8

JENE GLUT

Man nennt sie hoffen – jene Glut!
Nichts ist sie als Begehrens Wut!

EDGAR ALLAN POE, »TAMERLAN«

Tessa saß an ihrer Frisierkommode und bürstete sich mechanisch die Haare. Die Luft, die durch das Fenster hereinzog, war kühl und feucht und schien das Wasser der Themse mit sich zu führen – den Geruch von Eisen und städtischem Unrat. Diese Wetterlage sorgte dafür, dass sich Tessas dichte Locken an den Enden zusätzlich kräuselten. Aber ihre Gedanken galten nicht ihrem Haar; die einfache, sich wiederholende Bewegung des Bürstens erlaubte es ihr lediglich, einigermaßen die Ruhe zu bewahren.

Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder und wieder Jems schreckensbleiches Gesicht, während Charlotte Mortmains Brief vorlas, und Wills versengte Hände und die winzige Menge Yin Fen, die sie vom Boden hatte aufsammeln können.

Sie sah Cecily, die die Arme um Will schlang, und Jems Schmerz, während er sich bei Will entschuldigte: Es tut mir leid. Es tut mir so leid.

Diesen Anblick hatte sie nicht länger ertragen können. Will und Jem litten Qualen, alle beide – und sie liebte sie beide. Ihre Schmerzen wurden durch sie, Tessa, verursacht, denn sie war diejenige, die Mortmain wollte. Sie war der Grund dafür, dass Jems Yin-Fen-Vorräte sich dem Ende zuneigten, und auch der Grund für Wills Elend. Hilflos hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und war aus dem Raum gelaufen, weil sie es einfach nicht länger hatte mit ansehen können. Wie war es möglich, dass drei Menschen, die einander so viel bedeuteten, sich gegenseitig so viel Kummer bereiteten?

Nachdenklich legte Tessa die Bürste beiseite und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah müde aus, mit tiefen Schatten unter den Augen – genau wie Will, der den ganzen Tag in der Bibliothek gesessen und beim Sichten von Benedicts Unterlagen geholfen hatte. Er hatte einige auf Latein, Griechisch oder Purgatisch verfasste Abschnitte übersetzt, den dunklen Kopf tief über den Tisch gebeugt, während sein Federkiel über das Papier flog. Tessa fand es merkwürdig, Will bei Tageslicht zu betrachten und gleichzeitig an den jungen Mann zu denken, der sich am Abend zuvor auf den Stufen vor Woolseys Haus an sie geklammert hatte, als wäre sie ein Rettungsfloß in stürmischer See. Wills Miene wirkte zwar nicht vollkommen ungetrübt, aber auch nicht offen oder mitteilsam. Er hatte sich ihr gegenüber weder unfreundlich noch kalt verhalten, aber auch kein einziges Mal aufgeschaut, sie über den Bibliothekstisch hinweg angelächelt oder die Ereignisse der vergangenen Nacht in irgendeiner Form angesprochen.

Tessa hatte ihn beiseitenehmen und fragen wollen, ob er irgendetwas von Magnus gehört hatte. Sie hatte ihm sagen wollen: Niemand außer mir versteht, was du empfindest, und niemand außer dir versteht, was ich empfinde. Können wir es dann nicht wenigstens gemeinsam empfinden? Aber wenn Magnus ihn kontaktiert hätte, dann hätte Will ihr das gesagt; schließlich war er ehrenhaft. Sie waren alle ehrenhaft. Wenn sie das nicht gewesen wären, überlegte Tessa und blickte auf ihre Hände, dann wäre die Situation vielleicht nicht ganz so schrecklich.

Ihr Angebot, Mortmain aufzusuchen, war natürlich dumm gewesen – das wusste sie genau. Aber der Gedanke hatte mit der Macht einer Leidenschaft von ihr Besitz ergriffen. Sie konnte doch nicht die Ursache für all dieses Elend sein, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, etwas dagegen zu tun! Wenn sie sich Mortmain auslieferte, dann würde Jem länger leben und er und Will hätten einander und alles wäre so, als hätte sie nie einen Fuß ins Institut gesetzt.

Doch nun, im kühlen Dunkel der Abendstunden, wurde ihr bewusst, dass nichts von dem, was sie tun konnte, die Zeit zurückdrehen oder die Gefühle zerstreuen würde, die zwischen ihnen dreien bestanden. Tessa kam sich vor wie ausgehöhlt, als würde tief in ihrem Inneren etwas fehlen, und dennoch war sie wie gelähmt. Ein Teil von ihr wollte zu Will laufen, um nachzusehen, ob seine Hände wieder verheilt waren, und um ihm mitzuteilen, dass sie ihn verstand. Doch der Rest von ihr wünschte sich nichts sehnlicher, als zu Jems Zimmer zu eilen und ihn um Verzeihung zu bitten. Bisher waren sie nicht ein einziges Mal wütend aufeinander gewesen und Tessa wusste nicht, wie sie mit einem zornigen Jem umgehen sollte. Würde er ihre Verlobung auflösen wollen? War er von ihr enttäuscht? Dieser Gedanke erschien ihr irgendwie unerträglich… die Vorstellung, dass Jem von ihr enttäuscht sein könnte.

Krrr. Tessa schaute auf und blickte sich im Zimmer um. War da nicht ein Geräusch gewesen? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Immerhin war sie ziemlich müde – vielleicht war es Zeit, Sophie herbeizurufen, damit diese ihr beim Auskleiden half und sie sich mit einem Buch ins Bett zurückziehen konnte. Sie hatte sich Die Burg von Otranto aus der Bibliothek ausgeliehen und ein weiteres Mal festgestellt, dass das Buch hervorragend dazu geeignet war, sie auf andere Gedanken zu bringen.

Erschöpft hatte Tessa sich gerade von ihrem Stuhl erhoben, um die Dienstbotenglocke zu betätigen, als das Geräusch erneut ertönte. Dieses Mal jedoch entschlossener. Ein deutliches Krrr-Krrr an ihrer Zimmertür. Mit einem etwas beklommenen Gefühl durchquerte Tessa den Raum und riss die Tür auf.

Auf der anderen Seite hockte Church, mit gesträubtem Fell und wütender Miene. Jemand hatte ihm eine silberne Schleife um den Hals gebunden und daran einen kleinen, zusammengerollten Zettel befestigt, wie eine winzige Schriftrolle. Tessa sank auf die Knie, streckte die Hand nach der Schleife aus und löste sie, woraufhin der Kater sofort umdrehte und durch den Korridor davonschoss.

Vorsichtig hob Tessa den Zettel auf, der auf den Boden gefallen war, und entrollte ihn. Eine vertraute Handschrift wand sich quer über das Blatt Papier:

Komm ins Musikzimmer.
J

»Hier ist nichts«, stellte Gabriel fest. Er befand sich zusammen mit Gideon im Salon. Die Vorhänge waren zugezogen und hüllten den Raum in tiefe Dunkelheit. Ohne ihre Elbenlichter hätten sie nicht das Geringste gesehen. Hastig ging Gabriel die Korrespondenz auf Charlottes Schreibtisch ein zweites Mal durch.

»Was soll das heißen – ›nichts‹?«, fragte Gideon, der in der Nähe der Tür stand. »Ich seh da doch einen Stapel Briefe auf dem Tisch. Darunter muss sich auch einer befinden, der etwas hergibt …«

»Nein, nichts Skandalträchtiges oder auch nur entfernt Interessantes«, erwiderte Gabriel und schob eine Schreibtischschublade zu. »Irgendwelche Korrespondenz mit einem Onkel in Idris, der offenbar Gicht hat.«

»Faszinierend«, murmelte Gideon.

