12. Kapitel

Nachdem Kimber gegangen war, warteten Ethan und ich noch ungefähr fünf Minuten in ihrer Wohnung. Jede Faser meines Körpers war sich seiner Anwesenheit bewusst, doch er schenkte mir kaum Beachtung. Sein Blick war unentwegt auf den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen vor Kimbers Fenster gerichtet. Ich saß auf der Bettkante, hatte die Hände im Schoß verschränkt, und mein Herz schlug nur ein kleines bisschen zu schnell. Ich war mir nicht sicher, ob ich wegen Ethan oder wegen des Fluchtversuchs so nervös war.

»Auf geht’s«, sagte Ethan knapp, als er sich sicher war, dass Kimber ihren Beobachter weggelockt hatte.

Ich folgte ihm durch die Wohnung zur Eingangstür und musste fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten. »Wohin gehen wir?«, fragte ich, als ich endlich den Mut dazu aufbringen konnte.

Er hielt mir die Tür auf, damit ich zuerst hindurchgehen konnte, machte sie dann zu und vollführte eine dezente Bewegung mit seiner Hand. Ich hörte, wie das Schloss klickte.

»Du musst mir jetzt vertrauen«, entgegnete Ethan, ergriff meine Hand und brachte mich die Stufen in den Hof hinunter.

Das Gefühl seiner Hand auf meiner war genug, um mich verstummen zu lassen, und ich hörte kaum, was er sagte. Natürlich hielt er nur meine Hand, weil er mich führte. Es war keine vertrauliche Geste, und es war Wunschdenken von mir, mehr hineinzuinterpretieren. Zumindest redete ich mir das ein.

Seine Worte drangen nicht zu mir durch, bis wir direkt neben dem Bereich mit den Steinplatten stehen blieben, die den Eingang in das Tunnelsystem abdeckten.

»O nein, auf gar keinen Fall!«, stieß ich hervor und wollte meine Hand aus seinem Griff lösen.

Natürlich ließ er nicht los. »Wir gehen nicht wieder in die Höhle«, versicherte er. Er murmelte leise vor sich hin, und die Steinplatten schwebten zur Seite.

Ich blickte zu den Fenstern um uns herum hinauf. In vielen brannte Licht, da es nicht wie beim letzten Mal, als wir in die Tunnel hinabgestiegen waren, mitten in der Nacht war. »Wie viele Leute, denkst du, sehen uns gerade zu?«, fragte ich und zog versuchsweise noch einmal an meiner Hand, die er jedoch noch immer nicht freigab.

»Das ist egal. Die Tunnel sind ein offenes Geheimnis. Außerdem ist das System riesig. Wenn also jemand Grace verraten sollte, dass wir in den Tunneln sind, reicht das nicht aus, um nach uns zu suchen.«

»Was ist mit den Spriggans?«, wollte ich wissen.

»Wir haben uns letzte Nacht um das Problem gekümmert«, beteuerte er. »Sie können sich vielleicht leichter nach Avalon einschleichen als Menschen, aber ich bezweifle ernsthaft, dass jemand sie zwei Nächte hintereinander schickt. Und jetzt komm schon! Es sei denn, du möchtest, dass wir noch immer hier stehen und diskutieren, wenn Kimber und ihr Verfolger zurückkommen.«

Zu sagen, dass mir der Gedanke an die Tunnel nicht gefiel, war die reinste Untertreibung, doch ich musste zugeben, dass ich mich draußen im Freien furchtbar angreifbar fühlte. Also biss ich nickend die Zähne aufeinander, und Ethan ließ endlich meine Hand los, damit ich die Leiter hinunterklettern konnte.

Die Steinplatten hatten die Öffnung über unseren Köpfen schon wieder verschlossen, als meine Füße den Boden des Tunnels berührten. Bis auf den dünnen Lichtstrahl der Taschenlampe in Ethans Hand war es stockdunkel. Ich trat zur Seite, als Ethan aus halber Höhe von der Leiter sprang und anmutig neben mir landete. Bei einem derartigen Manöver hätte ein Mensch sich mindestens den Knöchel verstaucht.

Ich erinnerte mich an die heutige Unterrichtsstunde in Zauberei mit Kimber, und das Gelernte passte nicht zu dem, was ich gerade gesehen hatte.

