Prolog
Der Tropfen, der das ohnehin schon randvolle Fass schließlich zum Überlaufen brachte, war der Moment, als meine Mom betrunken bei meinem Konzertabend auftauchte. Damit meine ich nicht beschwipst – ich meine torkelnd, lallend und für jedermann ersichtlich besoffen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, kam sie auch noch zu spät. Als sie durch die Türen wankte und ganz hinten auf einen der Klappstühle aus Metall fiel, drehte jeder im Saal den Kopf, um sie wütend anzufunkeln, weil sie die Vorstellung störte.
Ich wartete hinter den Kulissen auf meinen Auftritt und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Ms. Morris, meine Gesangslehrerin, war die Einzige im Raum, die wusste, dass der Störenfried meine Mutter war. Ich hatte sehr genau darauf geachtet, jeden Kontakt zwischen meiner Mutter und den Schülern dieser Schule zu verhindern – meiner neuesten Schule, auf der ich hoffentlich meinen Abschluss machen würde. Falls wir es schafften, nur dieses eine Mal zwei volle Jahre an ein und demselben Ort zu bleiben.
Als ich an der Reihe war, warf Ms. Morris mir einen mitfühlenden Blick zu, bevor sie ihre Hände auf die Tasten des Pianos legte. Mein Gesicht glühte vor Scham, und meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich Angst hatte, meine Stimme würde versagen, sobald ich den Mund aufmachte.
Dabei habe ich von Natur aus eine schöne Stimme – eine Folge meiner supergeheimen Feenabstammung. Eigentlich hatte ich keinen Gesangsunterricht nötig, aber die Sommerferien würden in ein paar Wochen beginnen, und ich brauchte unbedingt eine Ausrede, um ab und zu mal aus dem Haus zu kommen, ohne gleich jede Minute meiner freien Zeit opfern zu müssen. Gesangsunterricht passte da wunderbar. Und außerdem machte es mir Spaß.
Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und meine Handflächen waren schweißnass, als Ms. Morris die Einleitung spielte. Ich versuchte, mich auf die Musik zu konzentrieren. Wenn ich das Lied überstand und mich auch sonst normal verhielt, musste ja niemand im Publikum erfahren, dass die betrunkene Idiotin in der letzten Reihe mit mir verwandt war.
Als das Vorspiel zu Ende war, kam mein Einsatz. Trotz meiner suboptimalen Gefühlslage ergriff die Musik Besitz von mir, und ich ließ mich von der Schönheit von »Voi che sapete«, einer meiner Lieblingsarien von Mozart, mitreißen. Traditionsgemäß wurde das Lied von einer Frau gesungen, die so tat, als wäre sie ein Junge. Deshalb war diese Arie perfekt für meinen klaren Sopran mit diesem Hauch von Vibrato, der meiner Feenstimme einen menschlichen Anklang verlieh.
Ich traf jede Note und vergaß auch meinen Text nicht. Ms. Morris nickte ein paarmal zufrieden, als mir die Phrasierung so gelang, wie sie es sich vorstellte. Doch ich wusste, dass ich es besser gekonnt hätte, dass ich mehr Gefühl hätte hineinlegen können, wenn ich mir Moms Anwesenheit nicht so zwanghaft bewusst gewesen wäre.
Ich atmete erleichtert auf, als ich fertig war. Das heißt, bis der Applaus anfing … Die meisten Eltern und Schüler spendeten einen höflichen, aber herzlichen Beifall. Meine Mom dagegen feierte mich mit stehendem Applaus und zog damit einmal mehr alle Blicke auf sich. Und machte selbstverständlich klar, dass sie zu mir gehörte.
Wenn ich in diesem Augenblick vom Blitz erschlagen worden wäre, hätte ich überhaupt nichts dagegen gehabt.
Ich hätte ihr gar nicht von dem Konzert erzählen sollen. Doch obwohl ich es eigentlich besser wusste, war da immer noch dieser Teil von mir, der sich eine normale Mutter wünschte, die kam, um mich singen zu hören, die mir applaudierte und stolz auf mich war – ohne dabei sturzbesoffen zu sein. Ich bin so bescheuert!
Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis die Geschichte sich an dieser Schule herumgesprochen hätte. An meiner letzten Highschool hatte es, nachdem eine dieser zickigen Cheerleaderinnen mir und meiner Mutter beim Einkaufen in die Arme gelaufen war – Mom war natürlich alles andere als nüchtern gewesen –, ganz genau einen Tag gedauert, bis wirklich jeder gewusst hatte, dass meine Mutter eine Alkoholikerin war. Zwar hatte ich auch vorher nicht gerade zu den beliebten Schülern gehört, aber danach … Tja, sagen wir einfach, dass ich ein einziges Mal echt erleichtert war, als wir wieder umzogen.