»Man muss sich wirklich fragen, worin Charlotte nach Ansicht des Konsuls denn verwickelt sein soll. Irgendeine Form des Verrats gegenüber der Kongregation?« Gabriel nahm das Bündel Briefe und verzog das Gesicht. »Wir könnten ihm erneut ihre Unschuld versichern, wenn wir nur wüssten, warum er sie überhaupt verdächtigt.«

»Leider glaube ich kaum, dass er von ihrer Unschuld überzeugt werden möchte«, kommentierte Gideon. »Ich habe ja eher den Verdacht, dass er hofft, sie bei irgendetwas zu ertappen.« Er streckte die Hand aus. »Gib mir mal diesen Brief.«

»Den an ihren Onkel?«, fragte Gabriel skeptisch, folgte aber dennoch der Aufforderung. Dann hielt er seinen Elbenstein hoch und ließ dessen Strahlen über den Schreibtisch fallen, während Gideon sich einen von Charlottes Federhaltern nahm, sich über den Tisch beugte und rasch eine Nachricht an den Konsul aufsetzte.

Gideon blies gerade über den Papierbogen, damit die Tinte schneller trocknete, als die Salontür mit Schwung aufflog. Ruckartig richtete er sich auf. Gelber Lichtschein strömte in den Raum, wesentlich heller als das Elbenlicht.

Hastig hielt Gabriel sich eine Hand schützend vor die Augen und blinzelte. Er hätte sich mit einer Nachtsichtrune versehen sollen, dachte er, aber diese Runenmale verblassten erst nach einer ganzen Weile und er fürchtete, damit möglicherweise unangenehme Fragen aufzuwerfen. In den wenigen Sekunden, die er benötigte, um seine Augen an die Helligkeit zu gewöhnen, hörte er seinen Bruder entsetzt rufen: »Sophie?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie mich nicht so nennen sollen, Mr Lightwood«, entgegnete Sophie eisig.

Gabriels Augen hatten sich mittlerweile an das Licht gewöhnt und er entdeckte das Dienstmädchen im Rahmen der Salontür, eine helle Lampe in der Hand. Sie starrte blinzelnd in die Dunkelheit und ihre Augen verengten sich noch mehr zu Schlitzen, als ihr Blick auf Gabriel fiel, der Charlottes Briefe noch immer in der Hand hielt. »Haben Sie … Ist das da etwa Mrs Branwells Korrespondenz?«

Hektisch ließ Gabriel das Bündel auf den Schreibtisch fallen. »Ich … Wir …«

»Haben Sie ihre Briefe etwa gelesen?« Sophie funkelte die beiden fuchsteufelswild an und wirkte mit der Lampe in der Hand fast wie ein Racheengel.

Hilfe suchend schaute Gabriel zu seinem Bruder, aber Gideon schien wie vor den Kopf gestoßen und stand nur stumm da. Gabriel konnte sich nicht erinnern, dass sein Bruder in all den Jahren irgendeinem Schattenjägermädchen auch nur einen einzigen Blick gegönnt hätte, nicht einmal der hübschesten Nephilim. Und dennoch sah Gideon diese narbengesichtige Irdische auf eine Weise an, als wäre sie die aufgehende Morgensonne. Es war unbegreiflich – aber auch nicht zu leugnen. Gabriel konnte das Entsetzen auf dem Gesicht seines Bruders sehen, als Sophies hohe Meinung von ihm vor seinen Augen zerbrach.

»Ja«, räumte Gabriel ein. »Ja, wir haben in der Tat einen Blick auf Charlottes Korrespondenz geworfen.«

Bestürzt wich Sophie einen Schritt zurück. »Ich werde sofort Mrs Branwell holen …«

»Nein …« Gabriel hielt eine Hand hoch. »Es ist nicht so, wie Sie denken. Warten Sie.« Rasch erzählte er, was sich in den vergangenen Tagen zugetragen hatte: die Drohungen des Konsuls, seine Forderung, Charlotte zu bespitzeln, und ihre Lösung für das Problem. »Wir hatten nie vor, irgendetwas von dem, was sie tatsächlich geschrieben hat, dem Konsul preiszugeben«, beendete er seinen Bericht. »Wir wollten Charlotte immer nur beschützen.«

Doch Sophies Argwohn spiegelte sich weiterhin auf ihrer Miene. »Und warum sollte ich auch nur ein einziges Wort davon glauben, Mr Lightwood?«

Endlich fand Gideon seine Stimme wieder: »Miss Collins, bitte. Ich weiß, dass Sie seit … jenem bedauerlichen Vorfall mit den Scones keine besonders hohe Meinung von mir haben, aber bitte glauben Sie mir: Ich würde weder das Vertrauen, das Charlotte in mich gesetzt hat, enttäuschen noch ihr die Freundlichkeit und Güte, die sie mir entgegengebracht hat, mit Verrat danken.«

Sophie zögerte einen Moment und senkte dann den Blick. »Es tut mir leid, Mr Lightwood. Ich würde Ihnen wirklich gern glauben, aber meine Loyalität muss in erster Linie Mrs Branwell gelten.«

Hastig griff sich Gabriel den Brief, den sein Bruder gerade geschrieben hatte. »Miss Collins«, setzte er an, »bitte lesen Sie dieses Schreiben … das ist die Nachricht, die wir dem Konsul schicken wollten. Wenn Sie nach der Lektüre noch immer fest entschlossen sind, Mrs Branwell herbeizuholen, werden wir nicht versuchen, Sie daran zu hindern.«

Skeptisch schaute Sophie von Gabriel zu Gideon. Dann neigte sie rasch den Kopf, trat vor und stellte die Lampe auf den Schreibtisch. Sie nahm den Brief entgegen, entfaltete ihn und las laut vor:

»Adressat: Konsul Josiah Wayland
Absender: Gideon und Gabriel Lightwood

Verehrter Konsul,

wie üblich haben Sie große Weisheit bewiesen, als Sie uns aufforderten, Mrs Branwells Schreiben nach Idris zu lesen. Es ist uns gelungen, einen schnellen Blick auf besagte Korrespondenz zu werfen, und dabei haben wir festgestellt, dass sie in fast täglichem Briefwechsel mit ihrem Großonkel Roderick Fairchild steht.

Der Inhalt dieser Briefe, verehrter Konsul, würde Sie schockieren und enttäuschen. Uns hat diese Korrespondenz zumindest einen Großteil unseres Glaubens an das schöne Geschlecht genommen.

Mrs Branwell legt eine äußerst gefühllose, inhumane und unweibliche Einstellung gegenüber den zahlreichen schweren Leiden ihres Großonkels an den Tag. Sie empfiehlt eine Einschränkung des Alkoholkonsums als Heilmittel gegen seine Gicht, zeigt unverkennbare Anzeichen von Belustigung angesichts seiner schrecklichen Erkrankung an Wassersucht und ignoriert völlig seine Erwähnung einer verdächtigen Substanz, die sich in seinen Ohren und anderen Körperöffnungen bildet.

