DER ADLIG NUR, DER BRAV UND GUT
Potz Narretei! Mich dünkt,
es sei
Der adlig nur, der brav und gut.
Ein Herz ist mehr als Kronen wert
Und Treue mehr als Normannsblut.
ALFRED LORD TENNYSON, »LADY CLARA VERE DE VERE«
Charlotte hatte den Kopf über einen Brief gebeugt, als Gabriel den Salon betrat. Es war kalt im Zimmer, das Feuer im Kamin längst erloschen. Gabriel fragte sich, warum Sophie es nicht erneut entzündet hatte – vermutlich verbrachte sie zu viel Zeit mit ihrem Training. Sein Vater hätte so etwas nicht geduldet. Natürlich schätzte auch er kampferprobte Dienstboten, doch er zog es vor, dass sie ihr Training zunächst in anderen Haushalten absolvierten, ehe sie in seinen Dienst traten.
Bei seinem Eintreten schaute Charlotte auf. »Gabriel«, sagte sie freundlich.
»Sie wollten mich sprechen?« Gabriel gab sich Mühe, seiner Stimme einen gleichmütigen Klang zu verleihen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Charlottes dunkle Augen durch ihn hindurchschauen konnten, so als bestünde er aus Glas. Sein Blick wanderte zu dem Schreiben auf dem Tisch. »Was ist das?«, fragte er.
Charlotte zögerte und erklärte schließlich: »Ein Brief vom Konsul.« Einen Moment presste sie die Lippen zu einem dünnen, unglücklichen Strich zusammen. Dann warf sie erneut einen Blick auf das Schreiben und seufzte. »Ich habe nie etwas anderes gewollt, als das Institut so zu führen, wie mein Vater es jahrelang getan hat. Aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass das so schwierig werden würde. Ich werde dem Konsul erneut schreiben, aber …« Sie verstummte und zwang sich zu einem matten, angestrengten Lächeln. »Aber ich habe dich nicht hierher gebeten, um nur über mich zu reden«, sagte sie. »Gabriel, du siehst sehr müde und angespannt aus. Ich weiß, wir sind alle erschüttert und erschöpft und ich … ich fürchte, dass dadurch deine … Lage möglicherweise etwas in Vergessenheit geraten ist.«
»Meine Lage?«
»Ich meine den Tod deines Vaters«, erläuterte Charlotte, erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf Gabriel zu. »Du trauerst gewiss sehr um ihn.«
»Was ist mit Gideon?«, hakte Gabriel nach. »Schließlich war er auch sein Vater.«
»Gideon hat schon vor einer Weile um deinen Vater getrauert«, erwiderte Charlotte und stand nun zu Gabriels Überraschung an seiner Seite. »Doch für dich muss der Schmerz noch neu und frisch sein. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich hätte dich vergessen.«
»Nach allem, was passiert ist…«, setzte Gabriel an. Er spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete – vor Verwunderung, aber auch aus einem anderen Grund, über den er jedoch lieber nicht nachdenken wollte. »Nach allem, was mit Jem und Will und Jessamine und Tessa passiert ist, die Zahl der Mitglieder Ihres Haushalt fast halbiert wurde, da möchten Sie nicht, dass ich denke, Sie hätten mich vergessen?«
Behutsam legte Charlotte ihm eine Hand auf den Arm. »Diese Verluste machen deinen Verlust nicht weniger schwerwiegend …«
»Das können Sie nicht ernst meinen«, widersprach Gabriel. »Sie können mir keinen Trost spenden wollen. Sie fragen doch nur, um herauszufinden, ob meine Loyalität noch immer meinem Vater gilt oder dem Institut …«
»Nein, Gabriel. Daran habe ich keine Sekunde gedacht.«
»Die Antwort, die Sie zu hören wünschen, kann ich Ihnen nicht geben«, fuhr Gabriel dennoch fort. »Ich kann nicht vergessen, dass mein Vater derjenige war, der bei mir geblieben ist. Meine Mutter war gestorben…und Gideon war fort…und Tatiana ist eine nutzlose Närrin. Da war sonst niemand. Niemand, der mich großgezogen hätte. Ich hatte niemanden, nur meinen Vater. Es gab nur ihn und mich. Nur uns beide. Und jetzt erwarten Sie von mir, dass ich ihn verachte, aber das kann ich nicht. Er war mein Vater und ich …« Gabriels Stimme brach.
»Du hast ihn geliebt«, sagte Charlotte sanft. »Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als du noch ein kleiner Junge warst. Und ich erinnere mich an deine Mutter. Und an deinen Bruder, der immer an deiner Seite gestanden hat. Und daran, wie die Hand deines Vaters oft auf deiner Schulter lag. Falls das für dich wichtig ist, so kann ich dir versichern, auch er hat dich geliebt – davon bin ich überzeugt.«
»Nein, das ist nicht mehr wichtig. Denn ich habe meinen Vater getötet«, entgegnete Gabriel mit zitternder Stimme. »Ich habe ihm einen Pfeil durchs Auge geschossen, sein Blut vergossen … Vatermord begangen …«
»Das war kein Vatermord, Gabriel. Er war nicht mehr dein Vater.«
»Wenn er nicht mein Vater war … wenn ich meinem Vater nicht das Leben genommen habe, wo ist er denn dann?«, flüsterte Gabriel. »Wo ist mein Vater?« Und dann spürte er, wie Charlotte die Arme ausstreckte, ihn zu sich hinunterzog, wie eine Mutter fest umarmte und ihn hielt, während er an ihrer Schulter schluchzte, mit Tränen in der Kehle, die aber nicht fließen wollten. »Wo ist mein Vater?«, wiederholte er erstickt. Und als Charlotte ihn daraufhin noch fester in die Arme nahm, spürte er ihre Stärke, ihre unerschütterliche Kraft, die ihn aufrecht hielt – und er fragte sich, wie er diese kleine Frau jemals für schwach hatte halten können.
Adressat: Charlotte
Branwell
Absender: Konsul Josiah Wayland
Meine liebe Mrs Branwell,
ein Informant, dessen Namen Sie zu diesem Zeitpunkt nicht preisgeben können? Ich wage ja eher zu behaupten, dass es gar keinen Informanten gibt und dass Sie all das nur erfunden haben – ein Trick, um mich von der Rechtmäßigkeit Ihrer Forderungen zu überzeugen.