Ich bin sechzehn Jahre alt, und soweit ich zurückdenken konnte, hatten wir schon in zehn unterschiedlichen Städten gewohnt. Wir zogen so oft um, weil Mom verhindern wollte, dass mein Dad mich fand. Sie hatte Angst, dass er versuchen würde, mich ihr wegzunehmen. Und angesichts der Tatsache, dass sie nicht gerade ein Paradebeispiel für elterliche Perfektion ist, wäre das durchaus möglich.
Ich hatte meinen Vater nie kennengelernt, doch meine Mom hatte mir alles über ihn erzählt. Die Geschichte änderte sich natürlich – je nachdem, wie betrunken und/oder deprimiert sie gerade war. Mit ziemlicher Sicherheit stimmt aber meiner Meinung nach, dass Mom in Avalon geboren wurde und den Großteil ihres Lebens dort verbracht hat und dass mein Dad ein hohes Tier unter den Feen ist. Meiner Mom war das allerdings nicht klar gewesen, als sie anfing, sich mit ihm zu treffen. Sie fand es schließlich heraus, und als sie schwanger wurde, verließ sie die Stadt, noch ehe irgendjemand etwas bemerkte.
Manchmal sagte meine Mutter, sie habe Avalon den Rücken gekehrt, weil mein Dad ein fürchterlicher, böser Mann wäre und weil er mich mit Sicherheit unvorstellbar schlecht behandelte, würde ich bei ihm leben. Das war ihre Version, wenn sie nüchtern war, die Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, um dafür zu sorgen, dass ich kein Interesse daran hätte, ihn kennenzulernen. »Er ist ein Monster, Dana«, brachte sie immer dann als Erklärung an, wenn wir schon wieder umziehen mussten. »Ich kann nicht zulassen, dass er dich findet.«
Aber wenn sie stockbesoffen war und mich mit allem volllallte, was ihr gerade in den Sinn kam, erklärte sie mir, dass sie Avalon verlassen habe, weil ich sonst als Tochter eines hohen Tieres unter den Feen aufgewachsen und so in hässliche politische Machenschaften geraten wäre. Wenn sie in so einer Stimmung war, konnte sie stundenlang darüber reden, was für ein toller Kerl mein Vater gewesen sei, dass sie ihn mehr geliebt habe als ihr eigenes Leben, doch dass ihre Verantwortung als Mutter eben an erster Stelle kommen müsse. Würg!
Am liebsten hätte ich mich noch vor Ende des Konzertes weggeschlichen, aber das konnte ich nicht riskieren. Möglicherweise war Mom dumm genug gewesen, um mit dem Auto zu kommen, und auf keinen Fall konnte ich sie in ihrem Zustand allein nach Hause zurückfahren lassen. Ich muss zugeben, dass mir der Gedanke kam – und das nicht zum ersten Mal –, dass mein Leben sich deutlich verbessern könnte, wenn sie bei einem Autounfall ums Leben käme. Sofort schämte ich mich dafür, diesen Gedanken überhaupt zugelassen zu haben. Natürlich wollte ich nicht, dass meine Mutter starb. Ich wollte einfach nur, dass sie keine Alkoholikerin mehr war.
Ms. Morris nahm mich an die Seite, nachdem alle Beteiligten vorgesungen hatten. Das Mitgefühl in ihren Augen war fast mehr, als ich ertragen konnte. »Brauchst du Hilfe, Dana?«, fragte sie leise.
Ich schüttelte den Kopf und mied ihren Blick. »Nein. Danke. Ich … werde mich um sie kümmern.« Meine Wangen glühten wieder, also verschwand ich so schnell wie möglich. Dabei achtete ich darauf, meinen Mitschülern aus dem Weg zu gehen, die mir entweder zu meinem brillanten Auftritt gratulieren (ja, genau!) oder einfach einen besseren Blick auf meine Mom erhaschen wollten, damit sie es all ihren Freunden erzählen konnten.
Mom versuchte gerade, sich unter die anderen Eltern zu mischen, als ich zu ihr kam. Sie war allerdings zu betrunken, um die unterschwelligen »Sie sind eine Säuferin, also lassen Sie mich in Ruhe«-Schwingungen zu verstehen, die die anderen Eltern aussandten. Mit dem Gefühl, dass mich noch immer alle anstarrten, ergriff ich ihren Arm.