Zeichen zärtlicher Fürsorge, wie man sie von einer Frau gegenüber ihren männlichen Verwandten erwarten würde, sowie jener Respekt, den jede relativ junge Frau älteren Leuten zollen sollte, fehlen hier völlig! Wir fürchten, Mrs Branwell ist ihre Macht derartig zu Kopfe gestiegen, dass sie völlig den Verstand verloren hat. Ihr muss unbedingt Einhalt geboten werden, ehe es zu spät ist und viele tapfere Schattenjäger dem Mangel an weiblicher Fürsorge zum Opfer fallen.

Hochachtungsvoll

Gideon und Gabriel Lightwood«

Als Sophie geendet hatte, herrschte einen Moment Stille. Eine scheinbare Ewigkeit stand sie einfach nur da und starrte mit großen Augen auf das Papier. Dann fragte sie: »Wer von Ihnen beiden hat das geschrieben?«

Gideon räusperte sich. »Das war ich.«

Sophie schaute auf. Sie hatte den Mund zusammengepresst, doch ihre Lippen bebten. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Gabriel, sie würde in Tränen ausbrechen. »Oh, du meine Güte«, brachte sie schließlich hervor. »Ist das hier der erste Brief?«

»Nein, da war noch eine Nachricht davor«, gestand Gabriel. »Sie drehte sich um Charlottes Hüte.«

»Ihre Hüte?« Sophie brach in schallendes Gelächter aus.

Gideon schaute sie an, als hätte er nie etwas Wundervolleres gesehen. Selbst Gabriel musste einräumen, dass sie wirklich hübsch aussah, wenn sie lachte – Narbe hin oder her.

»Und war der Konsul wütend?«, fragte sie.

»Teuflisch wütend«, bestätigte Gideon.

»Werden Sie Mrs Branwell nun davon erzählen?«, hakte Gabriel nach, der die Spannung keine Sekunde länger ertragen konnte.

Sophie hatte sich inzwischen wieder gefasst. »Nein, ich werde es ihr nicht erzählen«, sagte sie. »Denn ich möchte Sie beide nicht gegenüber dem Konsul bloßstellen. Außerdem denke ich, dass eine solche Nachricht Mrs Branwell nur kränken würde – noch dazu wäre niemandem damit geholfen. Sie einfach derartig zu bespitzeln … dieser grässliche Mann!« Ihre Augen funkelten wütend. »Falls Sie Hilfe gegen die Machenschaften des Konsuls wünschen, stehe ich gerne zur Verfügung. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich den Brief an mich nehmen und morgen früh persönlich dafür sorgen, dass er zugestellt wird.«

Das Musikzimmer war nicht so staubig, wie Tessa es in Erinnerung hatte. Offenbar hatte hier jemand vor Kurzem gründlich sauber gemacht: Die Fensterbänke und der Parkettboden glänzten wie poliert und auch das Holz des Flügels in der Ecke schimmerte sanft. Ein Feuer knisterte im Kamin und zeichnete Jems Silhouette nach, als er sich von den Flammen abwandte und Tessa ein nervöses Lächeln schenkte.

Alles in diesem Raum wirkte irgendwie gedämpft, wie bei einem Aquarellgemälde. Der Schein des flackernden Feuers ließ die mit weißen Tüchern abgedeckten Instrumente wie Geister lebendig werden, brachte den polierten Flügel zum Leuchten und spiegelte sich golden in den Fensterscheiben. Tessa konnte auch ihr und Jems Spiegelbild darin erkennen. Sie standen einander zugewandt: ein junges Mädchen in einem dunkelblauen Abendkleid und ein spindeldürrer junger Mann mit silbernen Haaren und einem schwarzen Gehrock, der ihm ein klein wenig zu locker von den knochigen Schultern hing.

Sein überschattetes Gesicht wirkte verletzlich und die weichen Konturen seines Mundes verrieten eine nervöse Besorgnis. »Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest«, sagte er leise.

Bei diesen Worten wäre Tessa am liebsten zu ihm gelaufen und hätte die Arme um ihn geschlungen, doch sie hielt sich zurück. Sie musste zuerst mit ihm reden. »Selbstverständlich bin ich gekommen«, erklärte sie. »Jem, es tut mir so leid. So furchtbar leid. Ich kann dir gar nicht sagen … es war wie ein Anflug von Wahnsinn. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dir meinetwegen etwas geschieht … nur weil ich auf irgendeine Weise mit Mortmain verbunden bin und er mit mir.«

»Das ist doch nicht deine Schuld. Du hast nie eine Wahl gehabt …«

»Aber ich habe nicht vernünftig nachgedacht. Will hatte recht: Mortmain darf man nicht trauen. Selbst wenn ich zu ihm ginge, würde das nicht garantieren, dass er seinen Teil der Abmachung auch wirklich einhält. Und ich würde ihm nur eine potenzielle Waffe in die Hände spielen. Ich habe keine Ahnung, wozu er mich benutzen will, aber es kann nicht zum Wohl der Nephilim sein … so viel steht fest. Möglicherweise wäre ich am Ende ein Mittel zum Zweck, um euch allen Schaden zuzufügen.« Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie zwang sich, Ruhe zu bewahren. »Bitte verzeih mir, Jem. Wir dürfen die wenige Zeit, die uns bleibt, nicht mit Streitereien vergeuden. Ich verstehe, warum du so gehandelt hast – ich hätte das Gleiche für dich getan.«

Jems Augen hatten einen sanften silbernen Schimmer angenommen. »Zhe shi jie shang, wo shi zui ai ne de«, flüsterte er.

Und Tessa verstand. Auf der ganzen Welt bist du dasjenige, das ich am meisten liebe. »Jem …«, setzte sie an.

»Das weißt du doch. Das musst du doch wissen. Ich könnte dich niemals gehen lassen, könnte niemals zulassen, dass du dich in tödliche Gefahr begibst – nicht, solange ich noch einen Funken Leben in meinem Körper habe.« Er hob die Hand, bevor Tessa einen Schritt auf ihn zumachen konnte. »Warte.« Dann bückte er sich, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er seinen rechteckigen Geigenkasten und den Bogen in der Hand. »Ich … Es gibt da etwas, womit ich dich überraschen wollte. Ein Geschenk zum Tag unserer Hochzeit. Aber ich möchte es dir lieber schon jetzt geben, falls du einverstanden bist.«

»Ein Geschenk?«, fragte Tessa verwirrt. »Aber … aber wir haben uns doch gestritten!«

Jem betrachtete sie mit einem Lächeln – jenem wundervollen Lächeln, das sein Gesicht aufleuchten ließ und seine hageren, erschöpften Züge vergessen machte. »Ein wesentlicher Bestandteil des Ehelebens, wie ich mir habe sagen lassen. Unsere Auseinandersetzung wird eine nützliche Übung für später sein.«

»Aber …«

»Tessa, hast du wirklich geglaubt, dass es irgendeinen Streit gäbe, ob nun groß oder unbedeutend, der mich dazu bringen könnte, dich nicht mehr zu lieben?« Jem klang verwundert.