Ich ersuche Sie eindringlich, Ihre Imitation eines dummen Papageis einzustellen, der einfältig wieder und wieder zum Marsch gen Cadair Idris aufruft. Zeigen Sie mir stattdessen lieber, dass Sie Ihre Pflichten als Leiterin des Londoner Instituts ernst nehmen. Andernfalls muss ich davon ausgehen, dass Sie nicht in der Lage sind, Ihren Aufgaben nachzukommen, und werde mich genötigt sehen, Sie umgehend von Ihrem Posten abzuberufen.
Als Zeichen Ihrer Fügsamkeit verlange ich von Ihnen, dass Sie diese Angelegenheit in Zukunft nicht mehr ansprechen und auch keine Mitglieder der Brigade bitten werden, sich Ihrem fruchtlosen Unterfangen anzuschließen. Sollte mir zu Ohren kommen, dass Sie mit irgendeinem anderen Nephilim über dieses Thema gesprochen haben, werde ich dies als gravierende Befehlsverweigerung bewerten und demgemäß handeln.
Josiah Wayland, Konsul der Nephilim
Sophie hatte Charlotte den Brief an den Frühstückstisch gebracht. Mit ihrem Buttermesser löste Charlotte das Siegel (ein Hufeisen mit dem Buchstaben C darunter, das auf Waylands Position als Konsul verwies) und riss das Schreiben in ihrem Eifer beinahe vollständig entzwei.
Die anderen Anwesenden beobachteten sie gespannt – Henry mit liebevoller Sorge in den Augen –, während Charlotte die Zeilen überflog und sich langsam zwei dunkelrote Flecken auf ihren Wangen ausbreiteten. Im Raum herrschte atemlose Stille und Cecily dachte unwillkürlich, wie ungewöhnlich der Anblick einer Gruppe von Männern war, die an den Lippen einer Frau hingen. Allerdings war die Gruppe kleiner als noch vor Kurzem: Wills und Jems Abwesenheit erschien ihr wie eine neue Verletzung, eine klare helle Schnittwunde, die sich noch nicht mit Blut gefüllt hatte. Der Schock schien fast noch zu frisch, um Schmerzen zu verursachen.
»Was ist los?«, fragte Henry begierig. »Charlotte, meine Liebe …«
Charlotte las die Worte des Konsuls mit emotionsloser, monotoner Stimme vor, ähnlich einem Metronom. Dann schob sie das Schreiben von sich, starrte aber weiter darauf. »Ich kann einfach nicht begreifen …«, setzte sie an. »Ich verstehe das nicht.«
Henry war unter seinen Sommersprossen vor Zorn rot angelaufen. »Wie kann Wayland es wagen, dir so etwas zu schreiben?!«, stieß er mit ungekannter Grimmigkeit hervor. »Welch eine Unverschämtheit, dir auf diese Weise zu antworten und deine berechtigten Sorgen einfach beiseitezufegen …«
»Vielleicht hat er recht. Vielleicht hat er aber auch den Verstand verloren. Vielleicht sind wir ja alle verrückt geworden«, sagte Charlotte.
»Nein, das sind wir nicht!«, rief Cecily aufgebracht und bemerkte, wie Gabriel ihr einen Seitenblick zuwarf. Seine Miene ließ sich nur schwer deuten. Seit dem Betreten des Speisezimmers hatte er nur bleich dagesessen, kaum geredet oder gegessen und stattdessen auf das Tischtuch gestarrt, als fände er dort die Antworten auf alle Fragen des Universums. »Der Magister ist am Cadair Idris. Da bin ich mir absolut sicher«, fügte Cecily hinzu.
Gideon runzelte die Stirn. »Ich glaube Ihnen«, versicherte er, »so wie wir alle hier. Aber ohne die Unterstützung des Konsuls kann die Angelegenheit der Kongregation nicht vorgelegt werden – und ohne Kongregationsbeschluss werden wir keine Hilfe erhalten.«
»Das Portal ist beinahe fertig«, sagte Henry. »Wenn es funktioniert, sind wir in der Lage, so viele Schattenjäger wie erforderlich zum Cadair Idris zu transportieren – und zwar innerhalb weniger Sekunden.«
»Aber es wird keine Schattenjäger geben, die transportiert werden können«, wandte Charlotte ein. »Hier steht es, schwarz auf weiß: Der Konsul verbietet mir, in dieser Angelegenheit mit der Brigade zu sprechen. Und er hat die höhere Befehlsgewalt. Wenn ich auf diese Weise gegen seine Anordnung verstoße … wir könnten das Institut verlieren.«
»Na und?«, konterte Cecily hitzig. »Interessieren Sie sich mehr für Ihren Posten als für Will und Tessa?«
»Miss Herondale«, setzte Henry an.
Doch Charlotte brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Sie sah sehr müde aus. »Nein, Cecily, darum geht es nicht. Das Institut bietet uns Schutz; wenn wir es aufgeben müssen, sind unsere Möglichkeiten, Will und Tessa zu helfen, äußerst begrenzt. Als Institutsleiterin kann ich ihnen Unterstützung ermöglichen, die ein einzelner Schattenjäger nicht zu geben vermag …«
»Nein«, sagte Gabriel in diesem Moment. Er schob den Teller von sich weg und seine schlanken Finger wirkten sehr angespannt und weiß. »Nein, das können Sie nicht.«
»Gabriel?«, fragte Gideon verwundert.
»Ich werde nicht länger schweigen«, verkündete Gabriel und stand auf, als wollte er eine Rede halten…oder aus dem Zimmer laufen, Cecily war sich nicht ganz sicher. Mit grünlichem Gesicht wandte er sich an Charlotte. »An dem Tag, als der Konsul hier war, um Gideon und mich zum Verhör mitzunehmen, hat er uns so lange gedroht, bis wir eingewilligt haben, Sie für ihn zu bespitzeln.«
Charlotte erbleichte. Henry erhob sich langsam von seinem Stuhl.
