BIS ZUR LETZTEN STUNDE
Nicht, ich will nicht,
Aas-Labsal, Verzweiflung, nicht schwelgen in dir;
Noch aufzwirnen – ob sie schon schlaff sind – diese letzten
Fasern
Mensch
In mir oder, zu Tod erschöpft, aufschrein: Ich
kann nicht mehr. Ich kann;
Kann etwas, hoffen, wünschen Tages
Anbruch,
nicht wählen, nicht zu sein.
GERARD MANLEY HOPKINS, »AAS-LABSAL«
Jem lehnte gegen den Schlag der Institutskutsche, mit geschlossenen Augen und kreidebleichem Gesicht. Will stand neben ihm, eine Hand fest um seine Schultern gelegt. Als Tessa zu den beiden eilte, wusste sie, dass es sich dabei nicht nur um eine brüderliche Geste handelte: Wills eiserner Griff war so ziemlich das Einzige, das Jem noch auf den Beinen hielt.
Henry und sie hatten die Todesschreie des Wurms gehört. Sekunden später war Gabriel ihnen entgegengestürmt und hatte atemlos vom Tod der Kreatur erzählt und anschließend davon, was mit Jem passiert war. In dem Moment war um Tessa herum alles weiß geworden, als hätte sie einen plötzlichen, harten Schlag ins Gesicht bekommen.
Gabriels Bericht enthielt Worte, die Tessa lange nicht gehört hatte. Worte, mit denen sie insgeheim jedoch ständig gerechnet hatte und die ihr in Albträumen begegnet waren, aus denen sie dann ruckartig und nach Luft schnappend hochgefahren war: »Jem«, »zusammengebrochen«, »keuchend«, »Blut«, »Will«, »Will ist bei ihm«, »Will …«
Natürlich war Will bei ihm.
Die anderen standen unschlüssig um sie herum: Gabriel und Gideon Lightwood mit ihrer Schwester Tatiana, die erstaunlicherweise den Mund hielt. Vielleicht drangen ihre hysterischen Anfälle aber auch einfach nicht zu Tessa durch. Cecily war ebenfalls in der Nähe und Henry stand unbehaglich neben Tessa, als würde er sie gern trösten, wüsste aber nicht, wo er anfangen sollte.
Wills Blick kreuzte sich mit Tessas, als sie näher trat und dabei fast erneut über ihren abgerissenen Saum gestolpert wäre. Einen Moment lang verstanden sie sich blind: Dank der gemeinsamen Sorge um Jem konnten sie einander direkt in die Augen schauen. Wenn es um Jem ging, waren sie beide gleichermaßen entschlossen und unbeirrbar. Tessa sah, wie sich Wills Hand fester um Jems Schultern legte.
»Sie ist hier«, sagte er.
Langsam öffnete Jem die Augen.
Tessa musste sich zwingen, ihn nicht bestürzt anzustarren. Seine Pupillen waren total geweitet und die Iris bildete nur noch einen schmalen silbernen Ring um die schwarze Mitte.
»Ni shou shang le ma, quin ai de?«, wisperte Jem.
Auf Tessas Drängen hin hatte Jem begonnen, sie in Mandarin zu unterrichten, und sie verstand zumindest »quin ai de«. Meine Liebe, mein Liebling. Tessa griff nach Jems Hand und drückte sie. »Jem …«
»Bist du verwundet, mein Liebling?«, sagte Will. Seine Stimme wirkte so gleichmütig wie der Ausdruck in seinen Augen. Aber für einen Moment schoss Tessa das Blut in die Wangen und sie schaute rasch auf ihre Hand, die Jems hielt. Seine Finger waren bleicher als ihre eigenen, wie die einer Porzellanpuppe. Wie hatte sie nur übersehen können, dass er so krank war?
»Danke für die Übersetzung, Will«, sagte sie, ohne dabei den Blick von ihrem Verlobten abzuwenden. Jem und Will waren beide mit schwarzem Sekret beschmiert, aber an Jems Kinn und Hals klebten auch rote Blutspritzer. Sein eigenes Blut.
»Ich bin nicht verwundet«, wisperte Tessa und dann dachte sie, Nein, das reicht nicht, das reicht überhaupt nicht. Du musst stark für ihn sein. Sie straffte die Schultern und umfasste Jems Hand noch fester als zuvor. »Wo ist seine Arznei?«, wandte sie sich entschlossen an Will. »Hat er sie nicht genommen, bevor wir das Institut verlassen haben?«
»Es wäre schön, wenn du nicht über meinen Kopf hinweg reden würdest, als wäre ich nicht anwesend«, sagte Jem, allerdings ohne zornigen Unterton. Dann drehte er den Kopf und murmelte Will etwas zu, woraufhin dieser nickte und seine Schulter losließ.
Tessa konnte die Spannung in Wills Haltung sehen. Er wirkte bereit … bereit wie eine Katze zum Sprung, falls Jem zusammensacken oder umkippen sollte, um ihn dann wieder aufzufangen.
Doch Jem hielt sich auch ohne Hilfe auf den Beinen. »Ich bin viel stärker, wenn Tessa in meiner Nähe ist. Das hab ich dir doch gesagt«, erklärte er, noch immer mit leiser Stimme.
Bei diesen Worten senkte Will den Kopf, sodass Tessa ihm nicht in die Augen schauen konnte. »Das sehe ich«, sagte er. »Tessa, wir haben keine Arznei dabei. Und ich glaube, dass er das Institut verlassen hat, ohne sie zu nehmen, obwohl er das nicht zugeben würde. Bitte fahr mit ihm in der Kutsche zum Institut zurück und gib gut auf ihn acht – jemand muss ein wachsames Auge auf ihn haben.«
Jem holte gequält Luft. »Die anderen …«
»Ich werde die Kutsche lenken. Das ist kein Problem; schließlich kennen Balios und Xanthos den Weg. Henry kann die Kutsche der Lightwoods zum Institut fahren.« Will wirkte forsch und effizient, zu forsch und effizient für ein Dankeswort; aber das schien er auch gar nicht zu wollen. Rasch half er Tessa, Jem in die Kutsche zu bugsieren, wobei er sorgfältig darauf achtete, weder ihre Schulter zu streifen noch versehentlich ihre Hand zu berühren. Dann ging er zu den anderen, um ihnen den Plan zu erläutern. Tessa schnappte noch auf, dass Henry erneut ins Haus wollte, um Benedicts Aufzeichnungen zu holen, bevor sie den Kutschschlag zuzog und damit Jem und sich in wohltuende Stille hüllte.