Und Tessa musste plötzlich an Will denken, an all die Jahre, in denen Will Jems Loyalität auf die Probe gestellt und ihn mit seinen Lügen, Ausflüchten und seinem Selbsthass fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Und dennoch hatte Jems Liebe zu seinem Blutsbruder nicht eine Sekunde geschwankt oder gar nachgelassen. »Ich hatte es tatsächlich befürchtet …«, sagte sie matt. »Außerdem … habe ich kein Geschenk für dich.«

»Doch, das hast du«, erwiderte Jem leise, aber bestimmt. »Bitte setz dich, Tessa. Erinnerst du dich noch daran, wie wir uns kennengelernt haben?«

Tessa nahm in einem niedrigen Sessel mit vergoldeten Armlehnen Platz und breitete ihre raschelnden Röcke um sich herum aus. »Ich bin wie eine Verrückte mitten in der Nacht in dein Zimmer geplatzt.«

Jem grinste. »Du bist in mein Zimmer geschwebt und hast mich beim Violinspiel beobachtet.« Er zog die Schraube am Bogen fest, stellte diesen dann ab und nahm behutsam seine Geige aus dem Kasten. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich dir jetzt etwas vorspielen würde?«

»Du weißt, dass ich dich immer gern spielen höre.« Und das entsprach der Wahrheit: Tessa hörte Jem sogar dann gern zu, wenn er nur über seine Geige redete, auch wenn sie nicht viel davon verstand. Ohne sich auch nur eine Sekunde zu langweilen, konnte sie stundenlang lauschen, während er leidenschaftlich über Kolofonium, Wirbel und Schnecke sprach, über Bogenführung, Griffpositionen oder darüber, dass die A-Saite schneller riss als andere.

»Wo wei ni xie de«, sagte Jem, hob die Geige an seine linke Schulter und klemmte sie sich unter das Kinn. Er hatte Tessa erzählt, dass viele Violinisten eine Schulterstütze benutzten, auf die er jedoch lieber verzichtete. Daher war an einer Seite seines Halses – dort, wo die Geige ruhte – immer ein Fleck zu sehen, wie ein permanenter Bluterguss.

»Du … hast etwas für mich gemacht?«, fragte Tessa.

»Ich habe ein Musikstück für dich komponiert«, berichtigte Jem lächelnd und begann dann zu spielen.

Voller Verwunderung schaute Tessa zu. Jem setzte schlicht und leise an; seine Hand führte den Bogen leicht über die Saiten und erzeugte einen weichen, harmonischen Klang. Die Melodie erfasste Tessa so kühl und frisch wie klares Wasser, so verheißungsvoll und lieblich wie ein Sonnenaufgang. Sie beobachtete fasziniert, wie seine Finger sich bewegten und der Geige eine wundervolle Notenfolge entlockten. Der Klang bekam mehr Tiefe, während der Bogen immer schneller über die Saiten strich, Jems Unterarm vor- und zurückfuhr und sein gesamter Körper von der Schulter an mit der Bewegung zu verschwimmen schien. Seine Finger glitten leicht auf und ab und die Musik begann, sich zu verändern, wurde voller und tiefer und klang wie grollende Gewitterwolken, die am Horizont eines noch hellen Himmels aufziehen, oder ein Fluss, der sich zu einem reißenden Strom entwickelt. Die Noten zerschellten vor Tessas Füßen, stiegen wieder auf und umfingen sie. Jems gesamter Körper schien sich in Harmonie mit den Tönen zu bewegen, die er dem Instrument entlockte, obwohl Tessa genau wusste, dass seine Füße fest auf dem Boden standen.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, um mit der Musik Schritt zu halten. Jem hatte die Augen geschlossen und seine Mundwinkel zeigten nach unten, als verspürte er Schmerz. Ein Teil von Tessa wollte aufspringen und ihn in die Arme nehmen, aber ein anderer Teil von ihr wünschte sich, er würde nie aufhören, so wunderbar zu spielen. Es erschien ihr, als hätte Jem seinen Bogen genommen und wie einen Pinsel eingesetzt, um eine Leinwand zu schaffen, auf der seine Seele zum Ausdruck kam. Als sich die letzten Noten immer höher schraubten und zum Himmel aufstiegen, bemerkte Tessa, dass ihr Gesicht feucht war. Doch erst in dem Moment, als die Musik endgültig verklungen war und Jem seine Geige absetzte, wurde ihr bewusst, dass ihr Tränen gekommen und die Wangen hinabgelaufen waren.

Langsam legte Jem die Geige wieder in den Kasten und platzierte den Bogen daneben. Dann richtete er sich auf und wandte sich Tessa zu. Sein Gesichtsausdruck wirkte schüchtern, fast verlegen, obwohl sein weißes Hemd schweißgetränkt war und der Puls an seinem Hals raste.

Tessa war sprachlos.

»Hat es dir gefallen?«, fragte Jem. »Ich hätte dir auch etwas anderes geben können…zum Beispiel Schmuck. Aber ich wollte dir etwas schenken, das nur dir gehört. Das niemand anderes hören oder besitzen wird. Und da ich nicht gut mit Worten bin, wollte ich mit Musik ausdrücken, was ich für dich empfinde.« Er schwieg einen Moment und erkundigte sich dann erneut: »Hat es dir gefallen?« Die leichte Senkung am Ende seiner Frage deutete darauf hin, dass er mit einer negativen Antwort rechnete.

In dem Moment hob Tessa das Gesicht, damit er ihre Tränen sehen konnte. »Jem.«

Sofort fiel Jem vor ihr auf die Knie und musterte sie zerknirscht. »Ni jue de tong man, qin ai de?«

»Nein … nein«, erwiderte Tessa mit einer Mischung aus Lachen und Weinen. »Ich bin nicht gekränkt. Oder unglücklich. Ganz im Gegenteil.«

Ein Lächeln breitete sich auf Jems Gesicht aus und seine Augen leuchteten vor Freude. »Dann hat es dir also gefallen.«

»Ich hatte das Gefühl, dass ich in der Musik deine Seele sehen konnte. Und sie war einfach wunderschön.« Tessa beugte sich vor und berührte vorsichtig sein Gesicht, die glatte Haut über den spitzen Wangenknochen, seine Haare, die wie Federn über ihre Hand streiften. »Ich habe Flüsse gesehen, Boote wie Blüten, alle Farben des Nachthimmels.«

Jem atmete auf und ließ sich auf den Boden vor Tessas Sessel sinken, als hätte er jede Kraft verloren. »Das ist ein mächtiger Zauber«, sagte er und lehnte seine Schläfe gegen ihr Knie, während sie ihm weiterhin durch die Haare strich und die weichen Strähnen zwischen ihren Fingern hindurchgleiten ließ. »Meine Eltern waren beide musikbegeistert«, sagte Jem abrupt. »Mein Vater hat Geige gespielt und meine Mutter die Qin. Ich habe mich für die Geige entschieden, obwohl ich eigentlich beide Instrumente hätte lernen können. Manchmal bedaure ich meine Entscheidung, weil es einige chinesische Melodien gibt, die man auf der Geige nicht spielen kann, aber von denen meine Mutter bestimmt gewollt hätte, dass ich sie lerne. Sie hat mir früher oft die Geschichte von Yu Boya erzählt, der ein Meister auf der Qin war. Er hatte einen guten Freund, einen Brennholzsammler namens Zhong Ziqi, für den er immer gespielt hat. Es heißt, wenn Yu Boya ein Lied über das Wasser angestimmt hat, wusste sein Freund sofort, dass er rauschende Bäche beschrieb. Und wenn er von den Bergen spielte, konnte Ziqi ihre Gipfel sehen. Dabei pflegte Yu Boya zu sagen: ›Das liegt daran, dass du meine Musik verstehst.‹« Jem blickte auf seine Hand, die locker auf seinem Knie lag. »Noch heute verwenden viele den Ausdruck ›zhi yin‹ für ›enge Freunde‹ oder ›Seelenverwandte‹, doch tatsächlich bedeutet er ›die Musik verstehen‹.« Er reckte sich und ergriff