Flehentlich riss Gideon eine Hand hoch. »Charlotte, das haben wir aber nicht getan«, beteuerte er. »Wir haben ihm kein Sterbenswort verraten. Jedenfalls nichts, was wahr gewesen wäre«, fügte er hinzu und schaute in die Gesichter der Anwesenden, die ihn stumm anstarrten. »Nur ein paar Lügen. Fehlinformationen. Schon nach zwei Briefen hat er seine Versuche eingestellt. Er wusste, dass es keinen Zweck hatte.«
»Das stimmt, Ma’am«, drang eine dünne Stimme aus einer Ecke des Raums – Sophie. Mit ihrem blassen Gesicht unter der weißen Haube stand sie reglos da. Cecily hatte sie fast nicht wahrgenommen.
»Sophie!« Henry klang äußerst schockiert. »Du hast davon gewusst?«
»Ja, schon …« Sophies Stimme zitterte. »Aber der Konsul hat Gideon und Gabriel auf schreckliche Weise erpresst, Mr Branwell. Er hat ihnen gedroht, er würde den Namen der Lightwoods aus den Schattenjägerverzeichnissen streichen lassen und dafür sorgen, dass man Tatiana auf die Straße setzt. Und trotzdem haben die beiden ihm nichts gesagt. Als er nicht länger insistierte, dachte ich, ihm wäre bewusst geworden, dass es einfach nichts aufzudecken gab. Es tut mir so leid. Ich wollte doch nur …«
»Sie wollte Ihre Gefühle nicht verletzen«, warf Gideon verzweifelt ein. »Bitte, Mrs Branwell. Bitte machen Sie Sophie keine Vorwürfe.«
»Das tue ich auch nicht«, sagte Charlotte. Ihr Blick wanderte rasch von Gabriel zu Gideon und Sophie und wieder zurück. »Aber ich habe den Eindruck, hinter dieser Geschichte verbirgt sich noch mehr. Habe ich recht?«
»Das ist alles, ehrlich …«, setzte Gideon an.
»Nein«, fiel Gabriel ihm ins Wort. »Nein, das ist noch nicht alles, Gideon. Als ich dir erzählt habe, der Konsul würde keine weitere Berichterstattung über Charlotte verlangen, da habe ich gelogen.«
»Was?« Gideon starrte ihn entsetzt an.
»Wayland hat mich allein beiseitegenommen, an dem Tag, an dem das Institut angegriffen wurde«, erklärte Gabriel. »Er meinte, wenn ich ihm dabei helfen würde, irgendwelche Vergehen von Charlottes Seite aufzudecken, würde er uns Lightwood House zurückgeben, unseren guten Namen wiederherstellen und alles vertuschen, was unser Vater verbrochen hat …« Er holte tief Luft. »Und ich habe ihm gesagt, dass ich es tun würde.«
»Gabriel«, stöhnte Gideon und begrub das Gesicht in den Händen.
Der jüngere Lightwood stand schwankend da und sah aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Cecily war hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Entsetzen und sie erinnerte sich wieder an den Abend im Fechtsaal, als sie ihm gesagt hatte, sie habe großes Vertrauen, dass er die richtigen Entscheidungen treffen würde.
»Deswegen hast du so erschrocken gewirkt, als ich dich heute Morgen in den Salon gerufen habe«, bemerkte Charlotte, den Blick ruhig auf Gabriel geheftet. »Du hast gedacht, ich hätte dich ertappt.«
Henry, der wieder auf seinen Stuhl gesunken war, erhob sich von seinem Platz. Sein sonst so freundliches Gesicht war finster vor Wut – das erste Mal, dass Cecily ihn wirklich zornig erlebte. »Gabriel Lightwood«, knurrte er. »Meine Frau hat dir nichts als Güte entgegengebracht – und das ist nun dein Dank dafür?«
Beruhigend legte Charlotte ihrem Mann die Hand auf den Arm. »Henry, warte«, bat sie. »Gabriel. Was hast du getan?«
»Ich habe Ihr Gespräch mit Aloysius Starkweather belauscht«, sagte Gabriel mit tonloser Stimme. »Anschließend habe ich dem Konsul einen Brief geschrieben und ihm erzählt, dass Sie Ihre Forderung, nach Wales zu reiten, auf den Worten eines verrückten alten Mannes begründen würden…und dass Sie zu leichtgläubig wären und zu starrköpfig …«
Charlottes Augen schienen Gabriel zu durchbohren – und Cecily dachte, dass sie diesen durchdringenden Blick hoffentlich niemals selbst zu spüren bekommen würde. »Du hast den Brief geschrieben«, sagte Charlotte. »Hast du ihn auch abgeschickt?«
Gabriel holte gequält Luft. »Nein«, erklärte er und griff in seinen Ärmel. Er zog einen gefalteten Zettel hervor und warf ihn auf den Tisch. Angespannt starrte Cecily auf das Papier. Es war mit Fingerabdrücken übersät und an den Kanten abgegriffen, als sei es viele Male zusammengeklappt und wieder auseinandergefaltet worden. »Nein, ich konnte es einfach nicht. Ich habe dem Konsul kein einziges Wort mitgeteilt«, fügte Gabriel hinzu.
Befreit atmete Cecily auf – sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte. Auch Sophie holte erleichtert Luft und ging zu Gideon, der ebenfalls den Eindruck machte, als würde er sich langsam von einem Schlag in den Magen erholen.
Charlotte blieb weiterhin vollkommen ruhig. Sie beugte sich vor, nahm den Brief, überflog ihn und legte ihn zurück auf den Tisch. »Warum hast du ihn nicht abgeschickt?«, fragte sie.
