2. Kapitel

Todsicher sah ich wie ein Idiot aus, als ich mit offenem Mund vor dem Schreibtisch saß. Grace lachte über meine Miene, während ich versuchte, mich zu sammeln und nachzudenken.

Zum ersten Mal, seit ich sie getroffen hatte, blickte ich über die Uniform und ihre achtunggebietende Art hinaus, um sie tatsächlich richtig zu sehen. Sie war groß und dünn wie ein Model, ihr schmaler Körper wirkte ohne die weiblichen Kurven jungenhaft. Fast wie meiner. Meine Hoffnung, dass sich das eines Tages noch ändern könnte, schwand dahin. Ihr hellblondes Haar war dick und glänzend. Sie hatte es aus ihrem kantigen Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem Zopf gebunden, der ihr lang den Rücken hinunterhing. Wie ich hatte sie blaue Augen, allerdings waren ihre außen leicht nach oben geschwungen. Die Schrägstellung, die für Feen so typisch war.

»Du bist die Schwester meines Vaters«, sagte ich, und es klang wie eine Mischung aus einer Frage und einer Feststellung.

Grace klatschte in die Hände, als hätte ich gerade einen Rückwärtssalto gemacht. Ich spürte, wie mein Gesicht immer heißer wurde.

»Sehr gut, meine Liebe«, entgegnete sie in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie mich für etwas beschränkt hielt. »Seamus ist zurzeit, sagen wir mal, indisponiert. Aber er hat mich damit beauftragt, mich um dich zu kümmern, bis er es wieder selbst tun kann.«

Mit leicht zusammengekniffenen Augen blickte ich sie an. »Wenn das hier deine Vorstellung davon ist, dich um mich zu kümmern, sollte ich das vermutlich besser selbst übernehmen.« Normalerweise bin ich nicht so frech – und ganz bestimmt nicht gegenüber Autoritätspersonen –, doch der Jetlag, der Stress und die Verwirrung zusammen sorgten dafür, dass man meine Laune bestenfalls als »reizbar« beschreiben konnte. »Du hättest dich ruhig von Anfang an vorstellen können, statt mich mit deinem Gestapo-Gehabe zu Tode zu erschrecken.«

Grace blinzelte ein paarmal. Ich bezweifelte, dass sie es gewohnt war, von irgendjemandem Widerworte zu bekommen – vor allen Dingen nicht von menschlichen Mädchen im Teenageralter. Das Lächeln wich aus ihrem Gesicht, und eine arktische Kälte schlich sich in ihre Augen.

»Ein Mädchen, von dem noch nie jemand etwas gehört hat, kommt nach Avalon und behauptet, die Halbblut-Tochter eines der großen Lords der Lichtfeen zu sein, und wir sollen dich akzeptieren, ohne Fragen zu stellen?«, entgegnete sie. Ihre Stimme war so frostig wie ihr Blick. »Seamus hatte keine Ahnung, dass er deine Mutter geschwängert hat. Und während er dich als sein eigen Fleisch und Blut sicher schnell in sein Herz geschlossen hat, hättest du doch durchaus eine Hochstaplerin sein können.«

Einer der Lords der Lichtfeen? Meine Mom hatte ja erzählt, dass Dad ein hohes Tier unter den Feen wäre, aber das klang noch bedeutender, als ich gedacht hätte.

»Während wir beide uns unterhalten haben, haben meine Leute in deiner Tasche nach deiner Haarbürste gesucht. So waren sie in der Lage festzustellen, ob du wirklich diejenige bist, die zu sein du behauptet hast.«

Die Missachtung meiner Privatsphäre fand ich zum Kotzen, doch ich war zugleich auch überrascht. »Ihr habt innerhalb von fünfzehn Minuten einen DNA-Test gemacht?«, fragte ich ungläubig.

Grace warf mir wieder einen dieser Blicke zu, die mir sagten, dass sie mich für ein bisschen schwachsinnig hielt. »Keinen DNA-Test, meine Liebe.«

Oh. Klar. Magie. Das hätte ich beinahe vergessen. Wieder spürte ich die Hitze in meinen Wangen. Grace hatte es echt drauf, mich wie eine Idiotin dastehen zu lassen, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie das mit voller Absicht machte. Ich wusste zwar nicht, was sie gegen mich hatte, aber es bestand kein Zweifel, dass sie etwas gegen mich hatte. Mein Gehirn fühlte sich etwas umnebelt an, und wieder einmal sehnte ich mich nach einem gemütlichen Bett, in das ich mich verkriechen konnte. Trotz des Stresses – und der Verärgerung – konnte ich ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.

