7. Kapitel

Bis jetzt war jedes Mal, wenn ich in Avalon aufgewacht war, irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung gewesen. Und dieses Mal war keine Ausnahme.

Ein gellender Schrei riss mich aus meinem todesähnlichen Schlaf, und sofort befand ich mich in einem Zustand hellwacher Panik. Weitere Stimmen erklangen, und die Schreie hallten von den Steinwänden und der Decke wider. Einige der Fackeln waren erloschen, so dass Teile der Höhle in den Schatten verborgen lagen.

Vor mir sprang Ethan auf die Füße, und zu meinem Entsetzen hielt er plötzlich ein langes schlankes Messer in der Hand. »Zu mir!«, brüllte er laut genug, um über die panischen Schreie hinweg gehört zu werden. Im nächsten Moment kam eine Handvoll Studenten zwischen den Stalagmiten hervor auf ihn zu.

Zwei Menschenjungen stützten einen dritten, dessen T-Shirt zerfetzt war. Auf seiner Brust waren blutige Wunden zu erkennen, die aussahen wie die Kratzer einer Klaue. Hinter ihnen kamen Kimber und der Feenjunge, mit dem sie so eng befreundet zu sein schien, rückwärts auf uns zu. Statt wie der Rest in Panik davonzustürzen, wichen sie Schritt für Schritt von den Schatten zurück. Dabei streckten sie drohend Messer in die Höhe, die aussahen wie das von Ethan.

Ich umklammerte meine Decke, die ich bis zum Kinn gezogen hatte, und war total verwirrt. Ich wusste nicht, was los war – nur, dass es nicht gut war. Überhaupt nicht gut, wenn ich mir die weit aufgerissenen Augen und die verstörten Mienen der Menschenjungen so ansah.

»Rühr dich nicht von der Stelle!«, befahl Ethan mir, ohne sich umzudrehen. Dann trat er vor, um sich zwischen uns Menschen und … was auch immer da draußen lauerte zu stellen.

Als ich bemerkte, dass der verwundete Junge gleich zusammenbrechen würde, erhob ich mich eilig von der Couch. Seine Freunde nickten mir dankbar zu und halfen ihm, sich hinzulegen. Die Wunden auf seiner Brust sahen übel aus, und beim Anblick des ganzen Blutes wurde mir etwas schwindelig. Ich hatte das Gefühl, dass ich mitten in einem Alptraum steckte. Das konnte doch alles nicht tatsächlich passieren. Mein Leben war vielleicht schwierig, aber es war nicht gefährlich. Es musste einen einfachen und plausiblen Grund für das Schreien, das Blut und die Waffen geben.

Dieses unwirkliche Gefühl war auch der Grund dafür, dass ich nicht so panisch war, wie ich eigentlich hätte sein sollen.

Einer der Jungs riss sich das Sweatshirt vom Leib und drückte es auf die Wunde. Der Verletzte stöhnte vor Schmerz auf.

Zu meinem Entsetzen hatte ein anderer Junge eine Pistole gezogen. Zwar hielt er sie auf den Boden gerichtet, doch sein Blick ging auf der Suche nach einem Ziel wild hin und her.

Was für Studenten waren das?

Ich machte mir allerdings schlagartig keine Gedanken mehr über die Waffe, als ein fürchterlich kreischendes Geräusch ertönte. Es klang wie Fingernägel auf einer Schultafel, nur zehnmal schlimmer. Wegen des Echos konnte ich nicht genau sagen, woher das Schreien kam, aber die drei Feen schienen es zu wissen. Sie standen Schulter an Schulter, die Messer zum Kampf erhoben, und wandten sich einem Punkt zu, an dem die Schatten besonders dunkel waren.

Plötzlich bewegte sich der Schatten und trat in den Schein einer Fackel. Ich schlug die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien, denn was auch immer das war, es war auf jeden Fall nichts Menschliches. Nicht einmal annähernd.