»Was ist im Haus passiert?«, fragte Jem, als sie durch das weit geöffnete Tor des Lightwood-Anwesens ratterten. Er war noch immer leichenblass, hatte den Kopf gegen das Polster gelehnt und die Lider halb gesenkt. Seine Wangen glänzten fiebrig. »Henry hat etwas von Benedicts Studierzimmer gesagt …«
»Benedict Lightwood ist in diesem Raum verrückt geworden«, erklärte Tessa und rieb Jems kalte Finger zwischen ihren Händen. »In der Zeit vor seiner Verwandlung – als Gabriel ihn nicht mehr dazu bewegen konnte, das Zimmer zu verlassen – muss er den Verstand verloren haben. Er hat irgendetwas an die Wand gekritzelt; es sah aus, als wäre es mit Blut geschrieben, irgendetwas über ›Die Höllengeräte‹ …«
»Damit muss er die Klockwerk-Armee gemeint haben.«
»Ja, das nehme ich auch an.« Tessa erschauderte leicht und rückte näher an Jem heran. »Vermutlich war es töricht von mir, aber in den letzten beiden Monaten schien alles so friedlich …«
»Dass du Mortmain ganz vergessen hattest?«
»Nein. ›Vergessen‹ auf keinen Fall.« Tessa blickte zum Fenster, obwohl sie nicht hinausschauen konnte. Sie hatte die Vorhänge vorgezogen, da das Licht Jem in den Augen zu schmerzen schien. »Ich hatte eher gehofft, dass er seine Aufmerksamkeit vielleicht auf etwas anderes gerichtet hätte.«
»Wir wissen nicht, ob das nicht möglicherweise sogar der Fall ist.« Jems Finger schlossen sich um Tessas. »Benedicts Tod mag eine Tragödie sein, aber dieses Stück wurde bereits vor langer Zeit verfasst. Das hier hat nichts mit dir zu tun.«
»In der Bibliothek befanden sich noch andere Dinge: Benedicts Aufzeichnungen und Dokumente. Seine Tagebücher. Henry nimmt alles mit ins Institut, um es sorgfältig zu untersuchen. Mein Name stand in einem der Bücher …« Tessa unterbrach sich. Wie konnte sie Jem mit diesen Dingen belasten, wenn es ihm so schlecht ging?
Es schien, als würde Jem ihre Gedanken lesen, denn er fuhr mit dem Daumen beruhigend über ihr Handgelenk und meinte: »Tessa, das ist nur ein vorübergehender Krankheitsschub. Er wird nicht lange andauern. Mir wäre es lieber, du würdest mir die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit, mag sie auch noch so bitter oder beängstigend sein. Denn dann kann ich dir die Last ein wenig nehmen. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert – weder ich noch sonst irgendjemand im Institut.« Er lächelte. »Dein Puls geht auf einmal schneller.«
Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, mag sie auch noch so bitter oder beängstigend sein. »Ich liebe dich«, sagte Tessa.
Jem schaute sie mit einem Leuchten in den Augen an, das sein schmales Gesicht noch schöner erscheinen ließ. »Wo xi wang ni ming tian ke yi jia gei wo.«
»Du …« Tessa runzelte die Stirn. »Du willst heiraten? Aber wir sind doch bereits verlobt. Ich glaube nicht, dass man sich zweimal verloben kann.«
Ihre Worte brachten ihn zum Lachen, das sich jedoch bald in einen krampfartigen Husten verwandelte. Tessa versteifte sich, aber der Anfall war nur kurz und nicht von Blut begleitet. »Ich habe gesagt, dass ich dich gleich morgen heiraten würde, wenn das möglich wäre«, erläuterte Jem.
Spielerisch warf Tessa den Kopf in den Nacken. »Morgen passt mir leider gar nicht, der Herr.«
»Aber du bist doch bereits passend angezogen«, bemerkte Jem lächelnd.
Tessa schaute an ihrem ruinierten goldenen Brautkleid herab. »Vielleicht für eine Hochzeit in einem Schlachthof«, räumte sie ein. »Ach, was soll’s. Das Kleid hat mir ohnehin nicht gefallen. Viel zu pompös.«
»Ich finde, du siehst wunderschön darin aus«, widersprach Jem mit sanfter Stimme.
Tessa lehnte den Kopf an seine Schulter. »Wir werden einen anderen Zeitpunkt finden«, sagte sie. »Einen anderen Tag, ein anderes Kleid. Einen Zeitpunkt, an dem es dir wieder gut geht und alles perfekt ist.«
»So etwas wie perfekt gibt es nicht«, erwiderte Jem, noch immer in sanftem Ton, aber aus seiner Stimme sprach eine abgrundtiefe Erschöpfung.
Sophie stand am Fenster ihrer kleinen Kammer. Sie hatte die Vorhänge zurückgezogen und starrte hinunter in den Innenhof. Seit dem Aufbruch der anderen waren einige Stunden vergangen und sie sollte eigentlich die Asche aus den Kaminstellen fegen, aber Bürste und Eimer standen unbenutzt neben ihren Füßen.
Sie hörte, wie Bridgets Stimme leise aus der Küche nach oben drang:
»Graf Richard hatte ein
Töchterlein;
Eine schöne Maid fürwahr.
Sie schenkte ihr Herz dem Willie fein,
der nicht ihres Standes war.«
Manchmal, wenn Bridget in besonders guter Sangeslaune war, dachte Sophie daran, sich ins Erdgeschoss zu schleichen und die Köchin in den Ofen zu stoßen, so wie die Hexe aus »Hänsel und Gretel«. Aber Charlotte würde das sicherlich alles andere als gutheißen. Selbst wenn Bridget genau in dem Moment über verbotene Liebe zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten sang, in dem Sophie sich innerlich dafür verwünschte, dass sie den Vorhangstoff in ihren Fingern zerknitterte, in Gedanken graugrüne Augen sah und sich sorgte: Ging es Gideon gut? War er verwundet? Konnte er gegen seinen eigenen Vater kämpfen? Wie schrecklich es für ihn sein musste, falls es wirklich dazu kam …
Quietschend schwang das Tor des Instituts auf und eine Kutsche ratterte in den Innenhof. Will saß auf dem Kutschbock. Sophie erkannte ihn sofort: Er hatte seinen Hut verloren und seine schwarzen Haare wehten im Fahrtwind. Kaum hatte er die Pferde zum Stehen gebracht, sprang er auch schon herunter, um Tessa beim Aussteigen behilflich zu sein. Selbst aus dieser Entfernung konnte Sophie erkennen, dass ihr goldenes Kleid vollkommen ruiniert war. Und dann half Will Jem die Stufen hinunter, der sich schwer auf die Schultern seines Parabatai stützen musste.