»Gestern Nacht hast du keinen Zauber gesprochen, um die Einstiegsluke zu öffnen«, sagte ich. »Warum musstest du es heute?«

»Ich arbeite noch immer daran, ohne Worte zu zaubern«, erwiderte er. »Es ist viel schwieriger, und es strengt mich sehr an.« Er wirkte ungewöhnlich ernst. »Deshalb konnte ich die Jungs gestern auch nicht besser heilen. Wenn ich die Einstiegsluke auf die einfache Weise geöffnet hätte …« Er zuckte mit den Schultern und ließ den Satz unvollendet.

Vermutlich hätte ich etwas sagen sollen, um ihm die Schuldgefühle zu nehmen. Aber ich erinnerte mich gut daran, wie er vergangene Nacht Salz in Kimbers Wunde gestreut hatte, als er so mit seinen Fähigkeiten angegeben hatte, und ich fand, er verdiente es, ein bisschen zu schmoren. Egal, wie cool er war.

Als ich nichts sagte, entstand ein peinliches Schweigen. Doch Ethan beendete die Verlegenheit schon bald, indem er wieder einmal in das Herz des Berges vorausging.

Gestern waren wir ziemlich lange geradeaus gelaufen, ehe wir zu der Höhle abgebogen waren. Jetzt gingen wir praktisch sofort in einen Seitentunnel, dann in den nächsten und in den nächsten, bis ich so vollkommen durcheinander war, dass ich nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wo ich mich befand. Ich fragte mich automatisch, ob Ethan das mit Absicht tat, ob er dafür sorgen wollte, dass ich nicht ohne Hilfe aus dem Tunnelsystem herausfand.

Bisher war das einzige Zeichen, das ich entdeckt hatte und das bewies, dass die Tunnel nicht vollkommen verlassen waren, die Höhle des Studentischen Untergrundes gewesen. Aber heute Abend führte Ethans und mein Weg in einen ganz anderen Teil des Tunnelsystems. Wir bogen um eine Ecke, und plötzlich wurde der Gang merklich breiter und außerdem von elektrischen Lampen erhellt. Eine breite Treppe führte offenbar an die Oberfläche, und ein stetiger Strom von Personen bewegte sich die Stufen hinauf und hinunter. Ihre Stimmen hallten in dem begrenzten Raum wider, doch ich konnte über das Gemurmel hinweg Musik hören und den Bass unter meinen Füßen wummern spüren.

»Da unten gibt es einen großartigen Nachtklub«, erklärte Ethan und wies auf eine abwärtsführende Treppe. Auf einem Neonschild mit einem blinkenden Blitz, das über den Stufen hing, stand: Hier entlang zu The Deep. »Ich muss dich mal mitnehmen, wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat.«

Ich war mir nicht sicher, was ich dazu sagen sollte. Es klang beinahe so, als wollte er mich um ein Date bitten. Ich runzelte die Stirn. Eigentlich war es gar keine Frage gewesen.

Bevor ich sämtliche Bedeutungen dieses einfachen Satzes durchanalysieren konnte, führte Ethan mich zu einer anderen Abzweigung des Tunnels, und kurz darauf waren wir zurück in dem dunklen, unheimlichen Teil, in dem man Beklemmungen bekommen konnte. Ich bemühte mich, mir den Weg zu merken, damit ich notfalls wenigstens zurück zur Treppe fand, die ans Tageslicht führte.

Wir liefen weitere fünfzehn Minuten und bogen dabei nur zweimal ab – das war übersichtlich genug, dass selbst ich die berechtigte Chance hatte, aus dem Tunnel zu finden.

Irgendwann hielten wir mitten in einer der unterirdischen Röhren an, die aussah wie jeder andere verlassene Gang, den ich bis jetzt gesehen hatte. Ich blickte in beide Richtungen, konnte an diesem Ort jedoch nichts Ungewöhnliches erkennen.

Ethan murmelte etwas. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, dass er »Sesam, öffne dich!« gesagt hatte. Aber das mochte auch an den verwirrenden Echos gelegen haben.

Im nächsten Moment erschien aus dem Nichts eine türähnliche Öffnung in der Wand. Ich blinzelte verstört.

