5. Kapitel

Vielleicht war ich einfach nur bockig, aber gerade weil Lachlan vorgeschlagen hatte, ich solle ein bisschen schlafen, wollte ich unbedingt wach bleiben. Nicht gerade leicht, wenn man gegen den Jetlag, einen vollen Bauch und ein behagliches Feuer ankämpfte. Wenn ich mich nicht beschäftigte, würde ich gegen den Schlaf mit Sicherheit schon bald den Kürzeren ziehen, also holte ich meinen Laptop aus dem Rucksack. Ich dachte, ich könnte vielleicht eine kurze E-Mail an Mom schicken und ihr mitteilen, in was für einem Schlamassel ich steckte. Vielleicht war sie nüchtern genug, um mich zu retten. Doch – Überraschung, Überraschung – meine Gefängniszelle verfügte über keine kabellose Netzwerkverbindung. Ich hatte ein paar unanständige Bücher, die ich aus dem Internet heruntergeladen hatte – da ich in der Familie diejenige bin, die die Rechnungen bezahlt, merkt meine Mom das gar nicht. Aber anstößige Bücher zu lesen, während ich in einer Zelle eingesperrt war, kam mir irgendwie … falsch vor.

Zum ersten Mal, seit ich abgehauen war, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Konnte Mom sich genug zusammenreißen, um ohne mich die fälligen Rechnungen zu bezahlen? Ich stellte mir vor, wie sie allein und besoffen in unserem Haus hockte, ohne Wasser, ohne Strom. Dann musste ich den Kopf über mich selbst schütteln. Zwar hatte sie sich im Laufe der Jahre mehr und mehr auf mich verlassen, doch ob sie sich nun so verhielt oder nicht: Sie war eine Erwachsene, und sie konnte sich verdammt noch mal selbst um sich kümmern!

Gegen sieben kam Lachlan wieder mit einem Tablett in meine Zelle. Das Sättigungsgefühl durch die Scones hatte vor mindestens einer Stunde nachgelassen. Dieses Mal brachte er mir ein riesiges Panino-Sandwich, aus dem geschmolzener Käse und Mayonnaise quollen, und einen kleinen Gartensalat. Ich nahm an, dass dieses Essen ebenfalls aus seiner Bäckerei stammte.

Als er das Tablett wieder mitnahm, schlug er noch einmal vor, dass ich mich hinlegen solle. Ich schlief fast im Stehen ein, war allerdings noch immer zu stur, um zu tun, was er sagte. Um zu beweisen, dass ich seinen Ratschlag nicht befolgen wollte, begann ich, meine Stimme mit einigen Vokalisen aufzuwärmen. Dann übte ich die Lieder, an denen ich mit meiner Gesangslehrerin gearbeitet hatte, ehe ich mit der Absicht, die sprichwörtlichen Kirschen in Nachbars Garten zu finden, von zu Hause weggerannt war. Ich nahm an, dass Lachlan durch die dicke Tür hindurch zuhörte, also stellte ich mich mental darauf ein, nur für ihn zu singen. Vielleicht würde sein Herz angesichts der Schönheit meiner Stimme dahinschmelzen, und er würde mich freilassen.

Ja, genau. Wer’s glaubt, wird selig.

Eine Zeitlang gab ich mich einfach der Musik hin und verlor mich darin. Die Lieder strömten durch meinen Körper. Während ich sang, vergaß ich beinahe, dass mein Vater im Gefängnis war und meine Tante Grace mich »zu meinem eigenen Besten« eingesperrt hatte. Ich schloss die Augen und ließ mich von der Musik in eine andere Welt entführen.

Irgendwann spürte ich ein seltsames Brennen auf meiner Brust. Unerklärlicherweise war der Anhänger an meiner Kette sehr warm geworden. Es fühlte sich fast an, als hätte ich ihn eine Weile ins Feuer gehalten. Ich nahm die Kette ab und untersuchte die Kamee. Irgendwie musste ich doch herausfinden, warum sie heiß geworden war. Aber sobald ich sie abgenommen hatte, kühlte sie so schnell ab, dass ich mich fragte, ob ich mir das alles vielleicht nur eingebildet hatte.