Tessas Hand. »Als ich eben gespielt habe, hast du gesehen, was ich gesehen habe. Du verstehst meine Musik.«

»Aber ich weiß doch gar nichts über Musik, Jem. Ich kann keine Sonate von einer Partita unterscheiden …«

»Nein.« Jem drehte sich um, kniete sich auf den Boden und stützte sich auf den Polsterlehnen von Tessas Sessel ab. Sie waren einander nun so nah, dass Tessa die schweißfeuchten Haare an seinen Schläfen und im Nacken sehen und seinen Geruch nach Kolofonium und Karamellzucker wahrnehmen konnte. »Das ist nicht die Art von Musik, die ich meine«, fuhr Jem fort. »Ich meine …« Er schnaubte frustriert, nahm erneut Tessas Hand, führte sie an die Brust und drückte sie flach auf sein Herz. Der beständige Schlag pulsierte unter ihrer Handfläche. »Jedes Herz hat seine eigene Melodie«, sagte er. »Und du kennst die meines Herzens.«

»Wie ist die Geschichte mit den beiden weitergegangen? Der Brennholzsammler und der Musiker?«, wisperte Tessa.

Jem schenkt ihr ein trauriges Lächeln. »Zhong Ziqi starb und Yu Boya spielte sein letztes Lied am Grab seines Freundes. Dann zerbrach er seine Qin und rührte nie wieder ein Instrument an.«

Tessa spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen und unter ihren Wimpern hervorzuquellen drohten. »Was für eine schreckliche Geschichte.«

»Findest du?« Jems Herzschlag setzte einen Moment aus und stolperte unter Tessas Fingerspitzen. »Während die beiden miteinander befreundet waren, komponierte Yu Boya einige der großartigsten Musikstücke, die wir kennen. Wäre er dazu auch ohne seinen Freund in der Lage gewesen? Unser Herz benötigt einen Spiegel, Tessa. Wir sehen unser besseres Ich in den Augen derjenigen, die uns lieben. Und es gibt eine Form von Schönheit, die nur die Endlichkeit hervorbringen kann.« Jem senkte einen Moment den Blick und schaute Tessa danach direkt in die Augen. »Ich würde dir alles von mir geben«, sagte er. »Ich würde dir in zwei Wochen mehr von mir schenken als die meisten Männer in ihrem ganzen Leben.«

»Es gibt nichts, was du mir nicht schon geschenkt hättest, nichts, worüber ich unzufrieden wäre …«

»Aber ich bin nicht zufrieden«, wandte Jem ein. »Ich möchte mit dir verheiratet sein. Normalerweise würde ich bis in alle Ewigkeit auf dich warten, aber …«

Aber uns bleibt keine Ewigkeit. »Ich habe keine Verwandten mehr«, sagte Tessa langsam, den Blick fest auf Jem geheftet. »Und auch keinen Vormund. Niemanden, der über…eine vorgezogene Hochzeit verärgert sein würde.«

Jems Augen weiteten sich. »Ich … Ist das dein Ernst? Ich würde nicht wollen, dass du nicht genügend Zeit für alle Vorbereitungen hast.«

»Was für Vorbereitungen, glaubst du denn, müsste ich noch treffen?«, fragte Tessa. Für einen Sekundenbruchteil kehrten ihre Gedanken zu Will zurück – zu dem Moment, in dem er mit den Händen ins Feuer gegriffen hatte, um Jems Arznei zu retten. Als sie ihn dabei beobachtet hatte, war schlagartig die Erinnerung an jenen Tag im Salon zurückgekehrt, als Will ihr seine Liebe gestanden hatte. Und an den Moment, als sie nach seinem Fortgehen die Hand um den rot glühenden Schürhaken geschlossen hatte, damit der brennende Schmerz auf ihrer Haut wenigstens für einen kurzen Augenblick den Schmerz in ihrem Herzen vergessen machte.

Will. Sie hatte ihn damals angelogen – vielleicht nicht wörtlich, aber doch unausgesprochen. Sie hatte ihn glauben lassen, dass sie ihn nicht liebte. Der Gedanke bereitete ihr noch immer Schmerzen, aber sie bereute diesen Schritt nicht. Es hatte einfach keine andere Möglichkeit gegeben. Sie kannte Will gut genug, um eines zu wissen: Selbst wenn sie ihre Verlobung mit Jem gelöst hätte, hätte Will niemals mit ihr zusammen sein können. Er hätte keine Liebe leben wollen, die seinen Parabatai verletzt hätte. Und selbst wenn ein Teil ihres Herzens Will gehörte und immer ihm gehören würde, half es niemandem, wenn sie darüber sprach. Denn sie liebte Jem ebenfalls – liebte ihn in diesem Moment noch mehr als in jener Stunde, in der sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte.

Manchmal muss man sich entscheiden, ob man nett oder ehrenhaft sein will, hatte Will ihr gesagt. Manchmal kann man nicht beides zugleich sein.

Möglicherweise hing es ja tatsächlich vom jeweiligen Buch ab, dachte Tessa. Doch in diesem Buch, dem Buch ihres Lebens, bestand der Weg der Unehre nur aus Lieblosigkeit. Selbst wenn sie Will damals im Salon verletzt hatte, würden seine Gefühle für sie im Laufe der Zeit nachlassen und er würde ihr eines Tages dafür danken, dass sie ihn freigegeben hatte. Davon war sie fest überzeugt. Schließlich konnte er sie nicht bis in alle Ewigkeit lieben.

Sie hatte diesen Weg schon vor langer Zeit eingeschlagen. Wenn sie ihm im nächsten Monat bis zum Ende folgen wollte, dann konnte sie das genauso gut auch am nächsten Tag tun. Sie wusste, dass sie Jem liebte, und obwohl ein Teil von ihr Will gleichermaßen liebte, konnte sie beiden kein größeres Geschenk machen, als weder Will noch Jem jemals davon zu erzählen.

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Jem auf ihre Frage und schaute mit einer Mischung aus Hoffnung und Unglauben zu ihr hoch. »Die Kongregation hat unserem Antrag noch nicht zugestimmt … und du hast kein Kleid …«

»Die Kongregation interessiert mich nicht. Und es ist mir egal, was ich trage, solange es dich nicht kümmert. Wenn es dir ernst damit ist, Jem, werde ich dich heiraten, wann immer du willst.«

»Tessa«, flüsterte er. Dann streckte er wie ein Ertrinkender die Arme nach ihr aus und Tessa beugte sich vor und streifte seine Lippen mit ihrem Mund. Im nächsten Moment richtete Jem sich auf und suchte nach ihrem Mund, bis ihre Lippen sich öffneten und Tessa die Süße seines Mundes, den Geschmack von karamellisiertem Zucker kosten konnte. »Du bist zu weit weg«, flüsterte er und dann schlang er die Arme um sie, bis sie nichts mehr trennte. Jem zog Tessa vom Sessel und sie knieten eng umschlungen auf dem Boden.

Er drückte sie an sich und Tessas Hände zeichneten die Konturen seines Gesichts, die spitzen Wangenknochen nach. So spitz, zu spitz…und der Pulsschlag zu dicht unter der Hautoberfläche…und die Schlüsselbeine so knochig und hart wie eine metallene Halskette.