Sophie stockte der Atem. Obwohl sie nicht mehr für Jem schwärmte, lag er ihr immer noch am Herzen – alles andere wäre auch verwunderlich gewesen angesichts seiner Aufrichtigkeit, Liebenswürdigkeit und Güte. Der junge Herr Jem hatte sich ihr gegenüber stets freundlich verhalten. Sie war erleichtert gewesen, dass er während der vergangenen Monate keine seiner »schwierigen Phasen« durchgemacht hatte, wie Charlotte es formulierte. Obwohl Glück und Zufriedenheit seine Krankheit offenbar nicht heilen konnten, war er Sophie kräftiger und gesünder erschienen denn je …
Inzwischen hatten die drei den Innenhof verlassen und waren im Inneren des Instituts verschwunden. Cyril kam aus dem Stall gelaufen und kümmerte sich um die schnaubenden Pferde. Sophie holte tief Luft und ließ den Vorhang wieder herabfallen. Möglicherweise brauchte Charlotte jetzt ihre Hilfe, um Jem zu versorgen. Vielleicht gab es ja irgendetwas, das sie tun konnte … Widerstrebend löste sie sich vom Fenster, eilte aus dem Zimmer und dann die schmale Dienstbotenstiege hinunter.
Im Korridor stieß sie auf Tessa, die mit aschfahlem, angespanntem Gesicht unschlüssig vor Jems Zimmer stand. Durch die halb geöffnete Tür konnte Sophie Charlotte erkennen, die sich über Jem beugte, der auf dem Bett saß. Will lehnte am Kaminsims, mit verschränkten Armen und vor Sorge steifem Körper.
Tessa hob den Kopf, als sie Sophie sah, und etwas Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. »Sophie«, rief sie leise. »Sophie, Jem geht es nicht gut. Er hat einen weiteren…einen weiteren Krankheitsschub erlitten.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Tessa, es wird alles gut. Ich habe ihn schon mehrfach sehr krank erlebt, aber er hat diese Phasen jedes Mal überstanden und war danach so gesund wie ein Fisch im Wasser.«
Tessa schloss die Augen, unter denen tiefe Schatten lagen. Sie brauchte nicht auszusprechen, was sie beide dachten: Eines Tages würde der Moment kommen, in dem Jem einen Anfall erlitt und ihn nicht überstehen würde.
»Ich sollte jetzt wohl besser heißes Wasser holen«, fügte Sophie hinzu, »und saubere Tücher …«
»Ich sollte ihm diese Dinge bringen«, warf Tessa ein. »Und das würde ich auch, aber Charlotte sagte, ich solle erst einmal das Kleid wechseln, denn Dämonenblut könne bei zu langem Kontakt mit der Haut gefährlich sein. Sie hat Bridget losgeschickt, damit sie Tücher und Umschläge holt. Und Bruder Enoch müsste auch jeden Moment hier eintreffen. Und Jem will nichts davon wissen, aber …«
»Das reicht jetzt«, sagte Sophie mit fester Stimme. »Es hilft ihm auch nicht, wenn Sie Ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und ebenfalls erkranken. Ich helfe Ihnen schnell aus dem Kleid. Kommen Sie.«
Tessas Lider zuckten und sie schlug die Augen auf. »Meine liebe, vernünftige Sophie, du hast wie immer recht.« Sie setzte sich in Bewegung, durchquerte den Korridor, blieb dann vor ihrer eigenen Zimmertür stehen und drehte sich zu Sophie um. Ihre großen grauen Augen suchten das Gesicht des Dienstmädchens ab und dann nickte sie bestätigend, als hätte sich ihre Vermutung als richtig erwiesen. »Ihm geht es gut. Er wurde nicht verwundet.«
»Der junge Herr Jem?«
Tessa schüttelte den Kopf. »Gideon Lightwood.«
Sophie errötete.
Gabriel war sich nicht sicher, warum er im Salon des Instituts saß; sein Bruder hatte ihn gebeten, dort auf ihn zu warten. Trotz der jüngsten Ereignisse war er es noch immer gewohnt, das zu tun, was Gideon von ihm verlangte. Mit Erstaunen nahm er nun zur Kenntnis, wie schlicht dieser Raum wirkte – in nichts zu vergleichen mit den prachtvollen Empfangsräumen, die sowohl das Haus der Lightwoods in Pimlico als auch ihr Anwesen in Chiswick auszeichnete. Eine verblasste Rosentapete zierte die Wände, die mit Tintenflecken besprenkelte Oberfläche des Schreibtischs zeigte Spuren von Brieföffnern und Schreibfedern und die Feuerstelle war rußig. Über dem Kamin hing ein goldgerahmter, fleckiger Spiegel.
Gabriel warf einen Blick auf sein Spiegelbild. Seine Kampfmontur war am Hals eingerissen und rote Striemen an seinem Kiefer zeugten von einer verheilenden Wunde. Blut klebte an seiner Kleidung. Dein eigenes Blut oder das deines Vaters?
Rasch schob er den Gedanken beiseite. Seltsam, wie sehr er ihrer Mutter Barbara ähnelte, überlegte er. Sie war groß und schlank gewesen, mit braunen Locken und Augen, die leuchtend grün geschimmert hatten, wie das Gras an der Uferböschung hinter dem Haus. Dagegen besaß Gideon größere Ähnlichkeit mit ihrem Vater – er war breitschultrig und kräftig und seine Augen wirkten eher grau als grün. Welch eine Ironie des Schicksals, denn er, Gabriel, hatte das Temperament ihres Vaters geerbt: dickköpfig, schnell aufbrausend und nachtragend. Gideon und Barbara waren die Friedfertigen in der Familie gewesen, harmonisch und beständig, in sich ruhend. Beide erinnerten ihn wesentlich mehr an …
In dem Moment trat Charlotte Branwell in einem weiten Kleid durch die offene Salontür; ihre Augen leuchteten wie die eines Vogels. Bei jeder Begegnung wunderte Gabriel sich aufs Neue, wie klein sie war und wie turmhoch er sie überragte. Was hatte Konsul Wayland sich nur dabei gedacht, solch einem kleinen Persönchen Macht über das Institut und alle Schattenjäger Londons zu verleihen?