Gabriel schaute die Institutsleiterin an und sie tauschten einen seltsamen, vielsagenden Blick. Dann sagte er: »Ich hatte meine Gründe, mich eines Besseren zu besinnen.«
»Wieso bist du denn nicht zu mir gekommen?«, hakte Gideon nach. »Gabriel, du bist doch mein Bruder …«
»Du kannst nicht alles für mich beschließen, Gideon. Manchmal muss ich meine eigenen Entscheidungen treffen. Als Schattenjäger ist es unsere Aufgabe, selbstlos zu handeln. Für die Irdischen zu sterben, für den Erzengel und vor allem füreinander. Das sind unsere Grundsätze. Charlotte lebt danach, was unser Vater aber nie getan hat. Mir ist klar geworden, dass ich mich falsch entschieden hatte, als ich die Loyalität zu meiner Blutlinie an oberste Stelle, über unsere Grundsätze und alles andere gestellt habe. Und ich habe erkannt, dass der Konsul sich in Charlotte geirrt hat.« Gabriel hielt abrupt inne; seine Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst. »Wayland hat sich geirrt«, wiederholte er nach einem Moment und wandte sich Charlotte zu. »Ich kann das, was ich in der Vergangenheit getan habe beziehungsweise tun wollte, nicht ungeschehen machen. Und ich weiß nicht, wie ich meine Zweifel an Ihrer Autorität und meine Undankbarkeit angesichts Ihrer Güte wiedergutmachen könnte. Aber ich kann Ihnen versichern: Sie dürfen nicht auf Konsul Waylands Genehmigung warten, denn die wird nicht kommen. Der Konsul wird für Sie auf keinen Fall Truppen zum Cadair Idris schicken, Charlotte. Er wird keinem einzigen Plan zustimmen, der Ihren Namen trägt. Wayland will Sie aus dem Institut entfernen. Sie als Leiterin ersetzen.«
»Aber er ist doch derjenige, der mich auf diesen Posten berufen hat«, wandte Charlotte ein. »Er hat mich unterstützt …«
»Weil er dachte, Sie wären schwach«, erklärte Gabriel. »Weil er Frauen für labil und leicht zu manipulieren hält. Doch Sie haben sich als stark erwiesen und das hat all seine Pläne ruiniert. Er möchte Sie nicht nur in Verruf bringen – er braucht dies förmlich. Wayland hat keinen Zweifel daran gelassen: Falls es mir nicht gelänge, tatsächlich illegale Machenschaften Ihrerseits aufzudecken, würde er mir freie Hand geben, irgendetwas zu erfinden, das Sie überführen würde. Solange diese Lügen nur überzeugend genug wären.«
Betroffen presste Charlotte die Lippen aufeinander. »Dann hat er mir also nie vertraut«, flüsterte sie.
Henry nahm Charlottes Arm und drückte ihn. »Aber das hätte er tun sollen«, sagte er. »Wayland hat dich unterschätzt, aber das ist keine Tragödie. Dass du dich als besser, klüger und stärker als erwartet herausgestellt hast, Charlotte … das ist ein Triumph.«
Charlotte musste schlucken und Cecily fragte sich einen kurzen Moment, wie es wohl sein mochte, wenn jemand sie auf dieselbe Weise anschauen würde wie Henry nun seine Frau ansah – als wäre sie das Wunderbarste auf der Welt. »Was soll ich nun tun?«, fragte Charlotte ratlos.
»Das, was du für das Beste hältst, meine Liebe«, erwiderte Henry.
»Sie sind die Leiterin der Brigade und des Instituts«, sagte Gabriel. »Wir haben vollstes Vertrauen zu Ihnen, auch wenn der Konsul an Ihnen zweifelt.« Er neigte den Kopf. »Von diesem Tag an genießen Sie meine absolute Loyalität. Was auch immer Ihnen das bedeuten mag.«
»Das bedeutet mir eine Menge«, erwiderte Charlotte und es schwang etwas in ihrer Stimme mit, eine ruhige Autorität. In Cecily weckte es den Wunsch, aufzuspringen und ebenfalls ihre Loyalität zu bekunden, und sei es nur, um auch Charlottes Wohlwollen zu gewinnen. Und dann wurde ihr bewusst, dass sie für den Konsul niemals etwas Ähnliches würde empfinden können. Und genau aus diesem Grund hasst der Konsul Charlotte, erkannte Cecily. Weil sie eine Frau ist und dennoch auf eine Weise Loyalität hervorrufen kann, wie ihm das niemals gelingen wird.
»Wir fahren so fort, als gäbe es den Konsul nicht«, verkündete Charlotte. »Wenn er fest entschlossen ist, mich von meinem Platz in diesem Institut zu entfernen, dann brauche ich auf ihn auch keine Rücksicht mehr zu nehmen. Jetzt geht es darum, das zu tun, was getan werden muss, bevor er die Gelegenheit hat, uns aufzuhalten. Henry, wie lange brauchst du noch bis zur Fertigstellung deiner Erfindung?«
»Ein paar Stunden. Morgen früh ist das Portal fertig«, erklärte Henry prompt. »Zur Not arbeite ich die ganze Nacht durch …«
»Das Portal wird dann zum allerersten Mal benutzt«, bemerkte Gideon. »Ist das nicht ein wenig riskant?«
»Uns bleibt keine andere Wahl, wenn wir es rechtzeitig bis nach Wales schaffen wollen«, sagte Charlotte. »Sobald ich meine Nachricht versandt habe, steht uns nur noch wenig Zeit zur Verfügung, ehe der Konsul mich von meinem Posten abberuft.«
»Welche Nachricht?«, fragte Cecily verwirrt.
»Ich werde eine Nachricht an alle Mitglieder der Kongregation schicken«, erläuterte Charlotte. »An alle gleichzeitig. Und nicht nur an die Brigade. Sondern an die gesamte Gemeinschaft der Nephilim. «
»Aber nur dem Konsul ist es gestattet …«, setzte Henry an, hielt dann jedoch inne. »Ah, verstehe.«
»Ich werde ihnen die Situation darlegen und sie um ihre Hilfe bitten«, fuhr Charlotte fort. »Ich bin mir zwar nicht sicher, wie viele von ihnen positiv reagieren werden, aber gewiss wird der eine oder andere uns unterstützen.«
»Ich bin dabei«, verkündete Cecily.
»Und ich natürlich auch«, sagte Gabriel. Auf seinem Gesicht wechselte der Ausdruck von Ergebenheit zu Nervosität, Kalkül und Entschlossenheit. Nie zuvor hatte Cecily ihn mehr gemocht als in diesem Moment.