Seine Hände tasteten sich von ihrer Taille zu ihren Schultern vor; seine Lippen streiften über ihr Schlüsselbein, über ihre Kehlgrube, während Tessas Finger sich in sein Hemd krallten und es hochzogen, bis ihre Hände auf seiner nackten Haut lagen. Er war so schrecklich dünn und sein Rückgrat fühlte sich unter ihren Fingerkuppen ganz knochig an. Vor dem Flackern des Kaminfeuers wirkte Jem wie in Schatten und Feuer gemalt und das tanzende goldene Licht der Flammen verwandelte das Weiß seiner Haare in Gold.

Ich liebe dich, hatte er gesagt. Auf der ganzen Welt bist du dasjenige, das ich am meisten liebe.

Erneut spürte sie den heißen Druck seiner Lippen an ihrer Kehlgrube, dann tiefer. Seine Küsse endeten am Ansatz ihres Kleides. Tessa fühlte ihr Herz unter seinem Mund wie wild pulsieren, als versuchte es, zu ihm zu gelangen…für ihn zu schlagen. Sie spürte seine zögernden Hände, die sich um ihren Körper herumtasteten, zu der Stelle, wo ihr Kleid geschnürt war …

Plötzlich schwang die Tür quietschend auf, woraufhin sie ruckartig auseinanderfuhren. Ihr Atem ging so schnell, als wären sie gerade ein Rennen gelaufen. Tessa hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, während sie auf den leeren Türrahmen starrte. Neben ihr verwandelte sich Jems Keuchen in ein unterdrücktes Lachen.

»Was …?«, fragte sie.

»Church«, erklärte er.

Tessa senkte den Blick, bis sie den Kater sah, der durch das Musikzimmer spazierte, nachdem er die Tür aufgestupst hatte, und nun ziemlich zufrieden mit sich schien. »Ich habe noch keinen Kater getroffen, der so selbstgefällig gucken konnte«, bemerkte sie, während Church sie wie üblich ignorierte, zu Jem schlenderte und ihn fordernd mit dem Kopf anstieß.

»Als ich meinte, wir bräuchten wahrscheinlich eine Anstandsdame, hatte ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt«, sagte Jem, tätschelte dem Kater aber dennoch den Kopf und schenkte Tessa ein kleines Lächeln. »Tessa«, setzte er an, »hast du das wirklich ernst gemeint? Dass du mich schon morgen heiraten würdest?«

Tessa hob das Kinn und schaute ihm direkt in die Augen. Sie konnte den Gedanken, noch länger zu warten und weitere Momente seines Lebens zu vergeuden, nicht länger ertragen. Plötzlich wollte sie unbedingt mit ihm zusammen sein, in guten wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit, wollte mit ihm durch ein Gelöbnis verbunden sein und ihm ihre Worte und ihre Liebe geben können, ohne sich länger zurückhalten zu müssen. »Ja, das habe ich ernst gemeint«, bestätigte sie.

Das Speisezimmer war noch halb leer, da noch nicht alle zum Frühstück heruntergekommen waren, als Jem sich an die Anwesenden wandte.

»Tessa und ich werden heiraten«, verkündete er sehr ruhig und breitete seine Serviette auf seinem Schoß aus.

»Soll das eine Überraschung sein?«, fragte Gabriel, der seine Kampfmontur trug, so als wollte er nach dem Frühstück direkt in den Trainingssaal gehen. Er hatte sich bereits sämtliche Speckscheiben vom Servierteller genommen und Henry warf einen wehmütigen Blick in ihre Richtung. »Seid ihr nicht sowieso schon verlobt?«, fügte er hinzu.

»Der Hochzeitstermin war für Dezember festgesetzt«, erklärte Jem, griff unter dem Tisch nach Tessas Hand und drückte sie. »Aber wir haben unsere Meinung geändert. Wir wollen bereits morgen oder übermorgen heiraten.«

Seine Worte hatten eine umwerfende Wirkung: Henry verschluckte sich an seinem Tee, woraufhin Charlotte, die vollkommen sprachlos schien, ihm auf den Rücken klopfen musste. Gideon ließ seine Tasse klirrend auf die Untertasse fallen und selbst Gabriel hielt abrupt inne; die Gabel, die er zum Mund hatte führen wollen, schwebte auf halber Strecke in der Luft.

Sophie, die gerade mit frischem Toast aus der Küche zurückkehrte, schnappte nach Luft. »Aber das geht nicht!«, rief sie. »Miss Grays Kleid ist doch ruiniert und mit dem neuen konnte noch nicht einmal angefangen werden!«

»Tessa kann irgendein anderes Kleid nehmen. Sie braucht kein traditionelles goldenes Schattenjägerkleid zu tragen, weil sie schließlich keine Schattenjägerin ist«, erwiderte Jem. »Sie hat mehrere hübsche Kleider…sie kann einfach ihr liebstes anziehen.« Schüchtern drehte er den Kopf zu Tessa. »Das heißt, wenn du einverstanden bist.«

Doch Tessa kam nicht dazu, ihm zu antworten, da in dem Moment Will und Cecily in den Speiseraum drängten.

»Ich habe einen steifen Nacken«, sagte Cecily gerade lächelnd. »Kaum zu glauben, dass ich in dieser Haltung überhaupt einschlafen konnte …« Im nächsten Augenblick verstummte sie jedoch, weil beide die angespannte Stille im Raum sofort erfassten und sich umschauten.

Will wirkte erholter als am Tag zuvor und tatsächlich erfreut über Cecilys Anwesenheit, doch diese verhalten optimistische Stimmung schien sich in Luft aufzulösen, als er die Gesichter der anderen sah. »Was ist los?«, fragte er. »Ist irgendetwas passiert?«

»Tessa und ich haben beschlossen, unseren Hochzeitstermin vorzuverlegen«, erklärte Jem. »Wir heiraten in den nächsten Tagen.«

Obwohl Will nichts darauf erwiderte und auch seine Miene sich nicht veränderte, wurde er kreidebleich im Gesicht und vermied jeden Blickkontakt mit Tessa.

»Jem, der Rat …«, wandte Charlotte ein, klopfte Henry ein letztes Mal auf den Rücken und richtete sich mit einem besorgten Ausdruck in den Augen auf. »Die Ratsmitglieder haben eurer Hochzeit noch nicht zugestimmt. Ihr könnt euch ihnen nicht widersetzen …«

»Aber wir können auch nicht auf sie warten«, entgegnete Jem. »Es könnte Monate, wenn nicht Jahre dauern…Du weißt doch, wie sie sind: Sie zögern eine Entscheidung lieber endlos hinaus, als eine möglicherweise unangenehme Antwort geben zu müssen.«

»Außerdem ist es nicht so, als ob unsere Hochzeit ganz oben auf ihrer Prioritätenliste stünde«, gab Tessa zu bedenken. »Im Moment haben die Analyse von Benedict Lightwoods Unterlagen und die Suche nach Mortmain Vorrang. Unsere Hochzeit ist eher eine persönliche Angelegenheit.«

»Für den Rat ist nichts eine persönliche Angelegenheit«, sagte Will. Seine Stimme klang hohl und seltsam, als befände er sich weit, weit weg.

