. Ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft, ein Gestank wie am Ufer der Themse, wo alles Mögliche verrottete und vor sich hin faulte. Und darüber lag der kupferartige Geruch von Blut. Eine Büchervitrine war umgestürzt und zerbrochen – ein Wirrwarr aus Glassplittern und Holzstücken. Und daneben, auf dem Perserteppich, lag Henry, in einen Ringkampf mit einem grauhäutigen Ding verwickelt, das beunruhigend viele Arme besaß.

Henry schrie und trat mit seinen langen Beinen wild um sich, während das Wesen – zweifellos ein Dämon – mit scharfen Krallen auf seine Schattenjägermontur einschlug und versuchte, mit der wolfsartigen Schnauze nach Henrys Gesicht zu schnappen.

Hastig schaute Tessa sich um, schnappte sich den Schürhaken, der neben dem offenen Kamin lag, und ging zum Angriff über. Dabei versuchte sie, sich ihr Training wieder ins Gedächtnis zu rufen – jene langen Stunden, in denen Gideon ihr alles über Gewichtsverteilung, Schnelligkeit und Griffhaltung beigebracht hatte. Doch letztendlich folgte sie ihrem Instinkt, der sie dazu bewog, der Kreatur den Schürhaken in den Rumpf zu rammen, genau in die Stelle, wo sich bei einem echten Lebewesen der Brustkorb befunden hätte.

Als sich die Waffe in die Flanke des Wesens bohrte, hörte Tessa, wie irgendetwas knirschte – und dann stieß der Dämon auch schon ein hundeartiges Heulen aus und rollte von Henry herab. Der Schürhaken fiel scheppernd zu Boden, schwarzes Sekret sprühte in alle Richtungen und der Gestank von Rauch und Verwesung erfüllte die Luft. Tessa taumelte rückwärts, wobei sich ihr Absatz im aufgerissenen Saum ihres Kleids verfing. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, während Henry sich herumwarf, einen unterdrückten Fluch ausstieß und dem Dämon mit einem Dolch, auf dessen Klinge helle Runen leuchteten, die Kehle aufschlitzte. Der Dämon brachte ein letztes Röcheln hervor und fiel dann wie eine Pappfigur in sich zusammen.

Schwankend stand Henry auf. Schwarzes Blut und Dämonensekret klebten in seinem rotblonden Haar. Seine Kampfmontur war an der Schulter aufgerissen und eine scharlachrote Flüssigkeit sickerte aus der Wunde. »Tessa!«, rief er und hastete zu ihr, um ihr aufzuhelfen. »Beim Erzengel, wir sind ja ein schönes Paar«, bemerkte er auf seine typische, wehmütige Weise und musterte sie besorgt. »Du bist nicht etwa verwundet, oder?«

Tessa schaute an sich herab und verstand dann, was er meinte: Ihr Kleid starrte vor Dämonensekret und über ihren Unterarm verlief eine hässliche Schnittwunde, die sie sich bei ihrem Sturz in die Glasscherben zugezogen hatte. Die Verletzung verursachte zwar kaum Schmerzen, hatte aber stark geblutet. »Mir geht es den Umständen entsprechend gut«, erklärte sie. »Aber was ist mit dir, Henry? Was war das für ein Ding?«

»Das war ein Wächterdämon. Ich wollte gerade Benedicts Schreibtisch durchsuchen und muss dabei irgendetwas verstellt oder berührt haben, das ihn zum Leben erweckte. Plötzlich quoll schwarzer Rauch aus einer der Schubladen und verwandelte sich in das da. Es hat mich angesprungen …«

»… und dir mit seinen Krallen die Haut aufgerissen«, stellte Tessa besorgt fest. »Du blutest …«

»Nein, das war ich selbst. Ich bin auf meinen Dolch gefallen«, räumte Henry kleinlaut ein und zog eine Stele aus seinem Gürtel. »Aber bitte erzähl Charlotte nichts davon.«

Tessa musste ein Lächeln unterdrücken. Dann erinnerte sie sich jedoch wieder an den Ernst der Situation, durchquerte rasch das Zimmer und zog die Vorhänge vor den hohen Fenstern zurück. Von hier aus bot sich ein Blick über den Park mit seinen grünen Buchsbaumhecken und bereits winterlich verblassten Gräsern, aber leider nicht über den italienischen Garten, da sie sich im abgewandten Teil des Hauses befanden. »Ich muss los«, sagte sie. »Will und Jem und Cecily … sie kämpfen gerade gegen dieses Schlangenwesen. Es hat Tatiana Blackthorns Mann getötet. Ich musste sie zur Kutsche zurückschleppen, da sie fast in Ohnmacht gefallen wäre.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann sagte Henry mit seltsamer Stimme: »Tessa.«

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass er gerade dabei gewesen war, sich eine Heilrune auf den Unterarm aufzutragen, jetzt aber auf die gegenüberliegende Wand starrte – auf die Wand, deren dunkle Flecken Tessa bereits vorher bemerkt hatte. Nun erkannte sie jedoch, dass es sich nicht um irgendwelche Dreckspritzer handelte, sondern um große Buchstaben, die jemand offenbar mit schwarzem Blut auf die Tapete aufgetragen hatte.