»Ich ebenfalls«, schloss Gideon sich an. »Allerdings …« Sein Blick wanderte besorgt in die Runde. »Allerdings sind wir nur sechs Nephilim, davon eine kaum trainiert, gegen eine Armee von Mortmains Automaten …«
Cecily war hin- und hergerissen zwischen Freude darüber, dass er sie als eine von ihnen zählte, und Verärgerung, dass er sie als »kaum trainiert« bezeichnete.
»Das Ganze könnte sich als Himmelfahrtskommando entpuppen«, gab Gideon zu bedenken.
Erneut meldete Sophie sich mit leiser Stimme zu Wort. »Sie mögen vielleicht nur sechs Schattenjäger zusammenbekommen, aber Ihnen stehen auf jeden Fall neun Krieger zur Verfügung. Ich kann kämpfen und möchte Sie gern begleiten. Und das Gleiche gilt für Bridget und Cyril.«
Charlotte wirkte teils erfreut und teils bestürzt. »Aber, Sophie, du hast doch gerade erst mit deinem Training begonnen …«
»Ich habe mehr Trainingsstunden gehabt als Miss Herondale«, wandte Sophie ein.
»Cecily ist eine Nephilim …«
»Miss Collins besitzt eine natürliche Begabung«, sagte Gideon gedehnt. Der innere Konflikt spiegelte sich auf seinem Gesicht wider: Er wollte Sophie nicht in einen Kampf verwickeln und damit in Gefahr bringen, andererseits war er auch nicht gewillt, über ihre Fähigkeiten zu lügen. »Man sollte ihr gestatten, die Aszension zu beantragen und eine Schattenjägerin zu werden.«
»Gideon …«, setzte Sophie betroffen an.
Doch Charlotte hatte ihre dunklen Augen bereits interessiert auf sie gerichtet. »Ist das dein Wunsch, Sophie? Möchtest du aszendieren, meine Liebe?«
»Ich … ich habe nie etwas anderes gewollt, Mrs Branwell«, stammelte Sophie. »Aber nicht, wenn das bedeuten würde, aus Ihren Diensten treten zu müssen. Sie sind immer so freundlich zu mir gewesen … Ich möchte Ihnen nicht dadurch für Ihre Güte danken, dass ich Sie im Stich lasse …«
»Unsinn«, widersprach Charlotte. »Ich kann jederzeit ein anderes Dienstmädchen bekommen, aber ich kann keine andere Sophie finden. Ich wünschte, du hättest mir schon eher von deinem Herzenswunsch erzählt, denn dann hätte ich mit dem Konsul reden können, bevor dieser Streit begonnen hat. Trotzdem, wenn wir zurückkehren …« Sie verstummte.
Doch Cecily konnte die Worte hören, die darunter verborgen lagen: Falls wir überhaupt zurückkehren.
»Wenn wir zurückkehren, werde ich dich für die Aszension anmelden«, beendete Charlotte entschlossen ihren Satz.
»Und ich werde mich ebenfalls für Sophie einsetzen«, sagte Gideon. »Schließlich habe ich meines Vaters Sitz in der Kongregation geerbt. Seine Freunde werden mir zuhören, sie sind unserer Familie noch immer Loyalität schuldig … Und außerdem: Wie könnten wir sonst heiraten?«
»Was?«, prustete Gabriel, begleitet von einer hektischen Handbewegung, die dafür sorgte, dass sein Teller vom Tisch gefegt wurde und auf den Boden krachte.
»Heiraten?«, fragte Henry. »Du willst deines Vaters Freunde in der Kongregation heiraten? Wen denn genau?«
Gideon war leicht grünlich im Gesicht; ganz offensichtlich hatte er diese Worte nicht laut aussprechen wollen und jetzt, da sie im Raum standen, wusste er nicht, was er tun sollte. Betroffen starrte er Sophie an, die ihm jedoch auch keine große Hilfe war. Sie wirkte so geschockt wie ein Fisch, der unerwarteterweise an Land gespült worden war.
Resolut stand Cecily auf und legte ihre Serviette auf ihren Teller. »Also gut«, sagte sie und bemühte sich nach Kräften, den Kommandoton ihrer Mutter zu treffen, wenn im Haus etwas erledigt werden musste. »Alle verlassen sofort das Zimmer.«
Charlotte, Henry und Gideon erhoben sich von ihren Stühlen. Genervt riss Cecily die Hände in die Höhe. »Sie doch nicht, Gideon Lightwood! Also wirklich!«, schnaubte sie. Dann wandte sie sich an Gabriel: »Und Sie hören auf zu glotzen. Und kommen mit.« Mit diesen Worten packte sie ihn am Rücken seiner Jacke und zog ihn beinahe aus dem Zimmer, dicht gefolgt von Henry und Charlotte.
Nachdem sie das Speisezimmer verlassen hatten, marschierte Charlotte, mit Henry an ihrer Seite, direkt in Richtung Salon, um das Schreiben an die Kongregation aufzusetzen. Am Ende des Ganges hielt sie kurz inne und warf Gabriel einen Blick über die Schulter zu, mit einem verschmitzten Lächeln um die Lippen. Doch Cecily vermutete, dass er es gar nicht bemerkt hatte. Kurz darauf verdrängte sie diese Beobachtung wieder aus ihren Gedanken und konzentrierte sich darauf, das Ohr an die Tür des Speisezimmers zu pressen, um zu hören, was im Raum vor sich ging.