Graces Miene wirkte beinahe besorgt und sah fast schon süß aus. Dennoch nahm ich ihr das nicht ab.

»Du armes kleines Ding«, sagte sie. »Nach der langen Reise musst du doch vollkommen erschöpft sein.« Sie erhob sich, und diese Bewegung war unerklärlich anmutig. »Komm mit.« Ich fragte mich, ob ihr aufgefallen war, dass sie sich anhörte, als würde sie mit ihrem Schoßhündchen sprechen. »Wir müssen dich irgendwo unterbringen, damit du dich etwas ausruhen kannst.«

Ich blieb sitzen, nicht sicher, was sie damit meinte. »Dann kann ich jetzt also gehen, wohin ich will?«

»Ich werde mich nach einer Vertretung umsehen, die mich ein paar Stunden ablöst«, entgegnete sie wieder ausweichend. »Anschließend werde ich dich nach Hause bringen. Wenn du zuerst irgendwo anhalten und etwas zu essen holen willst, sag es einfach. In der Nähe meines Hauses gibt es einige reizende Cafés.«

Mein Magen knurrte, doch ich war mir nicht sicher, ob es nur der Hunger war. Eines wusste ich allerdings: Ich wollte nicht mit zu Grace nach Hause.

»Kannst du mich nicht einfach bei Dad daheim absetzen?«, fragte ich und ahnte schon, dass die Antwort nein lauten würde.

Grace blickte mich traurig an. »Ich fürchte nicht, meine Liebe. Er ist im Moment nicht zu Hause, und ich habe keinen Schlüssel. Aber keine Angst – du musst nur einen oder zwei Tage bei mir bleiben. Dann ist dein Vater sicher bereit, dich bei sich aufzunehmen.«

Es klang, als hätte ich in der Angelegenheit gar keine andere Wahl, also versuchte ich, mich mit der Vorstellung abzufinden. »Okay«, sagte ich, stand auf und hoffte, dass ich nicht zu bockig klang.

»Prächtig!«, erwiderte sie mit gespielter Freude.

Prächtig? Wer sagte das denn heutzutage noch? Da Tante Grace allerdings eine Fee war, könnte sie auch schon zigtausend Jahre alt sein, auch wenn sie nicht älter als Mitte zwanzig aussah.

Ich folgte Grace durch eine verwirrende Anzahl von labyrinthartigen Korridoren. Selbstverständlich entgingen mir nicht die Sicherheitskameras, die jeden unserer Schritte verfolgten.

Sie hielt bei einem Raum an, der offensichtlich als Pausenraum genutzt wurde, wenn man die Mikrowelle und die Münzautomaten so betrachtete. Eine kleine Gruppe uniformierter Beamter saß um den Tisch herum. Grace blaffte einige Befehle – jemand sollte während ihrer Abwesenheit für sie einspringen –, und danach setzten wir unseren Weg durch die verschlungenen Korridore fort.

Schließlich kamen wir wieder zu einer Tür, für die eine Keycard nötig war. Nachdem Tante Grace ihre Karte durch den Schlitz gezogen hatte, öffnete sich die Tür auf den Parkplatz, den ich beim Warten in der Schlange gesehen hatte. Sie führte mich zu einem eleganten schwarzen Mercedes. Der Wagen war so makellos, als hätte sie ihn vor fünf Minuten erst vom Hof des Autohändlers gefahren. Er hatte diesen super Geruch nach neuem Auto, der nur von dem geschmacklosen Duftanhänger in Form einer Rose gestört wurde, der am Rückspiegel baumelte. Wenigstens war es keines dieser Kiefernduftbäumchen, die immer in Taxis hingen.

»Dein Gepäck ist im Kofferraum«, sagte Tante Grace, noch bevor ich sie danach fragen konnte. Dann ließ sie den Motor an, und wir fuhren los.