Als ich aufgehört hatte zu singen, merkte ich wieder die bleierne Müdigkeit. Meine Augenlider fühlten sich tonnenschwer an. Da ich Lachlan meinen Standpunkt bestimmt unmissverständlich klargemacht hatte, beschloss ich, dass es jetzt an der Zeit war, mich geschlagen zu geben.

Ich konnte mir nicht vorstellen, unter diesen Umständen meinen Schlafanzug anzuziehen, also zog ich einfach nur meine Schuhe und Socken aus und tauschte meine Jeans gegen eine lässige, ausgeleierte Trainingshose. Dann kletterte ich in das schmale, aber ziemlich gemütliche Bett. Es war bereits dunkel, und ich schaltete die Deckenleuchte aus, doch es war zu kalt, um auch den Ofen auszumachen. Während ich in die stummen, flackernden Flammen starrte, schlief ich ein.

 

Es war noch immer dunkel, als ich vollkommen verwirrt aufwachte. Zuerst wusste ich überhaupt nicht, wo ich war, aber die Erinnerung kehrte bald zurück. Mein Kopf fühlte sich dumpf und schwer an, und alles um mich herum kam mir unwirklich vor. Ich warf einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass es zwei Uhr morgens war. Ich drehte mich auf die andere Seite, sicher, dass ich gleich wieder einschlafen würde, doch da hörte ich Schritte vor meiner Tür.

Erst jetzt wurde mir klar, dass ich von einem dumpfen Geräusch geweckt worden war. Im ersten Moment hatte ich geglaubt zu träumen, aber als ich das Knirschen des Holzbalkens wahrnahm, der weggeschoben wurde, war ich mir sicher, dass es kein Traum gewesen war.

Schnell setzte ich mich auf und versuchte, mich aus der verhedderten Decke zu befreien. Möglicherweise hatte ich unbewusst noch mehr gehört, oder es war einfach eine Vorahnung, doch irgendwie wusste ich, dass es nicht Lachlan war, der da gerade die Tür öffnete. Sekunden später bestätigte sich meine Befürchtung, als ein Mann die Tür aufzog und in meine Zelle kam.

Ich gab meinen Kampf mit der störrischen Bettdecke auf und starrte den Besucher mit offenem Mund an. In der Tür stand der tollste Typ, den ich je gesehen hatte. Er war groß – obwohl er neben Lachlan vermutlich wie ein Zwerg wirkte – und schlank. Sein langes blondes Haar hing ihm wie ein Umhang über die Schultern. Im flackernden Feuerschein des Ofens war es zu dunkel, um seine Augenfarbe zu erkennen. Ich konnte nur sehen, dass seine Augen hell waren und diese für Feen so typische Schrägstellung hatten. Wahrscheinlich wäre er zu perfekt gewesen, um echt toll zu sein, wenn da nicht seine leicht unebene Nase gewesen wäre, die so aussah, als wäre sie schon mindestens einmal gebrochen gewesen.

Er schien jünger zu sein als die meisten Feen, die ich bisher gesehen hatte, obwohl er sicher älter war als ich. Ich fragte mich, ob er nur so jung aussah oder ob er tatsächlich eine jugendliche Fee war. Ich ging davon aus, dass es so etwas gab, auch wenn die erwachsenen Feen im Grunde ewig jung blieben.

Er lächelte schief, und mir wurde bewusst, dass ich ihn anglotzte, als wäre ich eine Zwölfjährige, die Justin Bieber traf. Innerlich packte ich mich selbst am Kragen und schüttelte mich kräftig, während es mir endlich gelang, mich von der Decke zu befreien. Meinen bloßen Füßen gefiel der kalte Steinboden nicht, doch ich hatte nicht vor, meinen Blick von der Fee zu wenden, um meine Socken und Schuhe anzuziehen.