»Gabriel.« Charlotte neigte leicht den Kopf. »Dein Bruder meinte, du seist nicht verwundet worden.«
»Mir geht es gut«, erwiderte Gabriel kurz angebunden und wusste im selben Moment, dass seine Worte unhöflich geklungen hatten – was er eigentlich gar nicht beabsichtigt hatte. Aber sein Vater hatte ihm jahrelang eingetrichtert, welch eine Närrin Charlotte sei, wie nutzlos und manipulierbar. Und obwohl er wusste, dass Gideon diese Meinung nicht teilte – und zwar in einem Maße, dass er seiner Familie den Rücken gekehrt hatte und hierher ins Institut gezogen war –, fiel es Gabriel schwer, die Tiraden seines Vaters zu ignorieren. »Ich dachte, Sie wären bei Carstairs«, fügte er hinzu.
»Bruder Enoch ist gerade eingetroffen, zusammen mit einem weiteren Bruder der Stille. Die beiden haben alle aus Jems Zimmer geschickt. Seitdem läuft Will vor seiner Tür unruhig auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Armer Junge.« Charlotte warf Gabriel einen kurzen Blick zu und ging dann zum Kamin. In ihren Augen lag ein Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit, den sie jedoch durch rasches Senken der Lider kaschierte. »Aber genug davon. Wie ich höre, ist deine Schwester bereits auf dem Weg zum Familiensitz der Blackthorns in Kensington«, fuhr sie fort. »Gibt es irgendjemanden, den ich in deinem Auftrag benachrichtigen soll?«
»Benachrichtigen?«
Charlotte blieb beim Kamin stehen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Schließlich musst du irgendwohin, Gabriel – es sei denn, du möchtest, dass ich dich mit nichts als einem Hemd bekleidet vor die Tür setze.«
Vor die Tür setzen? War diese schreckliche Frau tatsächlich im Begriff, ihn aus dem Institut zu werfen? Sofort fielen ihm wieder die Worte seines Vaters ein: Die Fairchilds interessieren sich für nichts und niemanden, außer für sich selbst und das Gesetz! »Ich … unser Haus in Pimlico …«
»Der Konsul wird in Kürze darüber informiert werden, was sich in Lightwood House zugetragen hat«, sagte Charlotte. »Beide Londoner Domizile deiner Familie werden im Namen des Rats konfisziert, zumindest so lange, bis man sie gründlich durchsucht hat und feststeht, dass euer Vater dort nichts hinterlassen hat, was weitere Hinweise liefern könnte.«
»Hinweise worauf?«
»Auf die Pläne deines Vaters«, erklärte Charlotte unbeirrt. »Auf seine Verbindung zu Mortmain, sein Wissen über Mortmains Pläne. Über die Höllengeräte.«
»Ich hab von diesen verdammten Höllengeräten noch nie etwas gehört!«, protestierte Gabriel und errötete dann. Er hatte geflucht, noch dazu in Gegenwart einer Dame – nicht, dass Charlotte mit einer anderen Dame der Gesellschaft zu vergleichen gewesen wäre.
»Das glaube ich dir sogar«, sagte sie. »Ob Konsul Wayland dir Glauben schenken wird, steht auf einem anderen Blatt, aber so stehen die Dinge nun einmal. Wenn du mir nun eine Adresse geben würdest …«
»Aber ich habe keine andere Adresse«, erwiderte Gabriel verzweifelt. »Wohin soll ich Ihrer Meinung nach denn gehen?«
Charlotte schaute ihn ruhig an, eine Augenbraue fragend hochgezogen.
»Ich will bei meinem Bruder bleiben«, verkündete Gabriel schließlich. Er war sich durchaus darüber im Klaren, dass er bockig und wütend klang, wusste sich jedoch keinen anderen Rat.
»Aber dein Bruder lebt jetzt hier«, wandte Charlotte ein. »Und du hast keinen Zweifel daran gelassen, was du vom Institut und meinem Anspruch auf den Posten seiner Leiterin hältst. Jem hat mir von deinen Überzeugungen erzählt. Dass mein Vater deinen Onkel dazu gebracht hätte, sich das Leben zu nehmen. Was übrigens nicht stimmt – aber ich erwarte nicht, dass du mir glaubst. Allerdings stellt sich mir die Frage, warum du dennoch hierbleiben willst.«
»Das Institut ist eine Zufluchtsstätte.«
»Hatte dein Vater vor, es als Zufluchtsstätte zu führen?«
»Das weiß ich nicht! Ich habe keine Ahnung, welche Pläne er schmiedet … geschmiedet hat!«
»Und warum hast du ihm dann zugestimmt?«, hakte Charlotte leise, aber unerbittlich, nach.
»Weil er mein Vater war!«, brüllte Gabriel mit einem Schluchzen in der Kehle. Er wandte sich von Charlotte ab, schlang reflexartig die Arme um seinen Körper und schaukelte hin und her, als könnte er dadurch verhindern, vollends zusammenzubrechen.