»Es ist ein Illusionszauber«, erklärte Ethan mit einer Spur Stolz in der Stimme. »Niemand, der den Tunnel entlanggeht, würde auf die Idee kommen, dass hier eine Tür ist.«

Mit einer ausholenden, feierlichen Handbewegung winkte er mich durch die Öffnung. Vorsichtig trat ich durch den Einstieg, an dessen Stelle einen Augenblick zuvor noch eine scheinbar massive Wand gewesen war. Ich rechnete fast damit, dass diese wieder auftauchen würde, während ich noch nicht ganz durch die Öffnung hindurch war, doch alles ging gut.

Beim Anblick des Raumes hinter der imaginären Wand machte ich nicht gerade vor Freude einen Luftsprung. Er hatte die Größe von Kimbers Schlafzimmer, und die einzigen Möbel waren zwei Feldbetten, ein einfacher Kartentisch und zwei Klappstühle – es sei denn, man zählte den großen Überseekoffer in der Ecke ebenfalls mit dazu. Abgesehen davon befanden sich noch eine Petroleumlampe auf dem Tisch sowie je ein Keramiktopf unter jeder Pritsche.

»Sag nicht, dass das Nachttöpfe sind!«, brachte ich hervor, als Ethan die Lampe anmachte.

Er warf mir über die Schulter hinweg ein verlegenes Lächeln zu. »Das hier ist nur vorübergehend«, versprach er. »Wie du gesehen hast, gibt es im Untergrund Orte mit Elektrizität und fließend Wasser, aber die sind auch nicht so gut versteckt.«

»Was ist das hier für ein Ort?«, fragte ich.

Ethan hatte die Lampe entzündet und schaltete seine Taschenlampe aus. »Der Untergrund unterstützt – unter anderem – Leute, die bestimmte, äh, politische Probleme haben. Manchmal brauchen sie einen Platz, an dem sie sich eine Weile verstecken können. Es ist vielleicht nicht luxuriös, doch nichts und niemand wird dich hier unten finden.«

Meine Augen begannen zu brennen, und ich biss mir heftig auf die Unterlippe, um sie am Zittern zu hindern. Dieser kleine Unterschlupf hätte in einem historischen Film durchaus als Verlies durchgehen können. Die Trostlosigkeit des Ortes machte mir die Trostlosigkeit meiner Situation noch einmal unerbittlich klar. Bisher war ich mit Stress immer so umgegangen, dass ich meine Reaktion verschoben hatte, bis die Krise ausgestanden war. Aber seit ich in Avalon angekommen war, hatte es eine Krise nach der anderen gegeben, und meine Selbstbeherrschung geriet allmählich ernsthaft ins Wanken.

Ethan war mit ein paar langen Schritten bei mir, und ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte er seine Arme um mich geschlungen und zog mich an sich.

»Weine nicht«, murmelte er in mein Haar. »Es ist doch nur so lange, bis dein Vater aus dem Gefängnis kommt. Nicht mehr als eine Nacht. Zwei – höchstens. Und ich werde dich hier unten nicht allein lassen. Wir stehen das gemeinsam durch.«

Ich dachte darüber nach, wie es wäre, wenn Ethan mich hier zurücklassen würde, und das reichte aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Sosehr es mir auch missfiel, es zuzugeben, doch es tat gut, dass er mich festhielt. Tränen rannen mir über die Wangen, und ich klammerte mich fast verzweifelt an Ethan. Er hob mich hoch und setzte mich auf eine der Pritschen, praktisch auf seinen Schoß. Er hielt mich noch immer in den Armen, hatte eine Hand an meinen Kopf gelegt, so dass mein Gesicht an seine Brust gedrückt wurde, und rieb mit der anderen beruhigend über meinen Rücken.

Seine Berührungen waren Ablenkung genug, und allmählich begann ich, mein Elend über meine Umgebung zu vergessen. Die Luft im Tunnelsystem war kühl, aber Ethans Körper war warm und behaglich. Und er duftete einfach lecker. Offenbar hatte er ein Eau de Cologne aufgelegt. Dezent, doch mit einem würzigen, erdigen Aroma. Ich atmete tief ein – einerseits, um die Tränen zu vertreiben, andererseits, um noch etwas von seinem Duft aufzunehmen.