»Wer bist du?«, fragte ich, als er lächelnd, aber stumm vor mir stand.

»Mein Name ist Ethan, und ich bin gekommen, um dich zu retten.«

Okay. Vielleicht träumte ich ja doch. Der Nebel in meinem Kopf wurde dichter, als ich mir überlegte, welche meiner zahllosen Fragen ich zuerst stellen sollte.

Ethan grinste noch immer. Ich schätze, er genoss die geistreiche Unterhaltung mit mir. »Es sei denn, du findest deine aktuelle Unterkunft schön und möchtest bleiben.«

»Schnappen wir sie einfach und verschwinden dann«, erklang die schroffe Stimme eines Mädchens aus dem Nebenraum. Ich konnte sie nicht sehen, weil Ethan die Tür blockierte. Wo steckte eigentlich Lachlan?

Ethan warf einen verärgerten Blick über seine Schulter. »Ich versuche, höflich zu sein«, entgegnete er. »Du hast doch schon mal was von Höflichkeit gehört, oder?«

Das Mädchen knurrte ein paar Schimpfwörter, die ich hier nicht wiederholen möchte, und ich war plötzlich enttäuscht. Trotz der nicht gerade freundlichen Worte bemerkte ich die Vertrautheit in dem Austausch. Es bestand kein Zweifel daran, dass die beiden sich ziemlich nahestanden. Ich verdrehte die Augen. Warum zum Teufel sollte mich das kümmern?

Ethan wandte mir seine Aufmerksamkeit wieder zu. »Wir sollten jetzt wirklich los. Wir haben nicht viel Zeit.«

Ich schaffte es, meinen Blick lange genug von ihm zu wenden, um mir die Socken anzuziehen. Hektisch dachte ich nach. Gab es einen Grund, warum ich mit diesem Kerl gehen sollte? (Außer natürlich, dass er ein echt heißer Typ war.) Ich hatte keinen Schimmer, wer er war oder warum er mich retten wollte – falls er das tatsächlich wollte –, und Tante Grace hatte mich gewarnt, dass ich in großer Gefahr schwebte. Sicher, ich traute Tante Grace keinen Millimeter über den Weg. Aber trotzdem …

Ich biss mir auf die Unterlippe und versuchte, Zeit zu schinden, indem ich meinen Schnürsenkel noch einmal neu band. Ich hatte mir kurz vorher schon überlegt, dass ich Hilfe benötigen würde, wenn ich fliehen wollte. Hatte das Schicksal endlich Mitleid mit mir und schickte mir jetzt genau das, was ich brauchte? Oder waren Ethan und seine Freundin die echten Bösen? Dass er heiß war, bedeutete noch lange nicht, dass er nicht durch und durch verdorben sein konnte. Andererseits hatte ich wohl kaum eine Wahl, falls sie die Bösen waren. Sie waren zu zweit, und ich war allein. Vielleicht sollte ich versuchen zu schreien?

Ethan kam einen Schritt näher. »Du wirst ohne einen Mucks mit uns mitkommen wollen«, sagte er, und in seinen Worten schwang der Hauch einer Warnung mit. »Wenn wir mehr Zeit hätten, könnte ich dich freundlich davon überzeugen, dass du uns vertrauen kannst, doch das muss warten, bis wir dich hier weggeschafft haben.«

Ich funkelte ihn an. Irgendwie kam er mir mit einem Mal gar nicht mehr so toll vor. Ich zuckte zusammen, als plötzlich das Mädchen ins Zimmer kam und Ethan zur Seite schob. Sie war ebenfalls eine Fee, und sie sah noch jünger aus als Ethan und war möglicherweise in meinem Alter. Wenn sie auch diesen unverwechselbaren Höcker auf der Nase gehabt hätte, wäre sie die weibliche Version von Ethan gewesen – dasselbe lange blonde Haar, genauso schlank und die gleichen hellen Augen.

»Hey!«, protestierte Ethan, als er stolperte, aber das Mädchen beachtete ihn gar nicht. Sie murmelte leise vor sich hin, während sie auf mich zukam.