Die Brücke über den Graben war zwar zweispurig, jedoch sehr schmal, und die Geländer an den Seiten wirkten auf mich nicht besonders solide. Vielleicht kam das aber auch nur daher, dass mir das trübe, eklige Wasser in dem Graben echt Angst machte.

Ich bemühte mich, gar nicht auf das Wasser zu achten, und warf einen – etwas sehnsüchtigen – Blick über meine Schulter auf das Pförtnerhaus, das die Grenze zwischen Avalon und der Welt der Sterblichen markierte. Ein Teil von mir wünschte sich bereits, ich hätte das Haus meiner Mom niemals verlassen. Ja, es war größtenteils echt ätzend, mit ihr zusammenzuleben, mich um sie zu kümmern, ihretwegen meine Freunde zu belügen. Doch immerhin wusste ich bei ihr, was mich erwartete.

Eine Welle der Übelkeit überrollte mich, und mir verschwamm für einen Moment der Blick. Ich drehte mich um, um wieder nach vorn zu sehen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Grace.

Ich schüttelte den Kopf und schluckte die Übelkeit hinunter. »Ich habe Jetlag, bin genervt, und mir ist schlecht von dem Geschaukel.« Ich fragte mich, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn ich in ihren neuen Wagen kotzte. Vermutlich ja.

»Was hast du damit gemeint, als du sagtest, mein Vater sei ›indisponiert‹?«, fragte ich, als mein Magen sich – zum Glück – wieder etwas beruhigt hatte.

»Er hat ein bisschen … juristischen Ärger. So kann man es, glaube ich, umschreiben.« Der Mercedes begann, ruhig und mühelos die steile zweispurige Straße entlangzufahren, die sich den Berg hinaufwand. »Aber keine Sorge. In einem oder zwei Tagen sollte sich alles aufgeklärt haben. Und ich werde mich gut um dich kümmern, bis er wieder zu Hause ist.«

»Wo ist er denn?«

Ein angespannter Zug erschien um ihren Mund, und sie zögerte, ehe sie antwortete. »Also gut, wenn du es unbedingt wissen musst«, sagte sie und klang, als hätte ich sie stundenlang gelöchert. »Er ist im Gefängnis.«

Ich schnappte nach Luft. Während sie achtlos mit nur einer Hand lenkte, tätschelte sie mir mit der anderen das Knie. Ich musste dem Drang widerstehen zurückzuzucken.

»Es ist nur ein Missverständnis«, erklärte sie in einem Tonfall, der vermutlich beruhigend klingen sollte. »Morgen oder spätestens übermorgen darf er vor der Ratsversammlung sprechen, und dann wird er auch sofort entlassen.«

Mein Vater war im Knast. Alle möglichen Probleme und Hindernisse, die mich eventuell in Avalon hätten erwarten können, waren mir in den Sinn gekommen – doch das gehörte ganz sicher nicht dazu. Meine Hand bewegte sich wie von selbst wieder zu der Kamee an meinem Hals. Nervös strich ich mit den Fingerspitzen über die Oberfläche. Graces Blick folgte meiner Bewegung. Sie presste die Lippen aufeinander, als sie den Anhänger an der Kette erblickte, sagte jedoch nichts dazu. Ich ließ meine Hand sinken.

Mir brannten unzählige Fragen unter den Nägeln, aber in dem Moment bog Grace auf einen winzigen Parkplatz, der gerade groß genug für höchstens sechs Wagen war. Sie war schon ausgestiegen und hatte den Kofferraum geöffnet, bevor ich ihr auch nur eine meiner Fragen stellen konnte. Das war sicher kein Zufall, doch im Moment war ich zu müde, um mir Gedanken darüber zu machen. Nach einem Nickerchen würde ich mich bestimmt nicht länger wie ein überfahrenes Tier fühlen und mich mit der guten alten Tante Grace zu einem vertraulichen Gespräch zusammensetzen, in dem sie mir erklären würde, was mit meinem Dad los war. Zum Beispiel, warum er im Gefängnis saß. Und was das für eine Ratsversammlung war, vor der er sprechen musste. Ich wünschte mir, ich hätte mich besser über das Regierungssystem von Avalon informiert. Zu spät. Aus dem Gemeinschaftskundeunterricht war mir nur noch im Gedächtnis geblieben, dass es völlig anders als jedes andere Regierungssystem auf der Welt war und dass Rechte und Pflichten zu gleichen Teilen zwischen den Menschen und den Feen aufgeteilt waren.