Erinnerungen aus den vergangenen Wochen, die Gabriel nach besten Kräften zu unterdrücken versucht hatte, drohte ihn zu überwältigen: die vielen Stunden allein im Haus, nachdem fast alle Dienstboten fort waren; die Geräusche, die aus den Räumen im Obergeschoss gedrungen waren; die Schreie in der Nacht; das Blut auf den Treppen am nächsten Morgen; das wirre Zeug, das sein Vater hinter der verschlossenen Bibliothekstür von sich gab, als könnte er keine richtigen Worte mehr bilden …
»Wenn Sie vorhaben, mich auf die Straße zu werfen …«, setzte Gabriel mit schrecklicher Verzweiflung an, »dann tun Sie es jetzt sofort. Ich möchte mich nicht an die Hoffnung klammern, ich hätte ein Heim, wenn das in Wahrheit nicht der Fall ist. Oder meinen Bruder noch einmal zu sehen, wenn auch das nicht geschehen wird.«
»Glaubst du nicht, er würde dir nachgehen? Dich suchen und finden, egal, wo du bist?«
»Ich denke, er hat bewiesen, wer ihm am meisten am Herzen liegt – und das bin nicht ich«, erwiderte Gabriel. Er richtete sich langsam auf und ließ die Hände herabsinken. »Schicken Sie mich fort oder lassen Sie mich bleiben. Ganz wie Sie wollen. Aber ich werde nicht betteln.«
Charlotte seufzte. »Das brauchst du auch nicht«, sagte sie. »Ich habe noch nie jemanden fortgeschickt, der mir gesagt hat, er könne sonst nirgendwohin. Und ich werde auch nicht jetzt damit anfangen. Eine Sache erwarte ich allerdings von dir. Die Tatsache, dass ich jemandem gestatte, im Institut zu leben, mitten im Herzen der Brigade – diese Tatsache bedeutet, dass ich mein volles Vertrauen in die ehrlichen Absichten dieser Person setze. Lass es mich nicht bereuen, dass ich dir vertraut habe, Gabriel Lightwood.«
Die Schatten in der Bibliothek waren länger geworden. Tessa saß in einem Lichtkegel am Fenster, neben einer Lampe mit blauem Schirm. Ein Buch lag seit mehreren Stunden aufgeschlagen auf ihrem Schoß, aber sie hatte sich nicht darauf konzentrieren können. Ihre Augen huschten über die Worte auf den Seiten, ohne deren Bedeutung wirklich aufzunehmen, und Tessa musste regelmäßig innehalten, weil sie sich zu erinnern versuchte, welche Person sich hinter einem Namen versteckte oder welche Rolle sie im Roman spielte.
Sie hatte gerade ein weiteres Mal mit Kapitel fünf angefangen, als das Knarren von Holzdielen sie von ihrer Lektüre aufschauen ließ: Will stand direkt vor ihr, mit feuchten Haaren. In seinen schlanken Fingern hielt er seine Handschuhe.
»Will.« Tessa legte das Buch auf die Fensterbank. »Du hast mich erschreckt.«
»Ich wollte dich nicht stören«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Wenn du gerade liest …« Er wandte sich zum Gehen.
»Nein, nein«, wiegelte Tessa rasch ab, worauf er stehen blieb und ihr einen Blick über die Schulter zuwarf. »Ich kann mich einfach nicht auf die Worte konzentrieren. Die Gedanken in meinem Kopf sind lauter.«
»Ich weiß, was du meinst«, räumte Will ein und drehte sich vollständig zu Tessa um. Er hatte seine blutbefleckte Kleidung gewechselt und seine Haut wirkte wieder unversehrt, bis auf ein paar blassrosa Striemen am Hals, die unter seinem Kragen verschwanden – offensichtlich entfalteten die Heilrunen ihre Wirkung.
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten über meinen…gibt es Neuigkeiten über Jem?«, fragte Tessa.
»Sein Zustand ist unverändert«, erklärte Will.
Im Grunde hatte Tessa das schon vermutet, denn wenn sich Jems Zustand verändert hätte, wäre Will jetzt nicht hier.
»Die Stillen Brüder lassen noch immer niemanden in sein Zimmer, nicht einmal Charlotte«, fügte er hinzu. »Aber warum sitzt du hier? In der fast dunklen Bibliothek?«
»Benedict hat eine Nachricht an die Wände seines Studierzimmers geschrieben«, sagte Tessa leise. »Kurz bevor er sich in diese Kreatur verwandelt hat oder vielleicht auch im Verlauf der Verwandlung … ›Die Höllengeräte kennen keine Gnade. Die Höllengeräte kennen keine Reue. Die Höllengeräte kennen keine Grenzen. Die Höllengeräte werden niemals aufgeben.‹«
»Die Höllengeräte? Ich nehme an, damit hat er Mortmains Klock-werk-Armee gemeint. Obwohl wir von denen in den letzten Monaten ja nicht viel zu sehen bekommen haben.«
»Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht jeden Moment wieder auftauchen können«, erwiderte Tessa und blickte auf den Bibliothekstisch mit der verkratzten Holzoberfläche. Wie oft mussten Will und Jem hier zusammengesessen haben, gemeinsam gelernt und ihre Initialen in die Tischplatte geschnitzt haben – wie ganz normale Schuljungen, denen langweilig war. »Ich stelle für euch alle eine Gefahr dar, wenn ich länger hier im Institut bleibe«, sagte Tessa nachdenklich.
»Tessa, darüber haben wir doch schon ausführlich gesprochen. Nicht du bist die Gefahr. Du bist zwar das, was Mortmain will, aber wenn du nicht hier in der Sicherheit des Instituts wärst, könnte er dich leicht in seine Gewalt bringen. Und wer weiß, welche Zerstörung er dann möglicherweise mit deinen Kräften anrichten würde? Wir wissen zwar nicht, was er genau vorhat…aber es besteht kein Zweifel daran, dass er dich für irgendetwas benutzen will und dass es in unser aller Interesse ist, dich von ihm fernzuhalten. Und das ist keine Uneigennützigkeit. Wir Schattenjäger sind nicht selbstlos.«
Bei diesen Worten schaute Tessa auf. »Ich glaube, ihr handelt sehr selbstlos.« Als Will missbilligend schnaubte, fügte sie hinzu: »Du weißt doch, dass das, was ihr tut, beispielhaft ist. Zugegeben, den Rat zeichnet eine gewisse Kälte aus. Staub und Schatten sind wir. Aber ihr seid wie die Helden der Antike, wie Achill und Jason.«
»Achill wurde mit einem vergifteten Pfeil ermordet und Jason starb einsam und allein, begraben unter seinem eigenen Schiff. So sieht das Schicksal von Helden aus. Der Erzengel allein weiß, warum jemand auch nur den Wunsch verspürt, ein Held zu sein.«
Tessa betrachtete Will. Unter seinen blauen Augen lagen tiefe Schatten und seine Finger spielten nervös am Stoff seiner Ärmel, gedankenverloren, als wäre er sich dieser Handlung gar nicht bewusst. Monate … inzwischen waren mehrere Monate vergangen, seit sie beide einmal länger als nur einen kurzen Moment allein in einem Raum verbracht hatten, überlegte Tessa. Sie waren sich lediglich ein paar Mal im Korridor oder im Hof begegnet und hatten dabei kaum mehr als ein paar ungelenke Worte gewechselt. Dabei fehlten ihr seine Scherze, die Bücher, die er ihr immer geliehen hatte, das Lachen in seinen Augen. In Erinnerungen an den umgänglicheren Will vergangener Zeiten versunken, meinte sie selbstvergessen: »Ich muss immerzu an etwas denken, das du einmal zu mir gesagt hast.«
Überrascht schaute er sie an. »Ja, was denn?«
»Du hast gesagt, wenn du nicht weißt, was du tun sollst, stellst du dir manchmal vor, du wärst eine Figur aus einem Buch. Weil du auf diese Weise leichter wüsstest, was diese Person tun würde.«
»Vielleicht gebe ich nicht gerade die besten Ratschläge, wenn man in seinem Leben nach Glück strebt.«
»Nicht Glück. Jedenfalls nicht direkt. Ich möchte nur helfen … Gutes tun …« Tessa verstummte und seufzte. »Ich habe schon so viele Bücher gelesen, aber Ratschläge habe ich darin nicht finden können. Du hast gesagt, du seist wie Sydney Carton …«
Will gab ein Schnauben von sich und ließ sich in einem der Sessel auf der gegenüberliegenden Tischseite nieder. Seine Lider waren gesenkt und die langen schwarzen Wimpern verdeckten seine Augen.