DIE HÖLLENGERÄTE KENNEN KEINE GNADE
DIE HÖLLENGERÄTE KENNEN KEINE REUE
DIE HÖLLENGERÄTE KENNEN KEINE GRENZEN
DIE HÖLLENGERÄTE WERDEN NIEMALS AUFGEBEN

Und darunter, unterhalb der krakeligen Inschrift, befand sich ein letzter Satz, der kaum lesbar war – als hätte der Schreiber die Kontrolle über seine Hand verloren. Tessa sah vor ihrem inneren Auge, wie Benedict sich in diesem Raum eingesperrt hatte, durch die Verwandlung allmählich den Verstand verlor und die Worte mit seinem eigenen dämonenschwarzen Blut an die Wand malte.

MÖGE GOTT ERBARMEN MIT UNSEREN SEELEN HABEN

Der Wurm attackierte – und Will konnte seinem Maul nur durch eine blitzschnelle Vorwärtsrolle entkommen. Hastig sprang er auf die Beine und stürmte zum anderen Ende des riesigen Wesens, bis er den hin und her peitschenden Schwanz erreichte. Als er herumwirbelte, sah er, dass der Dämon wie eine angriffslustige Kobra über Gideon und Gabriel aufragte, in dieser Haltung jedoch verharrte. Erkannte Benedict vielleicht seine Kinder? Empfand er noch irgendetwas für sie, fragte Will sich verwundert. Doch er vermochte es nicht zu sagen.

Cecily hatte etwa die Hälfte der Eibe erklommen und klammerte sich an einen Ast.

Will konnte nur hoffen, dass sie dortbleiben würde. Rasch wandte er sich Jem zu und hob die Hand, damit sein Parabatai ihn sehen konnte. Vor Jahren schon hatten sie eine Reihe von Gesten entwickelt, mit denen sie sich mitten im Kampfgetümmel verständigen konnten. Jems Augen leuchteten zustimmend auf und er warf Will seinen Stockdegen zu. Die Waffe wirbelte kopfüber um die eigene Achse und flog durch die Luft, direkt zu Will, der sie mit einer Hand auffing und den Mechanismus betätigte. Sofort schoss die Klinge aus dem Stock hervor. Will hieb damit auf den Schwanz ein und schlug eine tiefe Kerbe in die ledrige Haut. Wütend fuhr der Wurm herum und heulte laut auf, als Will erneut zuschlug und den Schwanz vom Rumpf abtrennte. Benedicts ganzer Körper zuckte wild hin und her, worauf eine Fontäne klebriges Dämonensekret in alle Richtungen schoss und Will durchnässte. Bestürzt keuchte er auf und duckte sich, doch seine Haut brannte bereits höllisch.

»Will!« Jem stürmte zu ihm, während Gideon und Gabriel mit ihren Waffen auf den Dämonenschädel einschlugen, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Als Will sich das ätzende Sekret aus den Augen wischte, ließ Cecily sich aus der Eibe herabfallen und landete rittlings auf dem Rücken des Wurms.

Entsetzt brüllte Will auf und der Stockdegen entglitt seiner Hand. So etwas war ihm noch nie passiert: Er hatte noch nie mitten im Kampf seine Waffe fallen lassen. Aber vor ihm klammerte sich seine kleine Schwester mit eiserner Entschlossenheit an den Rücken des gewaltigen Dämonenwurms, wie eine winzige Fliege im Fell eines zotteligen Hundes. Während Will von Grauen gepackt zusah, zückte Cecily ihren Dolch und trieb ihn dem Dämon in den Nacken.

Was denkt sie denn, was sie damit ausrichten kann? Als ob so ein winziger Dolch eine Kreatur von dieser Größe töten könnte!

»Will, Will!«, rief Jem ihm drängend ins Ohr und Will erkannte, dass er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. Denn der Kopf des Dämons schwang in Cecilys Richtung, mit weit aufgerissenem, speicheltriefendem Maul …

Cecily ließ den Dolchgriff los und rollte sich zur Seite, vom Rumpf des Wurms hinunter. Seine spitzen Zähne verpassten sie nur um Haaresbreite und schlugen sich tief ins eigene Fleisch. Schwarzes Sekret quoll in einem Schwall hervor, der Wurm riss seinen Kopf zurück und heulte gespenstisch auf. Eine tiefe Wunde klaffte in seiner Seite; Fetzen seiner eigenen Haut baumelten von seinen Zähnen. Will starrte noch sprachlos darauf, da hob Gabriel schon seinen Bogen und feuerte einen Pfeil ab.