Er zog mich ganz auf seinen Schoß, und ich glaubte nicht, dass es sich jetzt noch um eine »Bitte, wein doch nicht mehr«-Umarmung handelte. Ich schluckte schwer, und mein Puls raste, als ich mich fragte, was als Nächstes passieren würde. Sollte ich einfach so sitzen bleiben und mein Gesicht an seine Brust schmiegen? Oder sollte ich den Kopf heben, damit er mich küssen konnte?

Oder sollte ich eigentlich schon halb durch den Raum gerannt sein und ihm entgegenschleudern, dass er seine Hände gefälligst bei sich behalten solle?

Ich war nie ein besonders unschlüssiger Mensch gewesen, aber Ethan brachte meine Gehirnzellen so durcheinander, dass ich nur dasitzen konnte, während mein Verstand im Leerlauf lief. Mit dem Kinn strich er sacht über meinen Kopf, und mit den Händen massierte er meinen Rücken. Unter anderen Umständen hätte ich einfach denken können, dass er versuchte, mich zu trösten, doch da mein Kopf an seine Brust gelehnt war, hörte ich, wie sein Herz schneller schlug. Ich hielt erwartungsvoll den Atem an, und mein Pulsschlag erhöhte sich, bis er so schnell ging wie seiner. Ich kuschelte mich noch enger an ihn, in seine Wärme.

Vermutlich war ich ziemlich verspannt, denn Ethan lachte leise. Das Geräusch seines Lachens brachte mein Innerstes zum Dahinschmelzen.

»Entspann dich, Dana«, sagte er. »Ich beiße nicht. Und ich verspreche dir, die Situation nicht auszunutzen.«

Die Hitze in meinen Wangen brannte praktisch durch den Stoff seines T-Shirts. Schlimm genug, dass ich so nervös war. Noch schlimmer war allerdings, dass er es auch noch wusste. Und er lachte über mich.

Okay, er lachte über mich, während er noch immer die Arme um mich gelegt hatte, aber trotzdem …

Ich zwang mich dazu, die Luft rauszulassen, die ich die ganze Zeit über angehalten hatte, und normal weiterzuatmen. »Ich, äh … ich bin erst sechzehn«, sagte ich. »Das ist alles ganz neu für mich.« Und ich war mir nicht sicher, was ein achtzehnjähriger Typ von mir erwartete. Ich meine, er war praktisch erwachsen und ich … nicht.

»Keine Sorge«, versicherte er. »Es ist noch nicht so lange her, dass ich sechzehn war. Ich erinnere mich noch gut daran.«

Ich glaubte kaum, dass er mit sechzehn so gewesen sein konnte wie ich. Er besaß einfach viel zu viel lässiges Selbstbewusstsein, als dass ich auch nur einen Moment geglaubt hätte, dass er bei Mädchen schüchtern gewesen sein konnte. Doch es war nett von ihm, dass er versuchte, mich aufzumuntern.

»Ich nehme an, du hast keinen Freund?«, fragte er.

Ich hatte Angst zu sprechen, weil ich fürchtete, etwas Dummes sagen zu können, also schüttelte ich nur den Kopf. Er legte einen Finger unter mein Kinn und hob mein Gesicht an, so dass ich ihn ansehen musste. Mein Atem stockte, und ein wohliger Schauer rieselte über meinen Rücken. Seine Augen, die sonst außergewöhnlich hell waren, wirkten durch seine geweiteten Pupillen fast schwarz, und er blickte mich an, als wäre ich eine Süßigkeit, die er unglaublich gern vernaschen wollte.

Er neigte den Kopf und presste seine Lippen auf meine.

Mein Verstand war vollkommen überfordert. Ethans Lippen waren warm und feucht, als sie meinen Mund berührten, und er schmeckte merkwürdigerweise nach Kirschen. Ich bemühte mich, seine Bewegungen widerzuspiegeln, aber ich fühlte mich total plump und war überzeugt davon, alles falsch zu machen.