Ich beschloss, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um laut zu schreien, doch als ich den Mund aufmachte, kam kein Ton heraus. Entweder litt ich vollkommen überraschend an der schlagartigsten Kehlkopfentzündung der Welt, oder das Mädchen hatte mich gerade mit einem Zauber belegt. Für mich war das ein eindeutiger Beweis, dass Ethan und das Mädchen zu den Bösen gehörten. Ich wollte mich ducken und an ihr vorbeirennen, aber sie packte mich am Arm. Zwar war sie gertenschlank wie ein Model, doch sie war ganz sicher nicht schwach. Durch meinen Kampf geriet die Kamee an meiner Kette unter den Kragen meines Shirts. Wieder war der Anhänger heiß, und ich hätte versucht, ihn von meiner Haut zu nehmen, wenn ich nicht gerade Wichtigeres zu tun gehabt hätte – wie mich zum Beispiel aus dem Griff einer Fee zu befreien. Sie vergrub ihre Finger schmerzhaft tief in meinen Arm und zerrte mich hinter sich her zur Tür.

Ethan ging ihr aus dem Weg, aber er hatte immer noch dieses schiefe Grinsen auf den Lippen, als würde er das alles total lustig finden. Er machte einen übertriebenen Diener.

»Dana Stuart«, sagte er formell, »ich würde dir gern meine Schwester Kimber vorstellen. Auch bekannt als die Zicke aus der Hölle.« Er lachte dabei, so dass es einigermaßen liebevoll klang, doch Kimber zeigte ihm mit der freien Hand den Mittelfinger.

Diese Geste passte irgendwie nicht. Ganz untypisch für eine Fee. Wo war die kühle Zurückhaltung, die mangelnde Emotionalität, von denen meine Mutter mir erzählt hatte?

Ich wollte mich stur gegen sie stemmen, aber Kimber war stärker, als sie aussah, und ich hatte gegen sie genauso wenig Chancen wie gegen Lachlan. Ich konnte nur versuchen, auf den Beinen zu bleiben, während sie mich über die Schwelle in die Wachstube zog. Ethan folgte uns.

Ich hatte noch immer keine Stimme, doch trotzdem keuchte ich stumm auf, als ich Lachlan erblickte, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Ein Spritzer frischen Blutes war auf den Steinen neben seinem Kopf zu erkennen. Kimber ignorierte mein Entsetzen und zerrte mich Richtung Ausgang.

»Es geht ihm bald wieder gut«, versicherte Ethan. »Man würde eine Armee brauchen, um ihm ernsthaft weh zu tun.«

Als wollte er Ethans Worte bestätigen, stöhnte Lachlan leise. Ethans Augen weiteten sich, und er schob mich vorwärts, während Kimber noch immer an meinem Arm zog.

»Wir sollten uns besser beeilen«, sagte er. »Ich bezweifle, dass Lachlan begeistert sein wird, wenn er aufwacht.«

Halb schoben, halb zogen sie mich die Treppe hinauf, und kurz darauf fanden wir uns auf der Straße wieder. Meine Stimme funktionierte noch immer nicht, und obwohl ich mich so gut wie möglich wehrte, gab es keine Aussicht auf Entkommen, und die Straße war vollkommen verlassen. Ein Planwagen, der von einem Pferd gezogen wurde, stand an der Bordsteinkante. Kimber schob die Plane des Wagens mit einer Hand zur Seite, und die mit Stroh ausgelegte Ladefläche des Wagens wurde sichtbar. Dann packte sie mich an der Taille, hob mich an, meine verzweifelte Gegenwehr ignorierend, und warf mich ins Stroh.

Sie wollte hinter mir auf den Wagen klettern, aber Ethan legte ihr die Hand auf den Arm und hielt sie zurück.

»Du fährst«, sagte er. »Ich werde unserem Gast Gesellschaft leisten.« Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, und Kimber verdrehte die Augen, widersprach jedoch nicht.