Das Geschoss flog schnurgerade ins Ziel und bohrte sich in eines der lidlosen trübschwarzen Augen des Wurms. Die Kreatur bäumte sich auf – und dann sank der Schädel nach vorn und der Dämon fiel in sich zusammen und verschwand aus dieser Dimension, wie alle Dämonen, wenn sie ihr Leben aushauchten.

Gabriels Bogen landete klirrend auf dem Boden, was Will jedoch kaum wahrnahm. Die niedergetrampelte Erde war blutgetränkt vom verstümmelten Körper des Wurms. Inmitten der klebrigen schwarzen Substanz kam Cecy langsam auf die Beine und hielt sich keuchend die rechte Hand, die in einem merkwürdigen Winkel vom Gelenk abstand.

Will spürte nicht einmal, wie er sich in Bewegung setzte, um zu ihr zu stürmen – das wurde ihm erst bewusst, als Jem ihn mit einer Hand aufhielt. Aufgebracht fuhr er seinen Parabatai an: »Meine Schwester …«

»Dein Gesicht«, erwiderte Jem mit bemerkenswerter Ruhe, in Anbetracht der Situation. »Du bist von Kopf bis Fuß mit Dämonenblut beschmiert, William, und das verätzt dir die Haut. Ich muss dir eine Iratze verpassen, bevor der Schaden nicht mehr rückgängig zu machen ist.«

»Lass mich los«, beharrte Will und versuchte, sich loszureißen. Doch Jems kühle Hand hielt ihn im Nacken fest und dann spürte er das kurze Brennen der Stele an seinem Handgelenk, und der Schmerz, den er bis dahin nicht richtig wahrgenommen hatte, ebbte langsam ab.

Als Jem ihn freigab, hörte Will, dass er mit einem schmerzerfüllten Zischen die Luft einzog; etwas Dämonensekret war ihm auf die Finger getropft. Unschlüssig blieb Will stehen, bis Jem ihn mit einer Handbewegung fortwedelte und sich selbst eine Heilrune auftrug.

Diese Verzögerung hatte nur einen Moment gedauert, doch als Will seine Schwester schließlich erreichte, war Gabriel bereits an ihrer Seite. Er hatte ihr eine Hand unters Kinn gelegt und musterte besorgt ihr Gesicht. Verwundert schaute Cecily zu ihm hoch.

»Nimm die Finger von meiner Schwester!«, brüllte Will, worauf Gabriel einen Schritt zurücktrat und die Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresste. Eine Sekunde später traf auch Gideon ein und gemeinsam sahen sie zu, wie Will Cecily mit einer Hand an der Schulter festhielt und mit der anderen Hand seine Stele zückte. Cecily schaute ihn aus blitzenden blauen Augen an, als er erst eine Iratze und dann eine Mendelinrune auf die andere Seite ihres Halses auftrug. Ihr schwarzes Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst und sie sah wieder aus wie das wilde Mädchen aus seinen Kindheitserinnerungen – entschlossen und absolut furchtlos.

»Bist du verwundet, cariad?« Das Wort kam ihm über die Lippen, ehe er es verhindern konnte – ein Kosename aus ihrer gemeinsamen Kindheit, den er fast schon vergessen hatte.

»Cariad?«, wiederholte Cecily, deren Augen ungläubig funkelten. »Ich bin unversehrt.«

»Nicht ganz«, widersprach Will und zeigte auf ihr verstauchtes Handgelenk und die Schnittwunden in ihrem Gesicht, die sich bereits schlossen, da die Iratze ihre Wirkung entfaltete. Sein Zorn war inzwischen derart angewachsen, dass er nicht hörte, wie Jem hinter ihm zu husten begann – ein Geräusch, das ihn normalerweise sofort hätte handeln lassen. »Cecily, was hast du dir nur dabei gedacht …«

»Das war eines der tapfersten Kampfmanöver, das ich je gesehen habe«, unterbrach Gabriel Will, den Blick fest auf Cecily gerichtet. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Überraschung und einer anderen Empfindung. In seinen Haaren klebte Blut und Dreck, wie bei allen Umstehenden, doch seine grünen Augen leuchteten.

Cecily errötete. »Ach, ich hab doch nur …«, setzte sie an, verstummte dann aber und schaute mit schreckgeweiteten Augen an Will vorbei.

Jem hustete erneut. Und dieses Mal hörte Will ihn und drehte sich genau in dem Moment um, als sein Parabatai auf die Knie sank.