Gabriel betrachtete sie einen Augenblick und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür. Rote Flecken leuchteten in seinem ansonsten bleichen Gesicht und seine Pupillen waren vor Schock geweitet. »Das sollten Sie nicht tun«, sagte er schließlich. »Heimliches Lauschen ist äußerst unschicklich.«
»Hier geht’s um Ihren Bruder«, wisperte Cecily, das Ohr fest an die Tür gedrückt. Sie konnte Stimmen hören, aber nichts verstehen. »Man sollte doch meinen, dass Sie wissen wollen, was da drinnen geschieht.«
Gequält fuhr sich Gabriel mit den Händen durch die Haare und schnaufte wie jemand, der eine weite Strecke gelaufen war. Dann drehte er sich zu Cecily, zog eine Stele aus der Westentasche, versah sein Handgelenk rasch mit einem Runenmal und legte seine Hand flach auf die Tür. »Das möchte ich in der Tat.«
Cecily schaute von seiner Hand zu dem nachdenklichen Ausdruck auf seinem Gesicht. »Können Sie sie etwa hören?«, fragte sie. »Oh, das ist nicht fair!«
»Hm, das Ganze ist sehr romantisch«, berichtete Gabriel, runzelte dann aber die Stirn. »Oder das wäre es zumindest, wenn mein Bruder auch nur ein Wort herausbekäme, ohne dabei wie ein krächzender Frosch zu klingen. Ich fürchte, er wird wohl nicht als einer der größten Kavaliere in die Geschichte eingehen.«
Aufgebracht verschränkte Cecily die Arme vor der Brust. »Ich verstehe nicht, warum Sie sich so anstellen«, sagte sie. »Oder nehmen Sie Anstoß daran, dass Ihr Bruder ein Dienstmädchen heiraten möchte?«
Gabriel wandte sich ihr mit finsterer Miene zu und Cecily bereute es plötzlich, dass sie ihn aufgezogen hatte – nach allem, was er durchgemacht haben musste. »Nichts, was Gideon tun könnte, wird jemals schlimmer sein als das, was unser Vater getan hat. Wenigstens hat mein Bruder keinen ungesunden Hang zu weiblichen Dämonen.«
Auch wenn sie sich große Mühe gab, so fiel es Cecily ungeheuer schwer, Gabriel nicht aufzuziehen: Er hatte irgendetwas an sich, das sie ständig zu reizen schien. »Das kann man wohl kaum als Kompliment für eine so feine junge Dame wie Sophie bezeichnen.«
Gabriel musterte Cecily einen Moment lang, als wollte er eine scharfe Entgegnung machen, doch dann besann er sich eines Besseren. »So hatte ich das nicht gemeint. Sophie ist ein großartiges Mädchen und nach ihrer Aszension wird sie eine großartige Schattenjägerin abgeben. Sie wird unserer Familie Ehre machen – und etwas Ehre können wir Lightwoods, weiß der Erzengel, dringend gebrauchen.«
»Ich denke ja, dass auch Sie Ihrer Familie Ehre machen werden«, sagte Cecily ruhig. »Das, was Sie eben getan haben … Ihre Beichte gegenüber Charlotte … das hat sehr viel Mut erfordert.«
Gabriel schwieg einen Augenblick. Dann streckte er ihr die Hand entgegen. »Hier, nehmen Sie meine Hand«, forderte er Cecily auf. »Auf diese Weise können Sie über mich hören, was im Speisezimmer vor sich geht – falls Sie das möchten.«
Nach kurzem Zögern ergriff Cecily Gabriels Hand. Sie fühlte sich warm und rau an. Cecily spürte das Pulsieren seines Bluts unter der Haut – ein seltsam beruhigendes Gefühl. Und dann konnte sie tatsächlich hören, was im Raum gesprochen wurde, so deutlich, als würde sie keine Tür davon trennen: Gideons sanften, zögerlichen Bass und Sophies zarte helle Stimme. Cecily schloss die Augen und lauschte.
»Oh«, sagte Sophie schwach und ließ sich in einen der Sessel sinken. »Oh, du meine Güte.« Sie musste sich setzen, denn ihre zittrigen Beine drohten, ihr den Dienst zu versagen.
Gideon, der in der Nähe des Sideboards stand, wirkte wie von Panik erfüllt. Sein dunkelblondes Haar stand in alle Richtungen ab, als wäre er sich wieder und wieder mit den Händen hindurchgefahren. »Meine liebe Miss Collins …«, setzte er an.
»Das hier …«, hob Sophie ihrerseits an und hielt dann inne. »Ich … das hier kommt ziemlich überraschend.«
»Tatsächlich?« Gideon löste sich vom Sideboard und lehnte sich an den Tisch. Er hatte seine Hemdsärmel aufgerollt und Sophie ertappte sich dabei, wie sie auf seine Handgelenke starrte, auf die feinen blonden Härchen und die verblassten Narben früherer Runenmale.
»Aber Sie sind doch gewiss in der Lage gewesen, den Respekt und die Hochachtung, die ich für Sie empfinde, zu erkennen. Meine Bewunderung für Sie …«, fuhr Gideon fort.
»Nun ja«, räumte Sophie ein, »Bewunderung …« Es gelang ihr, dem Wort einen Unterton zu verleihen, der es in der Tat sehr blass und unbedeutend erscheinen ließ.
Gideon errötete. »Meine liebe Miss Collins«, setzte er erneut an. »Es ist wahr, dass meine Gefühle für Sie weit über Bewunderung hinausgehen. Ich würde es eher als glühende Zuneigung bezeichnen. Ihre Güte, Ihre Schönheit, Ihr großes Herz – all das hat mich ziemlich durcheinandergebracht und nur damit kann ich mein heutiges Verhalten am Frühstückstisch erklären. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, meinen innigsten Herzenswunsch laut auszusprechen. Bitte fühlen Sie sich nicht verpflichtet, meinen Antrag anzunehmen, nur weil ich ihn in aller Öffentlichkeit gemacht habe. Jede damit verbundene Peinlichkeit geht allein zu meinen Lasten.«
Sophie schaute zu ihm hoch. Seine Wangen wechselten in rascher Folge die Farbe, von Rot zu Weiß und wieder zurück, und verrieten damit seine innere Unruhe. »Aber Sie haben mir gar keinen Antrag gemacht«, sagte sie.
Gideon starrte sie betroffen an. »Ich … wie bitte?«
»Sie haben mir keinen Heiratsantrag gemacht«, wiederholte Sophie gelassen. »Zwar haben Sie allen am Frühstückstisch verkündet, dass Sie mich zu ehelichen wünschen, aber das ist kein Heiratsantrag. Das ist nur eine Feststellung. Ein Antrag bedeutet, dass Sie mich fragen.«
»Na, das weist meinen Bruder aber mal in die Schranken«, bemerkte Gabriel mit der Genugtuung eines jüngeren Geschwisterteils, das sich darüber freut, dass der ältere ordentlich zurechtgewiesen wird.
