20. Kapitel
Es war ein sehr langer Nachmittag. Nach dem Gespräch mit meinem Vater saß ich länger grübelnd in meinem Zimmer, als ich hier zugeben möchte. Ab und zu hörte ich das Telefon klingeln, und auch wenn ich versucht war zu lauschen, war es wahrscheinlich besser für mich, nichts von alledem zu wissen.
Finn kam um kurz nach sechs aus dem Krankenhaus. Ich verspürte im Augenblick nicht unbedingt den Drang, mehr Zeit mit meinem Vater zu verbringen als unbedingt nötig, aber ich wollte Finn sehen und mich selbst vergewissern, dass es ihm – wie durch ein Wunder – gutging.
Zu sagen, dass es ihm gutging, war zu hoch gegriffen. An der zögerlichen Art, wie er sich bewegte, und an dem angespannten Zug um seinen Mund konnte ich ablesen, dass er noch immer Schmerzen hatte. Sogar Dad fiel es auf, denn er drängte den Ritter, sich hinzusetzen. Dankbar sank Finn aufs Sofa.
»Geht es dir gut genug, um sie zu beschützen?«, erkundigte sich mein Vater. Vermutlich war sein Mitgefühl doch begrenzt.
Finn zuckte steif mit den Schultern. »Nicht, wenn ich sie durch die Stadt begleiten soll. Aber im Haus, mit dem zusätzlichen Schutz durch deine Bannsprüche, sollte es kein Problem sein.«
»Kannst du nicht jemanden bitten, der nicht verletzt ist?«, fragte ich Dad und biss mir auf die Unterlippe, als ich Finn ansah. Mir gefiel die Vorstellung nicht, dass er mich vielleicht würde verteidigen müssen, obwohl er schon verwundet war. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch einen Alptraum wie heute Morgen überstehen könnte.
»Ich schaffe das«, erklärte Finn noch einmal, ehe mein Vater antworten konnte. »Ich würde das nicht sagen, wenn es nicht so wäre.«
Dad nickte zustimmend und wandte sich mir zu. »Sogar mit weniger als einhundert Prozent Einsatzkraft findet man keinen besseren Beschützer als Finn. Im Übrigen treffe ich Alistair und Grace in weniger als einer halben Stunde zum Dinner und zur strategischen Planung. Ich hätte also gar nicht mehr die Zeit, um Ersatz zu finden.«
Ich machte mir nicht die Mühe, mit ihm darüber zu diskutieren. Ich ziehe es vor, meine Energie für Kämpfe zu sparen, die ich auch gewinnen kann.
Zehn Minuten später verschwand Dad, und ich fragte mich, was ich zum Abendessen machen sollte. Ich hatte schon das Mittagessen ausfallen lassen, und obwohl Dad mich zum Tee gerufen hatte, war ich nicht auf sein Angebot eingegangen. Inzwischen hatte ich also einen Bärenhunger.
Mühsam kam Finn vom Sofa hoch, und ich zuckte mitfühlend zusammen.
»Bitte, bleib sitzen!«, sagte ich, obwohl er schon auf die Beine gekommen war. »Brauchst du etwas?« Wieder tauchten vor meinem inneren Auge die Bilder seines geschundenen blutigen Gesichts auf und des Messers, das durch seine Schulter bis in den Boden gerammt worden war. Und so mutig und stark wie er war, hatte er einen Schmerzensschrei doch nicht ganz unterdrücken können, als der Sanitäter die Klinge aus seinem Körper gezogen hatte.
»Ich bin kein Pflegefall«, entgegnete er und ging langsam in Richtung Küche.
Ich war entsetzt, als er begann, Essen aus dem Kühlschrank zu holen, und mir klarwurde, dass er vorhatte zu kochen. Das beantwortete meine Frage nach dem Abendessen.
»Du wirst nicht kochen«, sagte ich in einem Tonfall, den ich auch meiner Mutter gegenüber anschlug, wenn sie zu betrunken war, um in die Nähe einer Herdplatte gelassen zu werden.
Er hob nur eine Augenbraue, während er weiterhin Zutaten zusammensuchte. Offensichtlich plante er, Spaghetti mit Fleischklößchen zuzubereiten.