»Komm, lass uns nach Hause fahren«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Dana!« Sie schrie beinahe. »Du warst wundervoll!« Sie umarmte mich so fest, als hätte sie mich drei Jahre lang nicht gesehen.
»Freut mich, dass es dir gefallen hat«, zwang ich mich zu sagen, während ich mich aus ihrer erdrückenden Umklammerung wand und sie Richtung Ausgang zog. Es schien ihr nichts auszumachen, quer durch den Saal gezerrt zu werden. Das war wenigstens etwas. Es hätte noch schlimmer sein können, versuchte ich mir einzureden.
Ich musste Mom nicht einmal fragen, ob sie mit dem Wagen hier war, denn sobald wir nach draußen kamen, konnte ich das Auto sehen: Es war so schief abgestellt, dass es drei Stellplätze belegte. Ich schickte einen stummen Dank gen Himmel, dass es ihr nicht gelungen war, jemanden umzubringen.
Ungeduldig streckte ich meine Hand aus. »Die Schlüssel.«
Sie schniefte und bemühte sich, würdevoll zu wirken. Was nicht ganz einfach war, da sie sich am Geländer festklammern musste, um nicht kopfüber die Stufen zum Parkplatz hinunterzufallen. »Ich bin sehr wohl in der Lage, selbst zu fahren«, ließ sie mich wissen.
Wut kochte in mir hoch, doch ich wusste genau, dass es nichts bringen würde, jetzt zu explodieren – ganz egal, wie gut mir das täte. Mit Ruhe und Vernunft – wenn auch nur gespielt – würde ich sie vermutlich schneller auf den Beifahrersitz bekommen und sie so aus dem Licht der Öffentlichkeit schaffen können. Ein lautstarker Streit vor allen Leuten war das Letzte, was ich im Moment wollte. Mom hatte ihnen schon genug Gesprächsstoff geliefert.
»Lass mich trotzdem fahren«, entgegnete ich. »Ich muss üben.« Wenn sie auch nur ein klitzekleines bisschen nüchterner gewesen wäre, hätte sie die unterdrückte Wut in meiner Stimme bemerkt, aber in ihrem Zustand merkte sie gar nichts. Zu meiner Erleichterung reichte sie mir zumindest die Schlüssel.
Auf der Fahrt nach Hause hielt ich das Lenkrad vor Anspannung so fest umklammert, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Meine Mom schwärmte gerade enthusiastisch von meinem Auftritt, als der Schnaps schließlich gewann und sie einschlief. Ich war dankbar für die Stille, obwohl ich wusste, dass es eine ziemliche Quälerei werden würde, sie in ihrem Zustand aus dem Auto zu hieven und ins Haus zu schaffen.
Als ich auf unsere Einfahrt bog und über die vor mir liegende Aufgabe nachdachte, wurde mir klar, dass ich so nicht weiterleben konnte. Nichts konnte schlimmer sein, als mit meiner Mutter zusammenzuwohnen, ständig für sie zu lügen und verschleiern zu müssen, dass sie vollkommen betrunken eingeschlafen war, statt sich mit meinen Lehrern zu treffen oder mich zu einer außerschulischen Veranstaltung zu fahren. Seit ich denken konnte, hatte ich in Todesangst gelebt, dass meine Schulfreunde – die paar, die ich trotz all unserer Umzüge hatte kennenlernen können – herausfinden könnten, was meine Mutter war, und mich im selben Atemzug auch für einen Freak halten könnten. Eine Angst, die, wie ich leider auf die harte Tour herausgefunden hatte, nicht unbegründet war.
In dieser Familie war ich, seit ich fünf war, die Erwachsene. Und allmählich war es an der Zeit, mich um mein eigenes Leben zu kümmern. Ich würde Kontakt zu meinem Vater aufnehmen, und solange ich nicht das Gefühl hatte, dass er tatsächlich ein widerlicher Perverser war, würde ich bei ihm wohnen. In Avalon. In der Wilden Stadt, die der Übergang zwischen unserer Welt und Faerie, der Welt der Feen, ist. In der Stadt, in der Magie und Technologie in so etwas wie Eintracht nebeneinander existieren. Sogar in Avalon, dachte ich, werde ich ein besseres, normaleres Leben führen als jetzt mit meiner Mom.
Noch nie hatte ich mich so sehr geirrt.