Es sah aus, als bestünde es aus Stöcken und Stroh, mit einer entfernt an eine menschliche Gestalt erinnernden Form und riesigen schwarzen Augen. Die Stöckchen, die seine Finger bildeten, waren am Ende scharf, und an einigen klebte Blut. Mein Magen drehte sich beinahe um, als ich ein weiteres rasiermesserscharfes Anhängsel entdeckte, das zwischen den Beinen der Kreatur hervorragte. Auch daran klebte Blut.

Das Ding öffnete seinen Mund, und wieder erklang dieses fürchterliche Kreischen, bei dem ich mir die Ohren zuhalten musste. Zwei weitere dieser Kreaturen tauchten hinter ein paar Stalagmiten auf.

Die Feen bewegten sich etwas auseinander, so dass jede von ihnen einem der Angreifer gegenüberstand. Der Menschenjunge versuchte, sich in eine gute Schussposition zu bringen, doch die Feen standen im Weg.

»Können Pistolenkugeln den Dingern etwas anhaben?«, fragte er plötzlich.

Ethan, der sich langsam und vorsichtig der Kreatur näherte, die er ins Visier genommen hatte, rief ein knappes Nein über seine Schulter.

»Scheiße!«, stieß der Junge hervor, und ich konnte ihm nur zustimmen. Er steckte die Waffe weg und schob mich dann ritterlich hinter sich.

Die Kreaturen kreischten wieder, und mit einem Mal machten alle drei gemeinsam einen Satz nach vorn und griffen an. Ich schluckte einen Schrei herunter.

»Jason!«, brüllte hinter mir eine panische Stimme.

Der bewaffnete Junge – offensichtlich Jason – wirbelte herum, und ich tat es ihm gleich. Ein weiteres Wesen hatte sich von hinten an uns herangeschlichen und hockte nun auf der Rückenlehne der Couch. Die Augen waren so ausdruckslos wie Tintenfässer, und dennoch spürte ich seinen Blick so intensiv wie eine Berührung auf mir. Der Junge auf dem Sofa erstarrte voller Angst, und wenn das Ding es auf ihn abgesehen hätte, dann wäre er längst Geschichte gewesen. Aber es hatte nur Augen für mich. Wieder kreischte es und sprang dann von der Lehne der Couch auf mich zu.

Instinktiv duckte ich mich, hechtete nach vorn und entkam so den Klauen der Kreatur. Leider stand Jason direkt hinter mir, und als ich auswich, prallte das Wesen gegen seinen Oberkörper und warf ihn zu Boden.

In dem Moment schrie ich tatsächlich auf.

Jasons Freund sprang vor, packte das Monster und zog es von ihm herunter. Sein Gesicht hatte bereits tiefe Wunden von den Klauen davongetragen. Das Ding wirbelte zu Jasons Freund herum, holte mit seinem dünnen Ärmchen aus und schlug mit der Rückseite so hart zu, dass der Junge durch die Luft flog. Die Kreatur triumphierte und schien unter meinem Blick zu wachsen. Den Blick auf Jason gerichtet, kam es wieder auf ihn zu. Ich rappelte mich mühsam auf und blickte mich hektisch nach etwas um, um dem am Boden liegenden Jungen zu helfen.

Was ich als Nächstes tat, war rein instinktiv. Ich war unbewaffnet, und selbst wenn ich eines dieser Feenmesser gehabt hätte, hätte ich damit wahrscheinlich eher mich selbst als eine dieser Kreaturen verletzt. Doch ich konnte nicht einfach tatenlos zusehen und hoffen, dass ein großer, bärenstarker Retter aufkreuzen würde – nicht, wenn das Wesen sich auf den offensichtlich verletzten Jason zubewegte.

Panischer als je zuvor in meinem Leben schnappte ich mir die Decke, die noch immer um meine Schultern geschlungen war, packte sie mit beiden Händen, breitete sie aus und warf sie in die Luft, als wäre sie ein Laken, das ich über ein Bett breiten wollte. Als die Decke sich direkt über den Kopf des Wesens senkte, ließ ich los.