»Pst! Seien Sie doch still!«, wisperte Cecily und drückte Gabriels Hand fest. »Ich möchte hören, was Ihr Bruder sagt!«
»Nun gut, also dann«, sagte Gideon, im entschlossenen (aber auch leicht unbehaglichen) Ton des heiligen St. Georg, der zum Kampf mit dem Drachen aufbricht. »Dann sollen Sie Ihren Heiratsantrag bekommen.«
Sophie beobachtete jeden seiner Schritte, als er den Raum durchquerte und zu ihren Füßen niederkniete. Das Leben war eine Abfolge von Ungewissheiten und es gab bestimmte Momente, die man sich unbedingt ins Gedächtnis einprägen musste, damit man die Erinnerung daran später wieder hervorholen konnte – wie eine getrocknete Blume zwischen den Seiten eines dicken Wälzers, die man bewundernd betrachtet und dann vorsichtig zurücklegt. Und Sophie wusste, dass sie niemals vergessen wollte, wie Gideon mit zitternden Fingern ihre Hand nahm und wie er sich auf die Lippe biss, ehe er sprach.
»Meine liebe Miss Collins«, sagte er. »Bitte verzeihen Sie mir meinen ungebührlichen Gefühlsausbruch. Es ist nur so, dass ich solch große Hochachtung … nein, nicht Hochachtung, sondern solch innige Liebe für Sie empfinde, dass ich den Eindruck habe, dies zu jeder Tages- und Nachtzeit förmlich auszustrahlen. Seit dem Moment, in dem ich in dieses Haus gekommen bin, haben mich Ihre Schönheit, Ihr Mut und Ihr nobler Charakter von Minute zu Minute stärker gefangen genommen. Es ist eine Ehre, die ich niemals verdienen könnte, aber dennoch mit jeder Faser meines Herzens ersehne, wenn Sie nur die Meinige werden könnten – das heißt, falls Sie einwilligen, meine Frau zu werden.«
»Du meine Güte«, sagte Sophie, völlig aus der Fassung gebracht. »Haben Sie das etwa geübt?«
Verwundert blinzelte Gideon sie an. »Ich versichere Ihnen, diese Worte kamen vollkommen aus dem Stegreif.«
»Nun, sie waren sehr schön.« Sophie drückte Gideons Hände. »Und meine Antwort lautet: Ja. Ja, ich liebe dich, und ja, ich möchte deine Frau werden, Gideon.«
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Gideons Gesicht aus und er verblüffte sie beide, als er Sophie an sich zog und ihre Lippen suchte. Sophie umfasste sein Gesicht mit den Händen, während sie sich küssten – sein Mund schmeckte leicht nach Teeblättern, seine Lippen waren weich und sein Kuss wunderbar süß und zärtlich. Sophie vergaß alles um sich herum – sie schien in diesem Augenblick zu schweben und fühlte sich sicher und geborgen vor dem Rest der Welt.
Bis Bridgets Stimme aus der Küche zu ihnen drang und diesen Glücksmoment unterbrach:
»An einem Dienstag gab der
Priester ihnen den Segen,
doch schon am Freitag schieden beide aus dem
Leben.
Man begrub sie im Kirchhof, Seit’ an
Seit’,
Ach, mein Liebster,
Man begrub sie im Kirchhof, Seit’ an
Seit’.«
Widerstrebend löste Sophie sich aus Gideons Umarmung und strich ihr Kleid glatt. »Bitte verzeihen Sie mir, mein lieber Mr Lightwood – ich meine Gideon … aber ich muss mal kurz in die Küche und die Köchin umbringen. Bin gleich wieder zurück.«
»Ohhh«, flüsterte Cecily. »Das war ja so romantisch!«
Gabriel nahm seine Hand von der Tür und schaute lächelnd zu ihr hinab. Sein Gesicht veränderte sich jedes Mal völlig, wenn er lächelte: Die kantigen Konturen wirkten weniger hart und die Farbe seiner Augen wechselte von Eisgrün zu frischem Blattgrün in der Frühlingssonne. »Sehe ich da ein paar Tränen, Cecily?«, fragte er sanft.
Cecily blinzelte mit feuchten Wimpern und plötzlich wurde ihr bewusst, dass er noch immer ihre Hand hielt – sie spürte seinen ruhigen Puls an ihrem Handgelenk.
Gabriel beugte sich zu ihr hinunter und sie nahm den frühmorgendlichen Duft war, den er verströmte: Tee und Rasierseife …
Hastig zog Cecily sich zurück und löste ihre Hand aus seiner. »Danke, dass Sie mir erlaubt haben zuzuhören«, sagte sie. »Ich muss … ich muss schnell in die Bibliothek. Da gibt es etwas, das unbedingt erledigt werden sollte, bevor wir morgen aufbrechen.«
Verwirrt musterte er sie. »Cecily …«
Doch die junge Schattenjägerin machte bereits auf dem Absatz kehrt und eilte durch den Korridor, ohne sich noch einmal umzuschauen.
An:
Edmund und Branwen Herondale
Ravenscar Manor
West Riding, Yorkshire
Liebe Mam und lieber Dad,
so viele Male habe ich diesen Brief an Euch aufgesetzt, es aber nie geschafft, ihn fertigzustellen und abzuschicken. Anfangs hat mich mein schlechtes Gewissen daran gehindert. Ich wusste, dass ich mich durch meine heimliche Abreise als eigensinnige, ungehorsame Tochter erwiesen hatte, und konnte es nicht ertragen, mein Vergehen in schwarzen Buchstaben auf einem Blatt Papier niedergeschrieben zu sehen.