Mit der Zunge strich er über meine Lippen, bis ich sie für ihn öffnete. Er vertiefte unseren Kuss, und ich versank praktisch in seinem Geschmack, dem Gefühl, seinem Duft. Doch so heiß er auch war und sosehr ich mich auch zu ihm hingezogen fühlte, war ich mir nicht sicher, ob ich diesen Weg wirklich gehen wollte. Ich war allein mit ihm in einer abgeschiedenen Höhle, ich küsste ihn, ich spürte, wie viel Spaß es ihm machte, und ich kannte ihn nicht gut genug, um sicher sein zu können, dass er auch tatsächlich aufhörte, wenn ich es wollte.

Ethan unterbrach den Kuss und strich mir zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich war so verwirrt und verlegen, dass ich seinen Blick nicht erwidern wollte, aber andererseits konnte ich auch nicht wegschauen. Er lächelte mich an.

»Du musst aufhören, so viel nachzudenken«, murmelte er seltsam hypnotisch, als er sich vorbeugte, um mich wieder zu küssen.

Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, um zu sprechen, doch irgendwie gelang es mir. »Meine Mom hat damals, als sie mit meinem Dad zusammen war, auch beschlossen, nicht zu viel nachzudenken, und das hat kein gutes Ende genommen.«

Ethan lachte leise und zog sich zurück. »Da bin ich anderer Ansicht«, entgegnete er, fuhr mit den Fingerspitzen die Konturen meines Gesichtes nach und streichelte dann sanft über meinen Hals. »Ich glaube, es hat sogar ein sehr gutes Ende genommen.«

Das war eine schöne Bemerkung, und ich spürte, wie ich vor Freude rot wurde. Ein Teil von mir hüpfte aufgeregt auf und ab und schrie: »Sei kein Baby!« – immerhin war es nur ein Kuss.

Aber ich musste immerzu an Kimbers Warnungen denken. Ethan war ein Spieler, und egal, wie heiß er war, ich wollte nicht sein Spielzeug sein.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, sagte ich und versuchte, von seinem Schoß zu rutschen.

Ich war nicht sehr überrascht, als er seinen Griff um mich verstärkte. »Du musst keine Angst vor mir haben«, erwiderte er.

Das war wieder ein guter Satz. Ein Angriff auf meine Eitelkeit, eine Herausforderung für mich zu zeigen, dass ich keine Angst hatte. Doch es war eben offensichtlich ein nur so dahingesagter Satz, und ich hatte nicht vor, darauf hereinzufallen.

»Lass mich los.« Ich sagte es ruhig, obwohl ich tief in meinem Inneren einen Hauch von Panik verspürte. Wenn er die Sache weiterführen wollte, hätte ich keine Chance, ihn daran zu hindern. Also hatte ich vermutlich tatsächlich ein bisschen Angst vor ihm.

Ich war auf Widerstand gefasst, und so war ich freudig überrascht, als Ethan mich von seinem Schoß schob und etwas von mir abrückte. Er sah nicht einmal verärgert aus.

»So besser?«, fragte er mit diesem für ihn so typischen schiefen Grinsen.

Ich bezweifelte, dass er es gewohnt war, von irgendjemandem abgewiesen zu werden, aber er schien es ohne große Mühe wegzustecken. Woraufhin ich mich schuldig fühlte, weil ich so misstrauisch gewesen war. Wenn er wirklich mit mir spielte, hätte er mich sicher nicht so einfach losgelassen.

Ich stieß ein frustriertes Schnauben aus. Vielleicht hatte er recht, und ich sollte wirklich nicht so viel nachdenken. Doch ich wusste nicht, wie ich das abschalten sollte. Ich verschränkte die Hände im Schoß und starrte sie an, während ich mich fragte, was mein Problem war. Wenn ein Typ wie Ethan mich küsste, sollte ich geschmeichelt dahinschmelzen und es nicht halb zu Tode analysieren. Vielleicht war ich verklemmt?

»Jetzt schau nicht so unglücklich«, sagte Ethan. »Du hast doch das Recht, nein zu sagen.«

Ich wagte einen Blick in seine Richtung und konnte noch immer kein Zeichen von Verärgerung oder Enttäuschung auf seinem Gesicht entdecken.

Dann – vollkommen gegen meinen Willen, ich schwöre es – wanderte mein Blick nach unten. Ich konnte sehen, dass er, auch wenn er nicht wütend oder so war, doch immer noch ganz schön begierig darauf war, dass aus meinem Nein ein Ja wurde. Selbstverständlich sah ich sofort weg, wurde aber wieder rot.