Ich hatte die Hoffnung, dass das Ding wenigstens ein bisschen langsamer werden würde, wenn es durch die Decke nichts mehr sehen konnte, aber mein Plan funktionierte noch besser als erwartet. Das Biest versuchte, sich die Decke vom Kopf zu ziehen, doch die Wolle verfing sich in den kleinen Stöcken und Zweigen, die von seinem Körper abstanden. Zornig kreischend fing das Wesen an, die Decke mit seinen Klauen zu zerfetzen.

Dieser Moment reichte Ethan, um zu uns zu rennen. Sein Messer blitzte wieder und wieder auf, als er es in die Decke und die Kreatur darunter rammte. Schwarzes, klebriges Zeug tropfte von der Klinge, und die wütenden Schreie des Wesens klangen allmählich gequält und schmerzvoll. Aber Ethan hörte nicht auf, auf das Ding einzustechen, bis das Kreischen erstarb, die Kreatur auf den Boden fiel und sich nicht mehr rührte. Ich blinzelte, und plötzlich verlor das Wesen seine Form. Zurück blieb nicht mehr als ein Haufen von Stöcken und Stroh und ekelhafter schwarzer Schlamm.

Als plötzlich Totenstille herrschte, fühlte es sich beinahe so an, als wäre ich taub geworden – bis auf die Tatsache, dass ich mein stoßweises, panisches Atmen hören konnte. Mein Verstand versuchte zu verarbeiten, was gerade passiert war.

Im Moment beachtete Ethan mich nicht, sondern beugte sich herunter, um zu sehen, wie es Jason ging, während Kimber und ihr Freund sich den anderen beiden Jungen zuwandten. Jason hatte seine Augen vor Schmerz zugekniffen und hielt ein Taschentuch umklammert, das er auf sein blutiges Gesicht presste. Ethan hatte Jasons T-Shirt aufgerissen und tastete vorsichtig seine Rippen ab.

»Gebrochen«, hörte ich ihn murmeln, während Jason unter den leichten Berührungen zusammenzuckte. »Es wird zuerst schlimmer, bevor es besser wird«, warnte er ihn und legte beide Hände auf Jasons Brustkorb.

Ich bemerkte die Angst in Jasons Augen. Ich kannte ihn nicht, hätte nicht einmal seinen Namen gewusst, wenn der andere Junge ihn nicht gerufen hätte, doch vermutlich hatte die jahrelange Sorge um meine Mutter in mir eine Art Samariter-Instinkt geweckt. Ich kniete mich an Jasons andere Seite und nahm seine Hand. Dankbar drückte er meine Finger.

Ethan murmelte wieder etwas, und ich spürte, wie die Härchen an meinen Armen sich aufrichteten. Offensichtlich übte Ethan eine Art Magie aus, und obwohl das in Avalon nichts Ungewöhnliches war, fühlte es sich für mich noch immer seltsam an. Jason schrie laut auf und bog den Rücken durch, wobei er beinahe meine Hand zerquetschte.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann sackte er in sich zusammen und atmete erleichtert auf. Er schloss die Augen, und ich nahm an, dass er ohnmächtig geworden war.

»Was waren das für Dinger?«, fragte ich Ethan und begann, als verspätete Reaktion auf den Angriff zu zittern.

Ich konnte sehen, wie sich die Muskeln in seinem Kiefer anspannten, als er mit den Zähnen knirschte. »Spriggans«, sagte er und spuckte aus, als hätte das Wort einen bitteren Nachgeschmack.

Das war nicht gerade eine umfassend erklärende Antwort. »Was ist denn ein Spriggan?«

Er hockte sich auf die Fersen und schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Wesen aus Faerie. Kreaturen, die Avalon eigentlich nicht betreten dürfen.«

»Wesen des Winterhofes«, fügte Jason hinzu, und ich bemerkte, dass er gar nicht ohnmächtig geworden war. Er warf Ethan einen seltsamen Blick zu.

