27. Kapitel
Ich kniete zusammengekrümmt auf dem schmalen Rand und hustete mir eine halbe Ewigkeit die Seele aus dem Leib. Ethan tätschelte meinen Rücken und murmelte tröstliche Worte, doch mir ging es zu erbärmlich, um mich zu beruhigen.
Mein Hals und meine Nase brannten, weil das ganze Wasser aus meiner Lunge dort hinausgeschossen war. Meine Brust tat weh, weil ich so viel Wasser eingeatmet hatte. Und all meine Gelenke schmerzten, weil ich beim Tauziehen zwischen Ethan und dem Monster aus dem Graben das Tau gewesen war. Außerdem war ich komplett durchnässt und durchgefroren und zitterte am ganzen Körper.
Als der Hustenanfall etwas abgeklungen war, zog Ethan mich an sich, schlang seine Arme um mich und hielt mich an seinen warmen Körper gepresst. In dem Moment wurde mir bewusst, dass er nichts außer einer Hose trug. Trotzdem fühlte sein Körper sich im Gegensatz zu meinem wie ein Ofen an, und ich rollte mich zusammen und kauerte mich an ihn.
»Was war das?«, krächzte ich und erschauderte bei der Erinnerung an das fürchterliche, böse Gesicht im Wasser.
»Das war eine Wasserhexe«, erklärte Ethan. »Sie sind Bewohner von Faerie und gehören zumindest dem Namen nach zum Winterhof, was vermutlich der einzige Grund war, warum ich sie zum Loslassen bewegen konnte. Es gibt Dutzende von ihnen im Graben, und sie greifen alles an – egal ob Fee oder Mensch –, was ins Wasser fällt. Wenn in dem Graben nichts als Wasser wäre, würden die Leute und die Feen nach Avalon kommen und die Stadt wieder verlassen, wie es ihnen gefällt, und die Tore wären nutzlos.«
Bei dem Gedanken, dass Dutzende von diesen entsetzlichen Dingern im Graben patrouillierten und auf ein Gratisessen warteten, fing ich wieder an zu zittern. Nicht, dass ich mir sicher gewesen wäre, dass die Wasserhexe mich essen wollte, aber mit diesen spitzen Zähnen war das für mich kein ganz abwegiger Gedanke gewesen.
Ich fing an zu weinen, und ausnahmsweise schämte ich mich meiner Schwäche nicht. Mir fiel wieder ein, wie Grace, nur Augenblicke bevor sie das Telefon – und mich – in den Graben geworfen hatte, den verhängnisvollen Befehl in ihr Handy geschrien hatte.
»Sie hat meine Mom umgebracht«, schluchzte ich an Ethans Brust.
Er hielt mich fest und wiegte mich leicht. »Vielleicht nicht«, murmelte er. »Ich habe deinen Vater angerufen, nachdem ich meinen Dad informiert hatte. Er sagte, er würde Finn losschicken, um deine Mutter zu retten. Wir können nur hoffen, dass Finn es rechtzeitig ins Hotel geschafft hat. Ich wünschte, ich könnte dir eine sicherere Auskunft geben. Allerdings fürchte ich, dass mein Handy im Graben liegt.«
Ich schniefte und versuchte, das Beste zu hoffen. So etwas war schließlich Finns Beruf. Wenn jemand meine Mom vor Kirk hatte beschützen können, dann er. Doch obwohl ich mich bemüht hatte, Zeit zu schinden, war alles so wahnsinnig schnell gegangen. Hatte Finn wirklich die Zeit gehabt, zum Hotel zu gelangen, bevor Grace die Ermordung meiner Mutter angeordnet hatte?
»Ich will nach Hause«, murmelte ich, auch wenn ich nicht genau wusste, wo mein Zuhause eigentlich war.
»Ich weiß«, entgegnete Ethan. »Aber der Graben hat den Zweck, Leute aus Avalon fernzuhalten, also gibt es hier keinen ganz normalen Ausgang. In der Brücke über uns gibt es eine Falltür, doch mein Vater muss erst jemanden holen, der die Verriegelungszauber aufhebt, und dann müssen sie uns irgendwie hinaufziehen. Wir werden es hier wahrscheinlich eine Weile aushalten müssen.«
Mir war so kalt, dass ich bezweifelte, dass mir jemals wieder warm werden würde, und der Gegensatz zu Ethans Wärme verstärkte dieses Gefühl nur noch. Er rutschte zurück, bis er mit dem Rücken an dem Betonpfeiler lehnte. Dazu hatte er mich loslassen müssen, aber nun klopfte er auf seinen Schoß.
»Komm und setz dich«, sagte er. »Ich halte dich so warm, wie ich kann.«
Einen kurzen Moment dachte ich daran, was passiert war, als ich zum letzten Mal auf Ethans Schoß gesessen hatte, doch ich schob den Gedanken beiseite. Selbst Ethan war nicht Spieler genug, um mich ausgerechnet in dieser Situation anzumachen.
Also krabbelte ich auf seinen Schoß, und er hielt mich fest umschlungen. Mein Gesicht war an seine nackte Brust geschmiegt, während seine Körperwärme durch meine durchnässten Klamotten sickerte.
»Ist dir überhaupt nicht kalt?«, fragte ich ihn.