»Ich koche, seit ich ungefähr sechs Jahre alt bin«, erklärte ich ihm. »Ein paar Spaghetti kriege ich noch hin. Bitte, setz dich.«
Peinlicherweise zitterte meine Stimme ein bisschen. Doch nach allem, was er an diesem Tag für mich durchgemacht hatte, versetzte es mir einen Stich, zusehen zu müssen, wie er auch noch für mich kochte, wenn ich das gut selbst tun konnte. Teilweise war ich nach Avalon gekommen, um jemanden zu finden, der sich um mich kümmerte, und um endlich das Kind zu sein, das ich nie hatte sein können. Komisch, dass ich mir jetzt, da ich die Chance dazu bekam, nichts mehr wünschte, als die Zügel wieder in die eigene Hand zu nehmen.
Finn legte die grüne Paprika ab, die er prüfend betrachtet hatte, und wandte sich mir zu. Mit der Hüfte lehnte er sich an die Anrichte. »Ich koche auch, seit ich sechs bin, und das ist bei mir schon sehr viel länger her als bei dir.«
»Aber …«
»Wenn es dir gelungen wäre zu erreichen, dass ich nach Hause geschickt werde, dann würde ich jetzt in meiner eigenen Küche stehen und mein Abendessen kochen.«
Ich schluckte ein paarmal schwer und hasste es, dass ich über so etwas Albernes wie die Frage, wer denn nun das Abendessen zubereitete, hätte weinen können. Ich hatte den Angriff und die Nachwehen überstanden, ohne in Tränen auszubrechen; ganz sicher würde ich sie jetzt auch zurückdrängen können.
Finn machte ein paar Schritte auf mich zu, und seine Stimme wurde weicher. Eigentlich hatte er eine sehr schöne Stimme – tief und irgendwie sexy –, wenn er sie denn mal benutzte.
»Dana, ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen«, sagte er. »Aber die Wahrheit ist, dass du viel schlimmer verletzt worden bist als ich.«
Das reichte, um bei mir sämtliche Schleusen zu öffnen, und die Tränen rannen, egal, wie sehr ich auch versuchte, sie herunterzuschlucken. Ich schlug beide Hände vors Gesicht und bemühte mich mit aller Macht, die Tränen zurückzuhalten. Finn stupste mich an, und ehe ich wusste, wie mir geschah, fand ich mich im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzend wieder, mit einem echten Leinentaschentuch in der Hand und wie ein Baby heulend.
Finn schwieg, bis der heftigste Gefühlsausbruch vorüber war und das Weinen allmählich abebbte. Ich schniefte und hickste noch immer, als er schließlich das Wort ergriff.
»Ich bin ein Ritter Faeries«, sagte er. »Ich bin Ritter seit meinem achtzehnten Lebensjahr, und das ist … eine Weile her. Man hat mich mit Schwertern durchbohrt, mit Pfeilen und Kugeln beschossen und auf Arten gequält, die ich dir nicht beschreiben werde. Es ist mein Job, und ich habe diese Aufgabe im vollen Bewusstsein um die Gefahren gewählt.«
»Sie hätten dich töten können!«, widersprach ich und versuchte, die letzten Tränen mit dem durchnässten Taschentuch wegzuwischen.
Tatsächlich lächelte Finn. »Das hätten diejenigen, die mich durchbohrt oder angeschossen und mir sonst etwas angetan haben, ebenfalls tun können. Eigentlich hatten die meisten von ihnen sogar ernsthaft vor, mich umzubringen, wohingegen die Ritter von heute Morgen das nicht wollten.« Er wurde wieder ernst. »Nimm dir meinen Schmerz nicht zu sehr zu Herzen. Aber erkenne deinen eigenen Schmerz und lass zu, dass ich mich um dich kümmere und dich beschütze.«
Ich schüttelte den Kopf. »Also gehört Kochen ebenfalls zu deiner Jobbeschreibung?«
»Heute Abend schon. Lass mich das wenigstens tun, um wiedergutzumachen, dass ich als Waffe gegen dich benutzt worden bin. Bitte.«
In den guten alten Zeiten, als ich noch bei meiner Mom gelebt hatte, war ich es gewohnt gewesen, neunzig Prozent unserer Auseinandersetzungen für mich zu entscheiden. Machen wir uns nichts vor: Mein Wille war einfach viel stärker als ihrer. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich in Avalon dagegen noch keinen einzigen Streit gewonnen. Und indem er hervorhob, dass es eine Wiedergutmachung sein sollte, spielte Finn ein unfaires Spiel.
»Gut!«, sagte ich schließlich unwillig.