Wir hatten schon festgestellt, dass ich kläglich wenig über die Abläufe in Avalon und Faerie wusste, aber wenigstens waren mir die Höfe der Licht- und der Dunkelfeen nicht total unbekannt. Faerie ist in zwei Höfe unterteilt, die sich manchmal im Streit befinden und manchmal im Waffenstillstand leben. Die Lichtfeen, die zum Sommerhof gehören, sind die »guten« Feen, obwohl der Ausdruck »gut« im Zusammenhang mit Feen mit Vorsicht zu genießen ist. Der Winterhof, dem die Dunkelfeen angehören, ist die Heimat aller bösen Kreaturen – der Kobolde und Monster und all der Geschöpfe, die bei Nacht ihr Unwesen treiben. Offensichtlich gehörten auch die Spriggans dazu.

Finster blickte Ethan Jason an. »Sie sind nicht mit mir verwandt, also hör auf, mich so anzuschauen.« Er half Jason dabei, sich aufzusetzen.

»Tut mir leid«, entgegnete dieser und mied Ethans Blick.

Der tätschelte ihm die Schulter. »Nichts passiert. Und ich kann es dir nicht verübeln – nach allem, was passiert ist. Es sind Wesen wie die Spriggans, die den Winterhof in Verruf bringen.«

Es dauerte einen Moment lang, bis ich begriff, worüber die beiden sprachen, doch als ich es dann verstanden hatte, wurden meine Augen so groß, dass ich sicherlich etwas seltsam aussah.

»Du gehörst zu den Dunkelfeen?« Es war eine Mischung aus einer Frage und einem entsetzten Aufkeuchen.

»Das tue ich«, bestätigte Ethan. »Wie ungefähr die Hälfte aller Feen, die in Avalon leben. Und nein, wir sind genauso wenig alle schlecht, wie die Menschen alle gut sind.«

Jason wirkte nicht vollkommen überzeugt. Andererseits litt er augenscheinlich noch immer unter Schmerzen. Stirnrunzelnd sah ich Ethan an und war mir nicht sicher, wie ich diese Information einordnen sollte. Es schien ihm nicht fremd gewesen zu sein, mit dem Messer herumzufuchteln und diese fürchterlichen Kreaturen zu töten, und es war schwer, sich nicht – wieder einmal – zu fragen, ob er einer der Guten oder einer der Bösen war.

»Ich dachte, seit die Stadt Avalon ihre Unabhängigkeit von Faerie erklärt hat, sind die Feen hier keine Angehörigen eines Hofes mehr«, sagte ich. »Die Höfe und die Zugehörigkeit zu ihnen sollten nur in Faerie eine Rolle spielen.«

Ethan lachte trocken. »Theoretisch stimmt das. Aber praktisch sieht es anders aus. Dir wird noch auffallen, dass viele Häuser und Geschäfte in Avalon entweder mit einer weißen oder einer roten Rose geschmückt sind. Weiße Rosen bedeuten, dass das Haus oder das Geschäft zum Sommerhof gehört; rote Rosen zeigen die Verbundenheit mit dem Winterhof an.« Sein Blick blieb an meinem Oberkörper hängen. Ich sah nach unten und bemerkte, dass die Kamee aus meinem Shirt hervorblitzte. Der Anhänger mit der weißen Rose darauf.

Waren mit Dads wohlüberlegtem Geschenk unsichtbare Verpflichtungen verbunden? Er hatte nie erwähnt, dass mich das Tragen einer weißen Rose als Mitglied des Sommerhofes kennzeichnete. Meiner Meinung nach hätte er mir das sagen müssen, und ganz automatisch fragte ich mich, warum er es nicht getan hatte.

Ethan blickte mir in die Augen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, als wüsste er, was mir gerade durch den Kopf ging. »Weder Kimber noch ich tragen die rote Rose«, sagte er. »Wir sind der Ansicht, dass es eine vollkommen überholte Sitte ist, die man unbedingt abschaffen sollte. Ich habe Faerie noch nie betreten – warum also sollte ich meine Zugehörigkeit zum Winterhof erklären?«

Ich war mir nicht sicher, wie ich nun zu der Kamee stand. Doch ich konnte sie auch nicht einfach abnehmen – im Augenblick war sie die einzige Verbindung zu meinem Dad. Wortlos steckte ich sie wieder in den Ausschnitt meines Shirts, wo man sie nicht sehen konnte.