»Und ich denke, ich weiß, was das aus uns anderen macht«, fuhr Tessa fort. »Nur will ich nicht Lucie Manette sein, denn sie hat nichts zu Charles’ Rettung beigetragen; sie hat Sydney alles allein machen lassen. Und war sehr grausam zu ihm.«
»Charles gegenüber?«, fragte Will.
»Nein, zu Sydney«, erklärte Tessa. »Er wollte ein besserer Mensch werden, aber sie hat ihm nicht dabei geholfen.«
»Aber das konnte sie doch gar nicht. Sie war mit Charles Darney verlobt.«
»Trotzdem war das nicht sehr nett«, wandte Tessa ein.
Will sprang so rasch von dem Sessel auf, wie er sich hatte hineinfallen lassen. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf den Tisch. Im Schein der blauen Lampe leuchteten seine Augen tiefblau. »Manchmal muss man sich entscheiden, ob man nett oder ehrenhaft sein will«, sagte er. »Manchmal kann man nicht beides zugleich sein.«
»Was ist denn besser?«, wisperte Tessa.
Ein bitteres Lächeln umspielte Wills Mundwinkel. »Das hängt vom jeweiligen Buch ab.«
Tessa legte den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen zu schauen. »Kennst du dieses Gefühl?«, setzte sie an. »Wenn man ein Buch liest und genau weiß, dass das Ganze in einer Tragödie enden wird. Man kann die heranziehende Kälte und Dunkelheit förmlich spüren; man sieht bereits, wie sich das Netz um die Personen, die auf den Seiten leben und atmen, immer fester zuzieht. Aber man ist an die Geschichte gefesselt, als würde man hinter einer Kutsche hergeschleift. Und man kann einfach nicht loslassen oder den Kurs der Geschichte ändern.«
Tiefes Verständnis spiegelte sich in Wills blauen Augen – natürlich verstand Will sie – und Tessa fuhr hastig fort: »Im Moment habe ich das Gefühl, als würde genau das geschehen. Doch es passiert nicht irgendwelchen Personen in einem Buch, sondern meinen eigenen geliebten Freunden und Gefährten. Aber ich will nicht tatenlos herumsitzen, während die Tragödie unaufhaltsam auf uns zusteuert. Ich möchte das Ruder herumreißen, weiß aber nicht, wie ich das anstellen soll.«
»Du sorgst dich um Jem«, sagte Will.
»Ja«, bestätigte Tessa. »Und auch um dich.«
»Nein … verschwende deine Gedanken nicht an mich, Tess«, widersprach Will mit heiserer Stimme.
Bevor Tessa etwas darauf erwidern konnte, schwang die Tür auf und Charlotte betrat die Bibliothek. Sie wirkte erschöpft und müde.
Rasch wandte Will sich ihr zu: »Wie geht es Jem?«
»Er ist wach und kann reden«, erklärte Charlotte. »Er hat etwas Yin Fen genommen und die Stillen Brüder konnten seinen Kreislauf stabilisieren und die inneren Blutungen stoppen.«
Bei den Worten »innere Blutungen« verzog Will das Gesicht, als müsste er sich jeden Moment übergeben, und Tessa vermutete, dass sie ähnlich kreidebleich war.
»Jem darf einen Besucher empfangen«, fügte Charlotte hinzu. »Genau genommen, hat er sogar danach gefragt.«
Will und Tessa tauschten einen raschen Blick. Tessa wusste genau, was sie beide dachten: Wer von ihnen sollte ihn besuchen? Tessa war Jems Verlobte, aber Will war sein Parabatai, was alles andere an Bedeutung überragte.
Dennoch hatte Will gerade einen Schritt zurückgemacht, um Tessa den Vortritt zu lassen, als Charlotte sich unendlich erschöpft an ihn richtete: »Er hat nach dir gefragt, Will.«
Verblüfft starrte Will sie an. Dann warf er Tessa einen raschen Blick zu. »Ich …«
Tessa konnte die Mischung aus Überraschung und einem Anflug von Eifersucht nicht leugnen, die sie bei Charlottes Worten überkam, doch sie schob ihre Gefühle beiseite. Sie liebte Jem genug, um alles zu unterstützen, was er sich wünschte. Außerdem hatte er in der Regel seine Gründe. »Geh du«, wandte sie sich leise an Will. »Natürlich möchte er dich zuerst sehen.«
Will setzte sich in Bewegung, um Charlotte zu begleiten. Doch nach ein paar Schritten drehte er sich um und kehrte zu Tessa zurück. »Während ich bei Jem bin…würdest du mir in der Zwischenzeit einen Gefallen tun, Tessa?«, fragte er.