In einem ihrer nüchternen Momente, als meine Mutter darauf bestanden hatte, »das Gespräch« mit mir zu führen, obwohl ich seit Ewigkeiten über die Bienchen und Blümchen Bescheid wusste, hatte sie mich gewarnt, dass Jungs gern behaupten, schlimme Schmerzen zu haben, wenn sie so erregt sind und man sie nicht ranlässt. Da ich sicher war, dass Ethan die Richtung meines Blickes gemerkt hatte und blind sein musste, wenn ihm nicht aufgefallen war, dass ich dunkelrot geworden war, dachte ich, dass dies der perfekte Zeitpunkt für ihn sein müsste, um Schuldgefühle in mir zu wecken. Aber das tat er nicht.

Ethan lachte, doch es war ein warmherziges, nettes Lachen, in dem keine Spur von Spott mitschwang. »Das wird mich nicht umbringen«, sagte er. »Und vergiss nicht: Ich habe dir versprochen, die Situation nicht auszunutzen. Ich halte meine Versprechen. Ich wollte dich nur küssen.«

»Echt?«, fragte ich und klang sicher so ungläubig, wie ich mich fühlte. Ich warf ihm unter meinen gesenkten Wimpern hervor einen Blick zu.

»Warum findest du das so schwer zu glauben?«

»Tja, äh … du bist … äh, älter als ich. Und, äh …« O Gott, lass mich sterben. Ich wollte diese Unterhaltung nicht führen, und ich wollte mich auch ganz sicher nicht so zum Idioten machen. Aber mein Verstand schien sich noch nicht von dem letzten Aussetzer erholt zu haben, und ich konnte offenbar keinen zusammenhängenden Satz hervorbringen.

Ethan erlöste mich von meinen Qualen, indem er aussprach, was ich nicht sagen konnte, weil ich schlicht zu prüde war. »Dass ich keine Jungfrau mehr bin, bedeutet nicht, dass ein Kuss nur Mittel zum Zweck ist. Ob du es glaubst oder nicht: Ich finde Küssen allein schon schön.« Er schenkte mir wieder dieses sexy verschmitzte Lächeln, und mein Herz begann zu flattern.

»Also war alles, was du wolltest, ein Kuss?«, fragte ich. Eine kleine Stimme in meinem Kopf warnte mich, dass ich mich auf dünnes Eis begab. Ich befahl der kleinen Stimme, die Klappe zu halten.

»Tja, vielleicht mehr als nur einen. Aber im Prinzip ja.«

Ich zögerte noch immer.

»Hör mal«, fuhr er fort. »Wenn ich versuchen würde, dich zu irgendetwas zu drängen, was du nicht willst, wirst du dich doch dagegen sperren und mir nie wieder vertrauen. Und das werde ich nicht riskieren.«

Ich entspannte mich ein wenig. Es war echt anstrengend, die ganze Zeit über in Abwehrhaltung zu sein und die Augen nach möglichen Gefahren offen zu halten. Ich machte das schon, seit ich denken konnte, denn ich hatte noch nie darauf vertrauen können, dass meine Mutter uns beschützte. Allmählich hatte ich es satt. Und ein Grund für meine Reise nach Avalon war auch gewesen, endlich dieser ständigen schweren Belastung durch die Verantwortung zu entkommen. Also zur Hölle mit Kimbers Warnungen, und zur Hölle mit meinen eigenen Bedenken!

Ich hob das Kinn an und blickte Ethan direkt in die Augen, als hätte ich allen Mut der Welt. »Also gut.«

Dieses Mal saß ich nicht auf Ethans Schoß, sondern lehnte mich an seine Seite und bot ihm meinen Mund an. Als seine Lippen meine berührten, spürte ich einen Ruck, etwas wie einen elektrischen Schlag, der von meinen Zehen- bis in meine Haarspitzen durch meinen Körper zuckte. Und plötzlich war es überraschend leicht, nicht mehr nachzudenken und nur noch zu fühlen.