Ich spürte, wie er mit den Schultern zuckte. »Eigentlich nicht. Wir fühlen die Kälte nur, wenn sie extrem ist. Und wie du wahrscheinlich schon gemerkt hast, ist unsere Körpertemperatur höher als die der Menschen.«
Ja, das war mir aufgefallen. Jeder Zentimeter von mir, der mit seinem Körper in Berührung war, war angenehm warm. Leider waren noch viele Zentimeter übrig, und ich zitterte furchtbar.
»Du hast mir das Leben gerettet«, flüsterte ich an seiner Brust.
Mit dem Kinn rieb er über meinen Kopf. »Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«
Ich dachte über die Wasserhexe nach, mit ihren milchigen Augen, ihren rasiermesserscharfen Zähnen und dem klebrigen Spinnweben-Haar. Ohne zu zögern, war Ethan hinter mir her in den Graben gesprungen, obwohl er wusste, dass Dutzende von diesen Kreaturen im Wasser lauerten. Und auch wenn sie angeblich beide Angehörige des Winterhofes waren, war ihr Verhältnis zueinander nicht gerade herzlich.
Er hatte mich angelogen. Er hatte versucht, Magie gegen mich zu benutzen. Und er hatte einen Angriff auf mich eingefädelt, bei dem ich hätte getötet werden können. Aber am Ende hatte er sein eigenes Leben riskiert, um meines zu retten. Wie konnte ich ihm seine Fehler also nicht verzeihen?
»Dann sagen wir einfach, wir sind quitt, und belassen es dabei«, sagte ich. Wortlos hauchte Ethan einen Kuss auf mein Haar.
»Woher wusstest du, dass Grace meinem Vater einen Zauber entgegenschleudern würde?«, fragte er. »Du hast ihm mit deiner Warnung das Leben gerettet.«
Bei diesem Gedanken fühlte ich mich etwas weniger elend. Wenigstens hatte ich irgendetwas richtig gemacht. Und ich war froh, ein Leben gerettet zu haben, auch wenn ich selbst Hilfe benötigt hatte.
»Ich konnte spüren, wie die Magie sich aufgebaut hat«, erklärte ich und bemerkte, wie Ethan erstarrte. Ich wollte meinen Kopf von seiner Brust lösen, um ihm ins Gesicht zu sehen, doch das ließ er nicht zu.
»Was ist?«, fragte ich. »Was habe ich gesagt?«
»Du hast die Magie gespürt?«, wiederholte er und klang, als könnte er es nicht glauben.
»Ja. Zumindest denke ich das. Der Anhänger, den mein Vater mir geschenkt hat, erwärmt sich, und dann fängt meine Haut an zu kribbeln. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nur passiert, wenn in meiner Nähe Magie angewendet wird.«
Ethan schob mich ein Stückchen zurück und ließ zu, dass ich ihm ins Gesicht blicken konnte. Nicht, dass ich in der Dunkelheit unter der Brücke besonders viel erkannt hätte. Aber ich konnte die Anspannung in seiner Miene sehen.
»Ich werde vergessen, dass ich dir diese Frage gestellt habe«, sagte er. »Und ich werde ganz sicher deine Antwort darauf vergessen. Falls dein Vater oder meiner dich jemals danach fragen sollten, behaupte einfach, dass du Grace etwas hättest murmeln hören und dann eine Vermutung gehabt hättest, was kommen würde.«
»Warum?«
»Weil die Magie einen Faeriewalker üblicherweise als Menschen betrachtet, obwohl er tatsächlich zur Hälfte Fee ist. Wenn du allerdings spüren konntest, wie die Magie sich aufbaut, heißt das, dass du eine besondere Verbundenheit zu ihr hast. Und das bedeutet, dass du möglicherweise trainieren und irgendwann selbst Magie anwenden kannst. Du bist schon so eine mächtige und furchteinflößende Waffe. Sollte jemand die Vermutung haben, dass du auch Magie beherrschst …« Er schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Dann würden dich nicht nur die Königinnen ausschalten wollen.«
»Aber ich kann das doch nur wegen des Anhängers«, widersprach ich. »Wenn ich ihn abnehme …« Ich griff nach dem Verschluss an meinem Hals, doch Ethans Hände schlossen sich sanft um meine Handgelenke.
»Behalte ihn«, sagte er. »Ich weiß nicht, was der Anhänger genau kann, aber wenn er auf Magie reagiert, dann ist er ein Objekt der Macht und könnte dir eines Tages nützlich sein. Du hättest seine Wirkung gar nicht gespürt, wenn du nicht eine natürliche Veranlagung zur Magie hättest. Ein Mensch, der die Kamee trägt, würde nichts fühlen. Also, wir haben diese Unterhaltung nie geführt. Verstanden?«
Mit Augen, die ohne Zweifel so groß wie Untertassen waren, nickte ich. Warum hätte mein Vater mir ein »Objekt der Macht« geben sollen, wenn er der Meinung gewesen wäre, ich könnte nicht auf die Magie zugreifen? Hatte er irgendwie geahnt, dass ich sogar für einen Faeriewalker außergewöhnlich sein würde? Oder hatte er angenommen, dass die Kamee harmlos und nur ein Symbol meiner Zugehörigkeit zum Sommerhof sein würde, da ich sowieso keine Magie spürte? Wenn ich ihn nicht danach fragen konnte, würde ich die Antwort wahrscheinlich nie erfahren. »Und du wirst es niemandem erzählen?«, hakte ich nach. »Nicht einmal deinem Vater?«
»Was erzählen?«, erwiderte er, und obwohl er sich bemühte, trocken und geistreich zu klingen, entging mir seine Nervosität nicht.