Danach hat mich mein Heimweh gehindert, Euch zu schreiben. Ihr beide habt mir so sehr gefehlt. Genau wie die üppigen grünen Hügel hinter unserem Haus und die Heide, die sich im Sommer durchgehend violett färbt, und Mams Gesang im Garten. Dagegen war es hier kalt und alles nur schwarz und grau und braun, mit dichtem Nebel und stickiger Luft. Eine Weile habe ich gedacht, ich würde vor Einsamkeit sterben; aber wie hätte ich Euch das schreiben können? Schließlich war es ja meine eigene Entscheidung gewesen …
Dann hat mich der Kummer davon abgehalten zu schreiben. Ich wollte ursprünglich nur hierherkommen, um Will nach Hause zu holen, um ihm zu zeigen, worin seine wahre Pflicht liegt. Aber Will hat eigene Vorstellungen von seiner Pflicht und seiner Ehre und den Versprechen, die er gegeben hat. Ich musste erkennen, dass ich niemanden nach Hause bringen kann, der bereits ein Zuhause gefunden hat. Und ich wusste nicht, wie ich Euch das erklären sollte.
Schließlich war Glück der Grund für mein fortgesetztes Schweigen. Es mag Euch sehr merkwürdig erscheinen und mir erging es nicht anders, dass ich nicht zu Euch zurückkehren konnte, weil ich Zufriedenheit gefunden hatte. Während meines Trainings zur Schattenjägerin verspürte ich plötzlich ein Sehnen in meinen Adern – das gleiche Sehnen, von dem Mam immer sprach, sobald wir von Welshpool aus in die Nähe des Dyfi Valley kamen. Mit einer Seraphklinge in der Hand bin ich mehr als nur Cecily Herondale, Jüngste von drei Geschwistern und Tochter guter Eltern, die eines Tages eine vorteilhafte Partie machen und der Welt viele Kinder schenken wird. Ich bin Cecily Herondale, Schattenjägerin, und mir ist eine hohe und ruhmvolle Aufgabe zuteilgeworden.
Ruhm. Solch ein eigenartiges Wort – etwas, das Frauen nicht anstreben sollten. Aber ist nicht auch unsere Königin ruhm- und ehrenvoll? Oder Königin Elizabeth?
Doch wie sollte ich Euch erklären, dass ich Ruhm und Ehre dem Frieden vorgezogen hatte? Dem hart erkämpften Frieden, für den Ihr die Nephilimgemeinschaft verlassen habt, um ihn uns Kindern bieten zu können? Wie konnte ich Euch schreiben, dass ich als Schattenjägerin glücklich war, ohne Euch damit großen Kummer zu bereiten? Schließlich ist dies das Leben, von dem Ihr Euch abgewendet habt, das Leben, vor dessen Gefahren Ihr Ella, Will und mich beschützen wolltet. Was konnte ich Euch mitteilen, das Euch nicht das Herz brechen würde?
Und mittlerweile … mittlerweile ist Verständnis der Grund. Mir ist bewusst geworden, was es bedeutet, jemand anderen mehr zu lieben als sich selbst. Ich erkenne nun, dass Ihr Euch nicht gewünscht habt, ich möge so werden wie Ihr, sondern dass ich glücklich werde. Und Ihr habt mir – habt uns – die Möglichkeit der freien Wahl gegeben. Ich sehe diejenigen, die innerhalb der Nephilimgemeinschaft aufgewachsen sind und diese Wahl nie hatten, die nie selbst über ihre Zukunft entscheiden konnten – und dafür bin ich Euch dankbar. Dieses Leben freiwillig wählen zu können, ist etwas völlig anderes, als in ein solches Leben hineingeboren zu werden. Das hat mich Jessamine Lovelace’ Weg gelehrt.
Und was Will betrifft und seine Rückkehr: Ich weiß, Mam, dass Du befürchtest hast, die Nephilim würden Deinem sanften Jungen jede Liebe nehmen. Aber er liebt und wird geliebt. Will hat sich nicht verändert. Und er liebt Euch, genau wie ich auch. Vergesst mich nicht, denn ich werde Euch nie vergessen.
Eure Euch liebende
Tochter
Cecily
Adressat: Die
Kongregation
Absender: Charlotte Branwell
Meine lieben Waffenbrüder und -schwestern,
es ist meine traurige Pflicht, Euch allen folgende Mitteilung zu machen: Obwohl ich Konsul Wayland den unanfechtbaren Beweis vorgelegt habe, dass Mortmain – die größte Bedrohung, denen die Nephilim unserer Zeit gegenüberstehen – sich am Cadair Idris in Wales versteckt hält, hat unser verehrter Konsul sonderbarerweise beschlossen, diese Information zu ignorieren. Dagegen erachte ich das Wissen um den Aufenthaltsort unseres Feindes und die mögliche Vereitelung seines Plans der Vernichtung aller Nephilim als äußerst wichtig.
Mithilfe eines Beförderungsmittels, das mein Ehemann, der renommierte Erfinder Henry Branwell, entwickelt hat, werden die Schattenjäger des Londoner Instituts unverzüglich zum Cadair Idris aufbrechen, wo wir unser Leben dafür einsetzen wollen, Mortmain aufzuhalten. Es betrübt mich zutiefst, das Institut schutzlos zurücklassen zu müssen, aber falls Konsul Wayland überhaupt zum Handeln bewogen werden kann, ist er herzlich eingeladen, Wachen zum Schutz eines verlassenen Gebäudes zu entsenden.
Unsere Gruppe umfasst nur neun Personen, darunter drei, die nicht einmal Schattenjäger sind, sondern mutige Irdische – sie wurden von uns im Institut trainiert und haben sich bereit erklärt, an unserer Seite zu kämpfen. Ich kann nicht behaupten, dass wir uns im Moment allzu große Hoffnungen machen, Mortmain zu besiegen, aber ich bin davon überzeugt, dass wir wenigstens den Versuch unternehmen müssen.
Selbstverständlich kann ich niemanden zwingen, sich uns anzuschließen. Wie Konsul Wayland mir mehrfach zu verstehen gegeben hat, bin ich nicht in der Position, die Truppen der Nephilim zu befehligen. Aber ich wäre Euch zu tiefstem Dank verpflichtet, wenn diejenigen, die mir beipflichten, dass Mortmain bekämpft werden muss – und zwar sofort! –, morgen Mittag zum Londoner Institut kommen und uns ihre Unterstützung anbieten würden.
Mit vorzüglicher
Hochachtung
Charlotte Branwell, Leiterin des Londoner Instituts