Er reizte mich mit zarten Küssen, und ich keuchte vor Lust auf. Dieses Mal musste er mich nicht auffordern, den Mund zu öffnen, und erforschte mich mit seiner Zunge. Wieder jagte etwas wie ein Blitz durch mich, und ich schlang meine Arme um seinen Hals und genoss seinen Geschmack und das Gefühl, ihn zu spüren. Meine Gliedmaßen prickelten, und es war, als würde dichter Nebel meinen Kopf umhüllen.

Ich atmete Ethans Duft ein, schwelgte in der Wärme seines Körpers und in seinen Kirschküssen, und mein Verstand hatte nichts mehr zu melden. Irgendwie lag ich schließlich auf der Pritsche, den Kopf auf dem Kissen, während Ethan sich über mich beugte und seinen Oberkörper an meinen schmiegte. Tief in meinem Innern nahm ich wahr, dass sein Gewicht die Kamee gegen meine Haut presste und dass der Anhänger wieder seltsam warm war. Dann begann Ethan, mit der Hand über den Stoff meines T-Shirts zu streicheln, und ich dachte überhaupt nicht mehr nach. Er hielt sich von allen … empfindlichen Stellen fern, doch mein Körper war sich der Möglichkeiten vollkommen bewusst. Wenn mein Mund nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht sogar gebeten, sein Versprechen zu brechen.

Mit der Zunge tauchte er in meinen Mund ein und zog sich dann wieder zurück, um im nächsten Moment wieder einzudringen – es war ein so zweideutiger Rhythmus, dass ich tatsächlich aufstöhnte. Jede Faser meines Körpers kribbelte, und Wärme breitete sich in meinem Innern aus. Es fühlte sich so, so gut an …

Wie ich schon sagte, ich dachte nicht nach, und mein Kopf war benebelt, aber ich nehme an, dass meine Vorsicht auf einem unterbewussten Level wohl nie ganz nachlässt. Das Kribbeln, die Wärme, der benebelte Verstand … das alles erinnerte mich an etwas. Es erinnerte mich daran, wie ich mich gefühlt hatte, als ich Kimbers extrastarken heißen Punsch getrunken hatte.

Die Erkenntnis wirkte wie ein Schwall kalten Wassers, und der Nebel löste sich auf, als wäre er nie da gewesen. An diesem Bild stimmte etwas ganz und gar nicht. Es war unmöglich, dass aus dem Nervenbündel, das ich noch vor ein paar Augenblicken gewesen war, so plötzlich diese entspannte, ungezwungene, sinnliche Frau geworden war. Jedenfalls nicht ohne ein bisschen Hilfe. Ich stemmte meine Hände gegen Ethans Brust und war erleichtert, dass er tatsächlich aufhörte. Mein Atem ging heftig, und mein Puls raste noch immer, doch ich war mir sicher, dass Ethan etwas getan hatte. Außer mich zu küssen.

»Was hast du mit mir gemacht?«, wollte ich wissen und versuchte, mich aufzusetzen.

Ethan bemühte sich nicht einmal, so zu tun, als wüsste er nicht, wovon ich sprach. »Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Es war nur ein kleiner Zauberspruch, der dir helfen sollte, dich zu entspannen.«

Im nächsten Moment war ich aufgesprungen und starrte Ethan entsetzt an. »Du meinst, du kennst einen Zauber, der wie K.-o.-Tropfen wirkt?«, schrie ich. Mein Gesicht brannte vor Scham, und ich wollte mich nur noch zusammenrollen und sterben. Hätte ich noch naiver sein können? Warum hatte ich nicht auf Kimber gehört?

Er runzelte die Stirn, als wäre er über meine Reaktion überrascht. »Nein. Nein, gar nicht.« Er stand auf und machte einen Schritt auf mich zu.

Ich dachte nicht nach, reagierte nur, mit all dem Schmerz und dem Zorn und ja, der Angst in meinem Körper. Als er seine Arme nach mir ausstreckte, riss ich mein Knie hoch und traf ihn dort, wo es am meisten weh tat. Er krümmte sich und griff sich in den Schritt. Erst jetzt begann ich zu zittern, schnappte mir die Petroleumlampe, stürmte aus dem Raum in den Tunnel hinein und hoffte – auch wenn ich es eigentlich besser wusste –, dass mein Orientierungssinn mich ein einziges Mal nicht im Stich lassen würde.