Mein Herz hämmerte wie wahnsinnig, und ich zitterte vor Angst. Ich wollte nicht allein und hilflos mit einem Mann, der stark genug war, um Lachlan auszuschalten, auf der Ladefläche dieses Planwagens sein. Vor allem nicht, nachdem er so bedeutungsvoll mit den Brauen gewackelt hatte. Ich fürchtete, dass ich genau wusste, was er vorhatte, während seine Schwester den Wagen lenkte.

Ethan kletterte auf die Ladefläche und zog die Plane wieder vor den Einstieg. Es war stockdunkel. O Gott, jetzt war ich im Dunkeln mit ihm allein. Ich krabbelte in die hinterste Ecke – so weit weg von ihm wie möglich –, bis mein Rücken gegen etwas Hartes stieß. Dann wühlte ich mit beiden Händen im Stroh herum und hoffte, etwas zu finden, das ich als Waffe benutzen konnte.

»Du musst keine Angst haben«, sagte Ethan, und zu meiner grenzenlosen Erleichterung kam seine Stimme vom Einstieg am anderen Ende des Wagens. »Kimber und ich sind relativ harmlos.«

»Erzähl das mal Lachlan«, hörte ich mich sagen und war überrascht, wie ruhig ich klang. In dem Moment wurde mir klar, dass meine Stimme wieder da war. Und bevor Ethan mich wieder stumm zaubern konnte, schrie ich so laut und lange wie nur irgendwie möglich.

Irgendwann musste ich aufhören, sonst wäre ich ohnmächtig geworden.

»Was für ein beeindruckendes Organ«, sagte Ethan und schien sich über meinen Versuch, Hilfe zu holen, kein bisschen zu ärgern. »Meine Ohren werden sich davon wohl nie erholen.« Ich konnte das Lachen in seiner Stimme hören, und meine Angst nahm etwas ab. Das klang eher nach spielerischem Aufziehen als nach den bedrohlichen Worten eines Kidnappers. Zwar war ich noch immer nicht überzeugt davon, dass er tatsächlich »harmlos« war, und mir war auch nicht nach Spielen zumute, aber er schien mich nicht gleich angreifen und überwältigen zu wollen.

»Der Wagen ist mit einem Zauber belegt, der ihn schalldicht macht«, fuhr Ethan fort. »Ich habe ihn von einem Freund ausgeliehen, der behauptet, es wäre hier viel gemütlicher als auf dem Rücksitz eines Autos … wenn du verstehst, was ich meine.«

Igitt. Ja, ich wusste, was er meinte. Und ich hoffte, dass das Stroh gewechselt worden war, seit Ethans Freund hier zum letzten Mal jemanden flachgelegt hatte.

Resigniert ließ ich die Schultern sinken und fühlte mich mit einem Mal wieder todmüde. Tränen standen mir in den Augen. Ich hatte Grace nicht vertraut, doch ich hatte zumindest gehofft, dass sie mir die Wahrheit sagte und meinen Vater zu mir bringen würde, sobald er aus dem Gefängnis kam. Ich hatte keinen Schimmer, was Ethan und Kimber von mir wollten. Ich bemühte mich, ruhig und tief durchzuatmen, um mich zu entspannen.

»Wie ich schon sagte, du musst keine Angst haben«, fügte Ethan hinzu, als wäre mein kleiner Schreikrampf nie passiert. »In einem fairen Kampf hätte ich gegen Lachlan keine Chance gehabt. Ich habe mich von hinten herangeschlichen und ihn niedergeschlagen, bevor er mich überhaupt bemerkt hat. Dafür wird er sich eines Tages vermutlich großzügig revanchieren.«

»Wer seid ihr, und wo bringt ihr mich hin?«

»Wir bringen dich an einen Ort, an dem du sicher vor Grace Stuart bist.«

Ich schnaubte verächtlich. »Ja, klar. Und sie hat mich eingesperrt, um mich vor den Horden von Feinden zu beschützen, die es auf mein Blut abgesehen haben. Ich habe ihr nicht geglaubt, und ich glaube euch auch nicht.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust, auch wenn Ethan es im Dunkeln nicht sehen konnte. Oder vielleicht konnte er es auch – soweit ich wusste, konnten Feen im Dunkeln sehen.