Doch Finn lächelte, und ich begriff, dass ich das Richtige getan hatte.
Finn war zwar kein Superkoch, aber er war erstaunlich gut. Trotz der besonderen Augen, die den Feen für mich immer einen femininen Touch verliehen, wirkte er so männlich wie jemand, der sich beim Kochen vorwiegend auf Konservendosen und Tiefkühltruhe verließ – dennoch musste ich zugeben, dass er sich in der Küche mindestens genauso zu Hause zu fühlen schien wie ich. Es gefiel mir nicht besonders, mich von ihm bedienen zu lassen, doch ich schluckte jegliche Einwände hinunter.
Er war wieder zu seinem schweigsamen Selbst zurückgekehrt, aber da ich nun wusste, dass er zu so etwas wie einem Gespräch fähig war, und da ich noch immer viele Fragen zu dem Angriff hatte, entschloss ich mich, ihm während des Essens auf den Zahn zu fühlen.
»Kanntest du die beiden Ritter?«, fragte ich ihn.
Absichtlich steckte er ein Fleischklößchen in den Mund, damit er nicht antworten musste, doch ich trommelte nur ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Tisch und wartete darauf, dass er kaute und schluckte. Falls er hoffte, dass ich die Frage wegen seiner Hinhaltetaktik fallen lassen würde, hatte er sich getäuscht.
»Und?«, hakte ich nach.
»Ja.«
»Ja, du kanntest sie?«
Er nickte und schob sich noch einen Bissen in den Mund. Offensichtlich lag ein hartes Stück Arbeit vor mir, wenn ich Informationen von ihm erhalten wollte.
»Und weil du sie kanntest, konntest du der Polizei ihre Identität preisgeben und deshalb hat mich niemand befragt?« Das kam mir immer noch ein bisschen … weit hergeholt vor. Unter keinen Umständen wäre ich um eine Befragung durch die Beamten herumgekommen, wenn das alles in den Vereinigten Staaten passiert wäre.
»Das fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei«, erklärte Finn, als er zu Ende gekaut hatte.
»Was? Wie kann das keine Sache der Polizei sein?« Meine Stimme war lauter geworden, aber ich zwang mich, wieder etwas ruhiger zu sprechen. »Was für ein rückständiger, total verrückter Ort ist das denn hier?«
Seine Mundwinkel zuckten, doch selbst wenn er meinen Ausbruch lustig gefunden hatte, war es nur der Hauch eines Lächelns.
»Es fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei, weil die Ritter aus Faerie kommen. Ich bin mir sicher, dass sie die Grenze bereits wieder passiert hatten, ehe die Beamten überhaupt vor Ort eingetroffen waren.«
»Aber gibt es bei der Polizei nicht auch Feen? Können sie die Ritter nicht nach Faerie verfolgen?«
»Darf die US-Polizei denn Kriminelle in andere Länder verfolgen?« Offenbar kannte er die Antwort, denn er wartete nicht auf eine Erwiderung. »Die Chancen, dass die Regierung Faeries jemanden ausliefert, sind praktisch gleich null. Und deshalb können sie sich einen so dreisten Angriff leisten.«
Mit einem Klirren ließ ich meine Gabel auf den Teller fallen. »Nur, damit ich das richtig verstehe: Jeder aus Faerie kann nach Avalon kommen, jede Straftat begehen, die ihm gerade so in den Sinn kommt, und dann wieder nach Faerie zurückkehren? Und niemand kann irgendetwas dagegen unternehmen?«
»Das ist übertrieben. Nach Avalon zu kommen ist nicht so leicht. Wir schützen die Grenzen gegen die unterschiedlichsten Kreaturen Faeries, die nicht herkommen dürfen. Aber wenn die Person, die einreisen möchte, zu den Sidhe gehört und keine besondere Anordnung erlassen wurde, dass sie nicht kommen darf …« Er zuckte mit den Schulten. »Dein Essen wird kalt.«
Großartig. Jetzt hatte ich zwei Feenväter in Avalon. Allerdings hatte ich noch immer Hunger, also hob ich die Gabel auf und nahm ein paar Bissen, ehe ich wieder auf den Angriff zu sprechen kam.