Aber an der Kehle konnte Tessa seine Halsschlagader pulsieren sehen. Unwillkürlich musste sie an die fragile Beziehung denken, die sie während der vergangenen Tage vorsichtig aufgebaut hatten, und sie fragte sich, ob diese Nachricht all das zerstören würde – wie eine Woge, die ein zerbrechliches Boot gegen die Klippen schleudert.

»Meine Eltern … als sie heiraten wollten …«, setzte er an.

»Über eine Eheschließung mit Irdischen existieren bereits Gesetze«, unterbrach Jem ihn. »Aber über die Ehe zwischen einem Nephilim und dem, was Tessa ist, gibt es nichts Verbindliches. Und wenn es sein muss, bin ich – genau wie dein Vater damals – bereit, meine Schattenjägerprivilegien aufzugeben.«

»James …«

»Ich hätte gedacht, dass von allen Leuten gerade du derjenige wärst, der es verstehen würde«, erwiderte Jem und warf Will einen verwunderten und zugleich gekränkten Blick zu.

»Ich sage ja gar nicht, dass ich es nicht verstehe. Aber ich bitte dich, darüber nachzudenken …«

»Ich habe nachgedacht.« Jem lehnte sich zurück. »Und ich bin im Besitz einer irdischen Heiratserlaubnis, rechtmäßig erworben und unterzeichnet. Tessa und ich könnten in jede Kirche spazieren, die uns gefällt, und uns noch heute trauen lassen. Natürlich wäre es mir viel lieber, wenn ihr alle dabei wärt, aber wenn das nicht möglich ist, werden wir uns davon nicht abhalten lassen.«

»Ein Mädchen zu heiraten, nur um sie zur Witwe zu machen …«, bemerkte Gabriel Lightwood. »Viele würden das nicht gerade als Geschenk bezeichnen.«

Bei diesen Worten erstarrte Jem neben Tessa und seine Hand versteifte sich. Will machte einen Schritt vorwärts, doch Tessa war bereits aufgesprungen und durchbohrte Gabriel Lightwood mit den Augen. »Wehe, Sie sprechen noch einmal über unsere Pläne, als hätte Jem als Einziger eine Wahl und ich nicht«, fuhr sie ihn an und fixierte ihn mit einem eisigen Blick. »Ich habe der Verlobung aus freien Stücken zugestimmt und ich habe auch keinerlei Illusionen wegen Jems Gesundheit. Ich habe mich freiwillig entschieden, mit ihm zusammen zu sein – wie viele Tage oder Minuten uns auch immer vergönnt sein mögen. Und ich schätze mich glücklich über jede Sekunde mit ihm.«

Gabriels Augen waren so kalt wie der Ozean vor Neufundland. »Ich war nur um Ihr Wohlergehen besorgt, Miss Gray.«

»Sie sollten sich lieber um Ihr eigenes Wohlergehen kümmern«, konterte Tessa.

Aufgebracht kniff Gabriel seine grünen Augen zu Schlitzen. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich denke, die Dame meint damit, dass nicht sie diejenige ist, die ihren eigenen Vater getötet hat«, erwiderte Will gedehnt. »Oder hast du dich tatsächlich so schnell davon erholt, dass wir uns über deine momentane Befindlichkeit keine Sorgen zu machen brauchen, Gabriel?«

Cecily schnappte keuchend nach Luft, während Gabriel wütend auffuhr. Der Ausdruck auf seinem Gesicht erinnerte Tessa wieder an den jungen Mann, der Will bei ihrer ersten Begegnung zum Zweikampf bis zum Tod herausgefordert hatte – eine Mischung aus Arroganz, Härte und Hass. »Falls du es jemals wagen solltest …«, setzte er an.

»Halt!«, rief Charlotte, verstummte dann aber, da das Quietschen des rostigen Institutstors und das Klappern von Hufen durch das Fenster drang. »Beim Erzengel. Jessamine.« Rasch erhob sie sich von ihrem Stuhl und warf die Serviette auf ihren Teller. »Kommt, wir müssen nach unten gehen und sie begrüßen.«

Jessamines Rückkehr, die in vielerlei Hinsicht recht ungelegen kam, erwies sich in diesem Moment als hervorragende Ablenkung. Es entstand eine leichte Unruhe im Raum, als alle sich zum Gehen wandten. Nur Gabriel und Cecily schauten sich etwas verwundert um, da beide nicht genau verstanden, wer Jessamine war und welche Rolle sie im Institut gespielt hatte. Ungeordnet strömten alle aus dem Speisezimmer und in den Korridor. Tessa allerdings blieb etwas zurück – sie fühlte sich irgendwie kurzatmig, als wäre ihr Korsett zu eng geschnürt. Ihre Gedanken kehrten zur Nacht zuvor zurück, als sie Jem im Musikraum in den Armen gehalten hatte. Als sie sich geküsst und im Flüsterton stundenlang Pläne für ihre Hochzeit geschmiedet und über ihre darauf folgende Ehe gesprochen hatten – so, als bliebe ihnen alle Zeit der Welt. Als würde ihre Heirat Jem Unsterblichkeit verleihen, obwohl Tessa genau wusste, dass das nicht der Fall war.

Als sie gedankenverloren die erste Stufe zur Eingangshalle hinunterstieg, verfing sich ihr Absatz im Teppich und sie strauchelte. Doch sofort war eine Hand zur Stelle, die sie auffing und stützte. Als Tessa aufschaute, entdeckte sie Will neben sich.

Einen Moment lang standen sie beide nur da, reglos wie zwei Statuen. Die anderen hatten bereits den Treppenfuß erreicht und ihre Stimmen drangen wie aus weiter Ferne zu ihnen. Wills Hand lag leicht auf Tessas Arm, obwohl sein Gesicht fast vollkommen ausdruckslos wirkte, als wäre es aus Granit gemeißelt.

»Du denkst doch nicht so wie die anderen, oder?«, fragte Tessa schärfer als beabsichtigt. »Dass ich Jem nicht schon heute heiraten sollte. Du hast mich einmal gefragt, ob ich ihn genügend liebe, um ihn zu heiraten und ihn glücklich zu machen, und das tue ich. Ich weiß nicht, ob ich ihn in jeder Hinsicht glücklich machen werde, aber ich kann es zumindest versuchen.«

»Wenn irgendjemand dazu in der Lage ist, dann du«, sagte Will und schaute ihr tief in die Augen.

»Die anderen scheinen zu glauben, ich würde mich wegen Jems Gesundheitszustand irgendwelchen Illusionen hingeben.«

»Hoffnung ist keine Illusion.«

Seine Worte klangen ermutigend, doch in seiner Stimme schwang noch etwas anderes mit – etwas so Tonloses, dass es Tessa Angst einjagte.

»Will.« Sie griff nach seinem Handgelenk und hielt ihn zurück. »Du wirst mich doch nicht jetzt im Stich lassen, oder? Und mich als Einzige weiterhin nach einem Heilmittel suchen lassen? Ohne dich schaffe ich das nicht.«

Will holte tief Luft und senkte die Lider. »Natürlich nicht. Ich würde Jem niemals im Stich lassen. Oder dich. Ich werde weiterhin helfen. Weiterhin suchen. Es ist nur so …« Er verstummte und wandte das Gesicht ab. Das Licht, das durch das Fenster hoch oben in der Wand fiel, beleuchtete seine Wange, sein Kinn und die geschwungene Kontur seines Kiefers.