»Das kann ich dir nicht verdenken. Ich entschuldige mich für unsere Methoden, aber wenn wir uns die Zeit gelassen hätten, um alles zu erklären, wäre Lachlan aufgewacht, lange bevor wir damit fertig gewesen wären.«

Mir fiel auf, dass er die Frage »Wer seid ihr?« überhaupt nicht beachtet hatte. Ich versuchte es anders. »Lass uns mal so tun, als würde ich dir glauben. Warum ›helft‹ ihr mir? Woher wisst ihr, wer ich bin? Woher wusstet ihr, wo ihr mich finden könnt?«

»Eine Frage nach der anderen!«, entgegnete Ethan, und wieder klang es so, als würde er mich aufziehen.

Ich knirschte mit den Zähnen und wünschte mir, es wäre nicht so dunkel, damit ich überprüfen könnte, ob mein wütendes Funkeln irgendeine Wirkung auf ihn hatte. Diese ganze Entführungsgeschichte kam ihm vielleicht wie ein Riesenspaß vor, doch nach allem, was seit meiner Landung passiert war, war mir echt nicht besonders nach Lachen zumute. Ich rieb mir die müden Augen. Ich konnte mich nicht genug auf eine Frage konzentrieren, die ich zuerst stellen wollte. Zum Glück hatte Ethan Mitleid mit mir und wählte selbst eine aus.

»Dein Vater und deine Tante hoffen beide, zum Konsul ernannt zu werden, wenn die Amtszeit des aktuellen Konsuls vorüber ist. Wer auch immer dich in seiner Gewalt hat, hat viel größere Aussichten darauf, berufen zu werden.«

»Was?«, schrie ich. »Warum?«

»Das werde ich dir ein bisschen später auseinandersetzen. Aber ich werde es dir auf jeden Fall erklären, das verspreche ich. Wie dem auch sei, die Antwort auf deine Frage, warum Kimber und ich dir helfen, ist, dass wir es vorziehen würden, Grace Stuart nicht im Amt des Konsuls zu sehen. Sie ist einer der Top-Bewerber, und die Kontrolle über dich zu haben könnte ihren Sieg festigen. Es ist längst an der Zeit, dass Avalon den Schritt ins einundzwanzigste Jahrhundert macht, doch sie ist rückständiger, als erlaubt sein sollte. Dein Vater ist zwar auch nicht gerade fortschrittlich, aber er ist immerhin besser als Grace. Ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat, um zu erklären, warum sie dich einschließt, doch es wäre durchaus möglich gewesen, dass man nie wieder etwas von dir gehört hätte.«

»Willst du damit sagen, dass sie mich umbringen wollte?«, stieß ich hervor, und meine Stimme klang seltsam schrill. Ich hatte Tante Grace vielleicht nicht gemocht oder ihr vertraut, aber dass sie mich umbringen könnte, hätte ich nie gedacht. Es schien so weit hergeholt zu sein, dass es fast schon lächerlich war. Andererseits galt das für die meisten Dinge, die mir bis jetzt in dieser Stadt passiert waren.

»Sie hätte dich wahrscheinlich nicht getötet«, gab er zu. »Außer, es wäre der einzige Weg gewesen, um dich von deinem Vater fernzuhalten.«

Der Planwagen kam zum Stehen, und Ethan nahm das als Entschuldigung, um seine Erklärungen zu unterbrechen. »Ich werde dir so viele Fragen beantworten, wie du willst, sobald wir dich in Sicherheit gebracht haben«, sagte er. »Bis dahin musst du allerdings still sein.« Er murmelte leise etwas vor sich hin.

Und ohne es ausprobiert zu haben, wusste ich, dass meine Stimme wieder mal Pause hatte.