Tessa schaute zu ihm hoch und schluckte. Will stand zu nah, viel zu nah: Seine kantigen Konturen beherrschten ihr gesamtes Blickfeld, so wie seine tiefe Stimme ihre Ohren erfüllte. »Selbstverständlich«, sagte sie. »Worum geht es?«
An
Edmund und Branwen Herondale
Ravenscar Manor
West Riding, Yorkshire
Lieber Vater, liebe Mutter,
ich weiß, es war nicht sehr tapfer von mir, einfach so am frühen Morgen zu verschwinden, noch bevor Ihr aufgewacht seid … und Euch nur eine kurze Nachricht zu hinterlassen, in der ich Euch über meine Abwesenheit informierte. Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, Euch gegenüberzutreten, wusste ich doch, dass mein Beschluss unverrückbar feststand, auch wenn dieser mich zu einer der pflichtvergessensten Töchter macht.
Wie kann ich meine Entscheidung erklären? Wie soll ich erläutern, wie es dazu gekommen ist? Das Ganze erscheint mir, selbst heute noch, grenzenlos unvernünftig. Und tatsächlich ist hier jeder Tag noch verrückter als der vorherige. Du hattest recht, Vater, als Du gesagt hast, das Leben eines Schattenjägers sei wie ein Fiebertraum …
Wütend strich Cecily die gerade geschriebenen Zeilen durch, zerknüllte den Briefbogen mit einer Hand und ließ den Kopf auf den Tisch sinken.
Sie hatte schon so oft versucht, diesen Brief aufzusetzen, doch bisher ohne Erfolg. Vielleicht war auch jetzt nicht der richtige Moment dafür, überlegte sie, weil sie seit der Rückkehr zum Institut versucht hatte, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Alle hatten sich um Jem gekümmert, und nachdem Will sich noch im Garten der Lightwoods kurz nach ihren Verletzungen erkundigt hatte, war er ohne ein weiteres Wort im Institut verschwunden. Henry hatte sich auf die Suche nach Charlotte gemacht, Gideon hatte seinen Bruder beiseitegenommen und kurz darauf hatte Cecily sich allein auf den Eingangsstufen des Instituts wiedergefunden.
Leise war sie in ihr Zimmer gegangen und hatte sich auf ihrem weichen Bett zusammengerollt, ohne sich die Mühe zu machen, die Schattenjägermontur abzustreifen. Und während sie im dämmrigen Zimmer dalag und auf die gedämpften Geräusche von Londons Verkehr lauschte, die durch das Fenster hereindrangen, hatte sie plötzlich einen überwältigenden Anfall von Heimweh verspürt. Ihre Gedanken waren zu den grünen Hügeln von Wales gewandert und zu ihren Eltern – und im nächsten Augenblick war sie aufgesprungen, als hätte sie jemand aus dem Bett gestoßen, war zum Schreibtisch geeilt, hatte nach Papier und Stift gegriffen und sich in der Eile die Finger mit Tinte bekleckert. Dennoch wollten sich die richtigen Worte einfach nicht einstellen. Cecily spürte, dass Reue und Einsamkeit ihre gesamte Gefühlswelt beherrschten, aber es gelang ihr nicht, diese Empfindungen in Gedanken zu fassen, die sie ihren Eltern in einem Brief zumuten konnte.
Im selben Moment klopfte es an der Tür. Cecily griff hastig nach einem der Bücher auf ihrem Tisch, schlug es auf, als würde sie darin lesen, und rief dann: »Herein!«
Die Tür schwang auf und Tessa erschien zögernd im Türrahmen. Sie hatte das ruinierte Brautkleid gegen ein schlichtes Gewand aus blauem Musselin getauscht; unter dem Kragen glitzerten ihre beiden Halsketten mit dem Klockwerk-Engel und dem Jadeanhänger, den Jem ihr zur Verlobung geschenkt hatte.
Neugierig musterte Cecily Tessa. Obwohl die beiden freundschaftlich miteinander umgingen, standen sie einander nicht nahe. Tessa zeigte ihr gegenüber eine gewisse Zurückhaltung, die Cecily auf ihre Anwesenheit im Institut zurückführte; doch das war nur eine vage Vermutung. Hinzu kam, dass Tessa etwas Übersinnliches und Eigentümliches an sich hatte. Cecily wusste, dass Tessa ihre Gestalt wandeln und das Äußere einer anderen Person annehmen konnte – und genau das fand Cecily irgendwie unnatürlich. Wie sollte man das wahre Gesicht seines Gegenübers erkennen, wenn dieses so schnell gewechselt werden konnte wie die Kleidung am Körper? »Ja, bitte?«, fragte Cecily. »Was gibt es, Miss Gray?«
»Bitte nenn mich Tessa«, erwiderte die junge Frau und schloss die Tür. Tessa bat Cecily nicht zum ersten Mal, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen und sie zu duzen, aber eine Mischung aus Gewohnheit und Sturheit hatte sie bisher davon abgehalten. »Ich wollte mich erkundigen, ob mit dir alles in Ordnung ist und ob du vielleicht etwas brauchst«, sagte Tessa.
»Ah.« Cecily verspürte eine leichte Enttäuschung. »Mir geht es gut.«
Vorsichtig trat Tessa einen Schritt vor. »Ist das da etwa Große Erwartungen?«
»Ja«, bestätigte Cecily, verschwieg aber geflissentlich, dass sie Will beim Lesen des Romans gesehen und das Buch später mitgenommen hatte, um die Gedankenwelt ihres Bruders besser zu verstehen. Bis jetzt fühlte sie sich aber noch ziemlich ratlos: Pip war trübselig und Estella so grässlich, dass Cecily sie am liebsten geschüttelt hätte.
»Estella«, sagte Tessa leise. »›Bis zur letzten Stunde meines Lebens können Sie nichts anderes, als ein Teil meines Charakters bleiben, ein Teil des wenig Guten in mir und ein Teil des Bösen.‹«
»Heißt das, dass Sie ganze Passagen auswendig können, genau wie Will? Oder ist das eine Ihrer Lieblingsstellen?«, fragte Cecily.