»Was ist, wenn man Avalon verlassen will?«, fragte ich. »Ich müsste durch die Kontrolle, um auszureisen. Was ist mit den Rittern?«
»Du musst durch die Kontrolle, um nach England einzureisen, und nicht, um aus Avalon auszureisen. In Faerie gibt es keine Einreisekontrolle. Und jetzt lass mich in Ruhe zu Ende essen.«
Er hatte während dieser Mahlzeit vermutlich mehr gesprochen als in der gesamten vergangenen Woche. Ich stellte keine Fragen mehr, doch in meinem Kopf überschlugen sich noch immer die Gedanken. Wenn die Sidhe aus Faerie aus- und wieder einreisen konnten, wie es ihnen gerade gefiel und wann sie wollten, dann war mein Leben von nun an ständig in Gefahr. Zwar hatte ich Finn, der mich beschützen würde, aber der heutige Tag hatte bewiesen, dass ein einzelner Mann – egal, wie stark und magisch talentiert er sein mochte – nicht immer in der Lage sein würde, mich zu schützen. Als der Ritter mich heute gepackt hatte, war ich ungefähr so nützlich gewesen wie die kreischende Hauptdarstellerin in einem Horrorfilm.
»Meinst du, du könntest mir ein paar Grundlagen der Selbstverteidigung beibringen?«, fragte ich Finn, als wir das Essen beendet hatten und den Tisch abräumten.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er mich an. »Keine Selbstverteidigung der Welt hätte dir gegen die Ritter helfen können«, entgegnete er. »Wenn dein Vater auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätte, dass Ritter hinter dir her sein könnten, dann hätte er dir nur mit einem erheblich größeren Gefolge erlaubt, das Haus zu verlassen.«
Das war nicht das, was ich hatte hören wollen. »Ich bitte dich ja nicht darum, aus mir einen Superninja zu machen oder so. Ich will mich nur nicht mehr so vollkommen wehrlos fühlen.«
»Aber gegen Ritter bist du das.«
»Darum geht es doch nicht«, erwiderte ich und fragte mich, ob er absichtlich so begriffsstutzig war. »Wenn ich wenigstens einen Schimmer von Selbstverteidigung hätte, wüsste ich zumindest, wie ich versuchen könnte davonzukommen. Und wenn ich so darüber nachdenke, wie rasend schnell ich mir hier Feinde mache, wäre es übrigens auch leicht denkbar, dass ich von jemand anderem als einem Ritter angegriffen werde.«
Zum ersten Mal sah Finn so aus, als würde er ernsthaft über die Idee nachdenken. Er verschränkte die Arme vor seiner beeindruckend breiten Brust und sah mich abschätzend an.
»Es verstößt gegen unseren Verhaltenskodex, mit jemandem zu trainieren, der selbst kein Ritter ist.« Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Aber«, fuhr er fort, »vorausgesetzt, dein Vater hat nichts dagegen, kann ich jemanden organisieren, der dir die Grundlagen beibringt.«
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, und ich wurde misstrauisch. »Denkst du an jemand Bestimmtes?«
Finn wirkte beinahe selbstzufrieden. »Das tue ich. Und ich kann dir garantieren, dass du durch ihn die nötige Motivation bekommst, um dir deinen inneren Krieger zunutze zu machen.«
»Was genau soll das bedeuten?«, fragte ich, und mir schwante, dass mir das, um was ich gebeten hatte, vielleicht doch nicht gefallen würde.
»Das lasse ich dich ganz allein herausfinden.«
Und ich schwöre, dass das spitzbübische Funkeln in seinen Augen nur ein ganz klein wenig schadenfroh war.
Dad kam erst gegen zehn nach Hause – es war offenbar ein wirklich ausführliches Dinnermeeting gewesen. Ich saß gerade mit Finn auf dem Sofa und sah mir eine seltsame britische Sitcom an, bei der ich nur ein Drittel aller Witze verstand. Finn lachte sich auch nicht gerade schlapp, doch das leichte Schmunzeln auf seinem Gesicht, das immer erschien, wenn die Lachkonserve losging, ließ vermuten, dass es ihm gefiel.
In den paar Stunden, die wir zusammen verbracht hatten, hatte Finns Zustand sich deutlich verbessert. Er bewegte sich inzwischen viel ungehinderter – auch als er sich nun von der Couch erhob, um meinen Vater zu begrüßen. Die beiden unterhielten sich kurz, bevor Dad sich bei Finn bedankte und ihn dann nach Hause schickte.