Grace öffnete zwar den Kofferraum für mich, doch das Tragen überließ sie mir. Zum Glück hatte mein Koffer Rollen. Schweigend führte sie mich eine Seitenstraße mit Kopfsteinpflaster entlang. Es war nicht gerade einfach, den Koffer über das holprige Pflaster zu ziehen, und ich musste höllisch aufpassen, dass der Koffer nicht umkippte. Und dass er nicht in die Pfützen in den Kuhlen rollte oder in die Pferdeäpfel, die der gesamten Straße diesen unverwechselbaren Geruch nach Scheune verliehen.

Man sah mir mein Befremden offensichtlich an, denn zum ersten Mal, seit wir uns begegnet waren, gab Grace mir tatsächlich freiwillig Auskunft.

»Der Verbrennungsmotor funktioniert in Faerie nicht«, erklärte sie. »Diejenigen, die einen Grund haben, notgedrungen zwischen Avalon und Faerie zu pendeln, tun das auf dem Rücken eines Pferdes. Deshalb siehst du hier viel mehr Pferde als in den meisten anderen Städten.«

Das war wahrscheinlich eine faszinierende Information, und zweifellos hätte ich mich staunend in dieser fremdartigen Umgebung umsehen sollen. Aber der Jetlag war zu überwältigend, und ich hatte einfach zu viel mit meinem blöden Koffer zu tun.

Ich war unsagbar erleichtert, als wir endlich vor einem hübschen gemauerten Reihenhaus anhielten. Es hatte drei Etagen und war ziemlich schmal, doch die altmodischen Bleiglasfenster und die Blumenkästen, in denen üppige weiße Rosen blühten, verliehen ihm ein freundliches, anheimelndes Aussehen.

Tante Grace murmelte leise etwas, und die Türschlösser klickten ein paarmal, ehe die Tür aufschwang. Niemand hatte sie berührt.

Magie, flüsterte mein Verstand mir zu. Aber ich war zu müde und schlecht gelaunt, um angemessen beeindruckt zu sein.

Ich konnte mir die Inneneinrichtung nicht genau ansehen, da Grace mich umgehend die Treppe in den dritten Stock hinaufführte. Und nein, sie bot mir nicht an, mir zu helfen, meinen Koffer die schmalen Holztreppen hinaufzuschleppen.

»Da wären wir«, verkündete sie und öffnete die erste Tür am Ende der Treppe.

Ich zerrte mein Gepäck über die Schwelle und ließ es dann heilfroh fallen. Das Zimmer sah wirklich nett aus, doch ich hatte nur Augen für das riesige Bett, das so herrlich weich wirkte. Noch nie hatte ein Bett einladender ausgesehen.

Grace schmunzelte angesichts meines offensichtlichen Verlangens. »Ich lass dich dann mal allein, damit du dich ausruhen kannst«, sagte sie. »Es gibt ein eigenes Bad zu diesem Zimmer. Gleich da hinten entlang.« Sie wies auf eine geschlossene Tür am anderen Ende des Raumes.

»Danke«, entgegnete ich höflich. Ich machte ein paar Schritte auf das Bett zu. Wahrscheinlich hätte ich erst meinen Kulturbeutel aus meinem Gepäck holen und mir wenigstens die Zähne putzen sollen, aber die Verlockung, endlich schlafen zu können, war zu groß.

»Schlaf gut, meine Liebe«, sagte Grace. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, und weg war sie.

Ich hatte gerade meine Hand auf die flauschige Bettdecke gelegt, um sie zurückzuschlagen, als ein unverkennbares Klicken ertönte.

Ich blinzelte. Nein, ganz bestimmt hatte ich nicht das gehört, was ich glaubte, gehört zu haben.

Einen Moment lang verdrängte meine Angst meine Müdigkeit, und ich ging zur Tür. Ich konnte Graces sich entfernende Schritte auf der Holztreppe hören. Vorsichtig packte ich den Türknauf und hoffte wider besseres Wissen, dass ich mich irrte, als ich ihn zu drehen versuchte. Doch er rührte sich keinen Millimeter.

Meine liebe Tante Grace hatte mich soeben eingesperrt.