»Ich habe zwar nicht so ein gutes Gedächtnis wie Will und auch nicht seine Mnemosynerune«, setzte Tessa an und trat langsam näher. »Aber ich liebe dieses Buch.« Ihre grauen Augen streiften über Cecily. »Warum trägst du noch immer deine Montur?«
»Eigentlich wollte ich noch einmal hinauf in den Fechtsaal«, erklärte Cecily. »Ich kann dort irgendwie gut nachdenken. Und außerdem ist es ja nicht so, als ob sich irgendjemand hier im Haus dafür interessieren würde, was ich tue oder lasse.«
»Du willst noch weitertrainieren? Cecily, du hast gerade erst einen Kampf überstanden!«, protestierte Tessa. »Soweit ich weiß, braucht man manchmal mehrere Heilrunen, bis alle Verletzungen vollständig verheilen … Bevor du jetzt erneut dein Training aufnimmst, sollte ich besser jemanden rufen, der nach dir sieht: Charlotte oder …«
»Oder Will?«, fauchte Cecily. »Wenn sie mein Zustand kümmern würde, wären sie ja wohl längst hier.«
Tessa blieb neben dem Bett stehen. »Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass du Will gleichgültig bist.«
»Aber er ist nicht hier, oder?«
»Er hat mich geschickt, weil er im Moment an Jems Seite ist«, erwiderte Tessa schlicht, als würde das alles erklären.
Und irgendwie tat es das ja auch, dachte Cecily. Sie wusste, dass Will und Jem nicht nur eng befreundet waren, sondern dass zwischen ihnen noch eine andere Bindung bestand, die über eine Freundschaft zwischen Irdischen weit hinausging. Im Codex hatte sie alles über Parabatai gelesen: ein Bund zwischen zwei Nephilim, die gemeinsam kämpften und einander näherstanden als Brüder.
»Will ist Jems Parabatai. Er hat ein Gelöbnis abgelegt, in Zeiten wie diesen für ihn da zu sein.«
»Er wäre auf jeden Fall für ihn da – Gelöbnis hin oder her. Will wäre für jeden von euch da. Aber er hat sich nicht mal die Mühe gemacht, nach mir zu sehen … ob ich vielleicht noch eine Iratze brauche.«
»Cecy …«, setzte Tessa an. »Wills Fluch …«
»Das war doch gar kein richtiger Fluch!«
»Weißt du, eigentlich war dieser Fluch durchaus echt«, erwiderte Tessa nachdenklich. »Will hat fest daran geglaubt, dass niemand ihn lieben durfte, weil diese Person dann sterben müsste. Aus diesem Grund hat er dich und deine Familie verlassen. Er ist fortgegangen, damit ihr in Sicherheit seid. Und jetzt bist du ausgerechnet hier im Londoner Institut – für Will der Inbegriff eines Ortes, der nicht sicher ist. Er kann es nicht ertragen, jetzt zu dir zu kommen und deine Verletzungen zu sehen, weil das für ihn so ist, als hätte er sie dir selbst zugefügt.«
»Ich habe mich hierfür entschieden. Für die Dämonenjagd. Und nicht nur, weil ich bei Will sein wollte.«
»Das weiß ich«, sagte Tessa. »Aber ich habe an Wills Seite gesessen, als er Vampirblut geschluckt und halluziniert hat und Weihwasser trinken musste, bis es ihm aus der Nase wieder herauskam. Und ich weiß, welchen Namen er im Fieberwahn wieder und wieder gerufen hat: deinen Namen!«
Überrascht schaute Cecily auf. »Will hat nach mir gerufen?«
»Oh ja.« Ein kleines Lächeln umspielte Tessas Mundwinkel. »Natürlich wollte er mir nicht verraten, wer du bist, als ich ihn danach fragte, und das hat mich fast verrückt gemacht …« Sie verstummte und wandte den Kopf ab.
»Warum?«
»Aus Neugier«, erklärte Tessa mit einem Achselzucken, obwohl sich auf ihren Wangen eine verräterische Röte ausbreitete. »Neugier ist leider eine meiner schlechten Gewohnheiten. Na, jedenfalls liebt er dich. Ich weiß, dass bei Will alles spiegelverkehrt ist, aber die Tatsache, dass er jetzt nicht hier steht, zeigt mir nur aufs Neue, wie viel du ihm bedeutest. Er ist daran gewöhnt, jeden, den er liebt, von sich zu stoßen. Und je mehr er jemanden liebt, desto hartnäckiger wird er versuchen, sich das nicht anmerken zu lassen.«
»Aber auf ihm lastet doch gar kein Fluch …«
»Jahrelange Angewohnheiten legt man nicht so einfach ab«, gab Tessa mit einem traurigen Ausdruck in den Augen zu bedenken. »Glaub nicht, er würde dich nicht lieben, nur weil er so tut, als seist du ihm egal, Cecily. Wenn es sein muss, konfrontiere ihn und verlange von ihm, mit der Wahrheit herauszurücken, doch bitte mach nicht den Fehler, dich von ihm abzuwenden, weil du glaubst, er sei nicht mehr zu retten. Bitte verbann ihn nicht aus deinem Herzen. Denn sonst wirst du das eines Tages bitterlich bereuen.«
Adressat: Die Kongregation
Absender: Konsul Josiah Wayland
Meine aufrichtige Entschuldigung für die verspätete Antwort, Gentlemen. Doch ich wollte sicherstellen, dass ich meine Ansichten nicht in einem Zustand voreiliger Hast kundtue und meine Worte das profunde und wohldurchdachte Ergebnis sorgfältiger Überlegungen darstellen.
Ich fürchte, ich kann Ihre Empfehlung für meinen Amtsnachfolger nicht teilen. Obwohl Charlotte Branwell ein gutes Herz besitzt, ist sie insgesamt viel zu flatterhaft, emotional, leidenschaftlich und unbotmäßig, um für die Position des Konsuls infrage zu kommen. Wie wir alle wissen, kennt das schöne Geschlecht Schwächen, denen Männer nicht anheimfallen. Und bedauerlicherweise neigt Charlotte Branwell zu all diesen Schwächen. Nein, ich kann sie wirklich nicht empfehlen und ich bitte Sie eindringlich, einen anderen Nephilim für diesen Posten in Erwägung zu ziehen. Wie etwa meinen Neffen, George Penhallow, der im kommenden November fünfundzwanzig Jahre alt wird und ein hervorragender Schattenjäger ist und dazu ein rechtschaffener junger Mann. Ich bin der festen Überzeugung, dass er die moralische Kraft und Charakterstärke besitzt, die Nephilim in eine neue Ära zu führen.
Im Namen des Erzengels
Konsul Josiah Wayland