Dad öffnete einen Schrank, in dem sich Spirituosen befanden, und schenkte sich einen guten Schluck von einem Getränk ein, das meiner Meinung nach Brandy war. Er schwenkte die Flüssigkeit in seinem Glas, trank jedoch nicht sofort.
»Deiner Miene und der Tatsache nach zu urteilen, dass du dich direkt auf den Schnaps gestürzt hast, ist es vermutlich nicht so gut gelaufen?«, fragte ich.
Seine Miene hellte sich auf, und er lachte leise, ehe er einen kleinen Schluck von seinem Brandy nahm. Er winkte mich zum Sofa, und wir nahmen an den entgegengesetzten Enden Platz.
»Es ist so gelaufen, wie ich es erwartet habe«, sagte er. »Wir waren uns sofort einig, dass wir unbedingt zusammenarbeiten müssen, um dich zu beschützen. Und dann haben wir die nächsten drei Stunden damit verbracht, darüber zu streiten, wie wir das am besten anstellen.« Er schüttelte lachend den Kopf und nippte wieder an seinem Brandy.
Das klang in meinen Ohren nicht besonders lustig. »Also, zu welchem Entschluss seid ihr gekommen?«
»Wir haben beschlossen, dass wir morgen weiterreden.«
Ich stöhnte. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
Er lächelte schief. »Wir sind Politiker, meine Liebe. Zu einer Einigung zu kommen wird einige Zeit und Energie in Anspruch nehmen. Wir haben uns allerdings darauf geeinigt, dass wir dir einen sicheren Unterschlupf suchen werden.« Anscheinend sah ich beunruhigt aus, denn er fuhr hastig fort: »Nicht, dass du hier nicht sicher wärst. Es ist nur … zu leicht, an dich heranzukommen.«
»Für wen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn man so ernstzunehmende Feinde hat wie du, ist es das Beste, diese Feinde wissen erst gar nicht, wo man ist.«
O Mann, ich war so froh, dass Dad noch immer offen und ehrlich zu mir war … Dachte er, mir wäre nicht aufgefallen, dass er meine Frage nicht beantwortet hatte?
»Keine Sorge«, sagte er und nahm noch einen Schluck von seinem Brandy. »Mein Haus ist im Augenblick so sicher wie jedes andere Versteck. Es ist nur keine dauerhafte Lösung.«
Ich erwiderte nichts, denn ich begann zu spüren, wie die Gitterstäbe eines goldenen Käfigs um mich herum allmählich höher und höher wurden. Bereits jetzt war ich praktisch vierundzwanzig Stunden unter Beobachtung, und ich sah schon kommen, wie die wenigen Freiheiten, die ich noch hatte – wie zum Beispiel Shopping –, ebenfalls verloren zu gehen drohten. Wenn sie mich an einen Ort brachten, an dem niemand mich finden konnte, wäre ich ihnen noch stärker ausgeliefert. Sie würden mich von der Außenwelt abschneiden.
Es war ein deprimierender Gedanke. Aber wenn ich eine Chance haben wollte, die »Großen Drei« davon abzubringen, brauchte ich etwas Wirksameres als: »Ich will nicht an einem abgelegenen Ort versteckt werden wie die Prinzessin im Märchen.« Im Augenblick war das mein einziges Argument, also beschloss ich, vorerst lieber den Mund zu halten. Vielleicht würde mir nach einer Mütze Schlaf etwas Besseres einfallen.
Ich zwang mich zu einem gespielten Gähnen, das ziemlich schnell zu einem echten wurde. Dad warf mir einen mitfühlenden väterlichen Blick zu.
»Es war ein langer Tag für dich«, sagte er. »Vielleicht solltest du dich etwas hinlegen und schlafen.«
»Ja, ich glaube auch.« Ich unterdrückte ein weiteres Gähnen.
Es entstand ein peinlicher Moment, in dem keiner von uns zu wissen schien, was er tun sollte. Ich wollte ihm keinen Gutenachtkuss geben oder so etwas, doch da war noch immer dieses unangenehme Gefühl, dass ich ihm meine Zuneigung irgendwie zeigen sollte. Ich glaube, Dad empfand es in dem Augenblick ebenso, war aber mindestens genauso verwirrt wie ich.
»Tja, dann … Gute Nacht«, sagte ich schließlich.
»Gute Nacht«, erwiderte er und neigte förmlich den Kopf. »Schlaf gut.«
Und wahrscheinlich war das für uns beide an liebevollem Umgang miteinander schon das Höchste der Gefühle.