»Es ist nur was?«

»Du erinnerst dich sicher daran, was ich an jenem Tag im Salon noch gesagt habe«, setzte er zögernd an. »Ich möchte, dass du glücklich bist und dass Jem glücklich ist. Und dennoch … wenn du zum Altar gehst, um dich für immer mit ihm zu verbinden, dann läufst du dabei auch über einen unsichtbaren Scherbenhaufen – die Scherben meines Herzens, Tessa. Ich würde mein Leben für jeden von euch beiden geben. Ich würde mein Leben für euer Glück geben. Nachdem du mir gesagt hattest, du würdest mich nicht lieben, da habe ich zuerst gedacht, meine Gefühle würden nachlassen und schließlich ganz verschwinden. Doch das ist nicht passiert. Stattdessen sind sie nur noch gewachsen. Ich liebe dich jetzt, in diesem Moment, leidenschaftlicher als je zuvor. Und in einer Stunde werde ich dich sogar noch mehr lieben. Ich weiß, es ist unfair, dir das zu sagen, wo du doch nichts dagegen tun kannst.« Gequält holte er Luft. »Wie sehr du mich verachten musst.«

Tessa hatte das Gefühl, als hätte sich der Boden unter ihren Füßen aufgetan. Sie erinnerte sich daran, was sie sich in der Nacht zuvor einzureden versucht hatte: Wills Gefühle für sie mussten doch sicher verblasst sein. Im Laufe der Jahre würde sein Schmerz nachlassen und dann geringer sein als ihr eigener. Und sie hatte es tatsächlich geglaubt. Doch nun … »Ich verachte dich ganz und gar nicht, Will. Du hast immer nur ehrenhaft gehandelt – ehrenhafter, als ich es jemals von dir hätte verlangen können …«

»Nein«, sagte Will bitter. »Ich denke, du hast nichts von mir erwartet.«

»Ich habe alles von dir erwartet, Will«, flüsterte Tessa. »Mehr als du jemals von dir selbst erwartet hast. Und du hast sogar mehr als das gegeben.« Ihre Stimme stockte. »Es heißt, man könne sein Herz nicht teilen, und dennoch …«

»Will! Tessa!« Charlottes Stimme drang aus der Eingangshalle zu ihnen hinauf. »Bitte trödelt nicht so herum! Und kann jemand freundlicherweise Cyril holen? Wir brauchen vielleicht Hilfe mit der Kutsche, falls die Brüder der Stille bleiben möchten.«

Hilflos schaute Tessa zu Will, doch der Zauber war gebrochen – der Augenblick, den sie nur für sich gehabt hatten, war verstrichen. Seine Miene hatte sich wieder verschlossen und die Verzweiflung, die ihn noch einen Moment zuvor angetrieben hatte, schien verschwunden. Er war wieder so unerreichbar, als befänden sich tausend verriegelte Türen zwischen ihnen.

»Geh schon mal nach unten. Ich komme gleich nach«, sagte er tonlos. Dann drehte er sich um und stürmte die Treppe hinauf.

Tessa musste sich an der Wand abstützen, während sie wie betäubt die Stufen hinunterstieg. Was hatte sie da beinahe getan? Was hatte sie Will beinahe anvertraut?

Und dennoch liebe ich dich.

Aber, gütiger Gott im Himmel, was hätte das gebracht? Welchen Nutzen hätten diese Worte nun? Sie würden ihm nur eine schreckliche Last aufbürden, denn dann wüsste er, was sie empfand, könnte aber nichts dafür oder dagegen tun. Und diese Worte würden ihn an sie binden, statt ihn freizugeben, damit er nach einer anderen Liebe suchen konnte – nach jemandem, der nicht mit seinem besten Freund verlobt war.

Eine andere Liebe. Tessa trat hinaus auf die Eingangstreppe vor dem Institut und spürte den kalten Wind, der ihr schneidend durch das Kleid fuhr. Die anderen hatten sich bereits auf den Stufen versammelt und standen etwas unbehaglich da – insbesondere Gabriel und Cecily, die so aussahen, als fragten sie sich, was um alles in der Welt sie hier taten. Doch Tessa nahm sie kaum wahr. Sie spürte einen eisigen Stich in ihrem Herzen und wusste doch ganz genau, dass er nicht von der Kälte stammte. Er wurde von der Vorstellung verursacht, dass Will jemand anderes lieben könnte.

Aber das war reiner Egoismus, ermahnte sie sich: Wenn Will eine andere Liebe finden sollte, dann würde sie das still erdulden. Sie würde die Zähne zusammenbeißen und schweigen, genau wie er zu ihrer Verlobung mit Jem geschwiegen hatte. Das war sie ihm schuldig, dachte sie, als eine dunkle Kutsche durch das offene Institutstor ratterte, gelenkt von einem Mann in der pergamentfarbenen Robe der Stillen Brüder. Sie schuldete Will ein Verhalten, das mindestens so ehrenhaft war wie seins.

Die Kutsche rollte bis zum Fuß der Treppe und kam dort zum Stehen. Tessa spürte, wie Charlotte hinter ihr unruhig einen Schritt vortrat.

»Noch eine Kutsche?«, fragte sie, woraufhin Tessa ihrem Blick folgte und ein zweites Gespann entdeckte, das vollkommen schwarz und ohne jedes Wappen auf dem Kutschschlag der ersten Kutsche fast lautlos gefolgt war.

»Eine Eskorte«, mutmaßte Gabriel. »Vielleicht befürchten die Stillen Brüder ja, Jessamine könnte versuchen zu fliehen.«

»Nein«, meinte Charlotte, aus deren Stimme deutliche Verwunderung sprach. »Das würde sie nicht tun …«

Der Stille Bruder auf dem Bock der ersten Kutsche legte die Zügel beiseite, kletterte hinunter und ging zur Kutschtür. In diesem Augenblick hielt das zweite Gespann hinter ihm an und er drehte sich um.

Tessa konnte seine Miene nicht sehen, da sein Gesicht in den Schatten seiner Kapuze verborgen lag. Doch irgendetwas an seiner Körpersprache verriet einen Anflug von Überraschung. Tessa blinzelte verwundert, denn die Pferde der zweiten Kutsche hatten etwas Merkwürdiges an sich: Ihr Rumpf schimmerte nicht wie das Fell von Tieren, sondern eher wie Metall und ihre Bewegungen waren unnatürlich schnell.

Der Fahrer der zweiten Kutsche sprang von seinem Sitz herunter und landete mit einem klirrenden Dröhnen auf den Steinen. Und dann sah Tessa, wie Metall aufleuchtete, als seine Hand zum Kragen seiner Robe griff…und den pergamentfarbenen Stoff beiseitezog.

Darunter kam ein glänzender Metallkorpus zum Vorschein, mit einem eiförmigen, aber augenlosen Kopf. Kupfernieten verbanden die Gelenke an Ellbogen, Knien und Schultern. Sein rechter Arm – wenn man diese Gliedmaße überhaupt als solchen bezeichnen konnte – endete in einer ungeschlachten Armbrust aus Bronze. Im nächsten Moment hob die Gestalt diesen Arm und spannte ihn. Ein Stahlpfeil, mit schwarzem Metall befiedert, schoss durch die Luft und bohrte sich in die Brust des ersten Stillen Bruders. Der Aufprall riss ihn förmlich von den Füßen und er flog mehrere Meter durch den Innenhof, ehe er auf dem Boden auftraf und rotes Blut durch seine helle Robe sickerte.