1. Kapitel

Meine Handflächen waren verschwitzt, und mein Herz schlug mir bis an den Hals, als das Flugzeug zur Landung in London ansetzte. Ich konnte kaum glauben, dass ich das hier wirklich machte, konnte kaum glauben, dass ich den Mut gefunden hatte, von zu Hause wegzulaufen. Ich wischte mir die Hände an der Jeans ab und fragte mich, ob Mom mein Verschwinden wohl schon bemerkt hatte. Sie schlief gerade einen Mordsrausch aus, als ich das Haus verließ, und es war nicht ungewöhnlich, dass sie nach solchen Gelagen vierundzwanzig Stunden außer Gefecht war. Ich wünschte mir, Mäuschen spielen zu können, wenn sie die Nachricht fand, die ich ihr hinterlassen hatte. Vielleicht würde ihr ein Licht aufgehen, wenn sie merkte, dass sie mich verloren hatte, und sie würde endlich aufhören zu trinken. Aber ich würde nicht darauf warten.

Es war kein Problem gewesen, meinen Vater zu finden und Kontakt zu ihm aufzunehmen. In nüchternem Zustand hätte Mom nicht im Traum daran gedacht, mir seinen Namen zu verraten, und er tauchte auch nicht in meiner Geburtsurkunde auf. Doch als sie wieder einmal in angeheiterter, gesprächiger Stimmung gewesen war, hatten ein paar bohrende Fragen ausgereicht, um zu erfahren, dass er Seamus Stuart hieß. Die Feen benutzten in Faerie keine Nachnamen, hatte sie mir anvertraut, aber diejenigen, die in Avalon lebten, hatten diese Gepflogenheit übernommen, um es dem menschlichen Teil der Bevölkerung leichter zu machen.

Avalon ist mit seinen weniger als zehntausend Einwohnern winzig.

Es war also kein Problem gewesen, meinen Vater im Online-Telefonbuch von Avalon zu finden – er war der einzige Seamus Stuart in dem Verzeichnis gewesen. Und als ich angerufen und ihn gefragt hatte, ob er jemanden mit dem Namen meiner Mutter kennen würde, hatte er sofort zugegeben, einmal eine Freundin mit dem Namen gehabt zu haben. In dem Moment war ich mir sicher gewesen, den richtigen Mann gefunden zu haben.

Schon bei unserem ersten Telefonat hatte er mich gefragt, ob ich ihn in Avalon besuchen kommen würde. Er hatte mir sogar ein Erste-Klasse-Ticket nach London spendiert. Und kein einziges Mal hatte er gefragt, ob er mit Mom reden könne oder ob ich überhaupt die Erlaubnis hätte, zu ihm zu kommen. Zuerst hatte mich das überrascht, doch dann hatte ich eingesehen, dass Mom recht gehabt hatte: Wenn er mich gefunden hätte, dann hätte er mich, ohne zu zögern, nach Avalon gelockt.

Aber einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, ermahnte ich mich.

Das Flugzeug setzte mit quietschenden Reifen unsanft auf der Rollbahn auf. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Es würde vermutlich noch einige Stunden dauern, ehe ich meinem Vater tatsächlich gegenüberstünde. Da er ursprünglich aus Faerie stammt, kann er die Welt der Sterblichen nicht betreten. (Falls er sich also entschlossen haben sollte, mich zu entführen, würde er dafür menschliche Komplizen brauchen.) Die einzigartige Magie von Avalon besteht darin, dass die Stadt in Faerie und in der menschlichen Welt existiert – der einzige Ort, an dem die beiden Ebenen des Daseins sich überschneiden. Wenn mein Vater an der Grenze der Stadt steht und hinausblickt, sieht er Faerie, und wenn er die Grenze überschreitet, können wir, die wir in der Welt der Sterblichen leben, ihn nicht mehr sehen.

Er hatte einen seiner menschlichen Freunde gebeten, mich am Londoner Flughafen abzuholen und nach Avalon zu bringen. Erst dort würde ich ihn treffen können.

Wie benebelt ließ ich das Einreiseverfahren und den Zoll in London über mich ergehen. Ich war zu aufgeregt und nervös gewesen, um im Flugzeug schlafen zu können, und jetzt holte mich die Müdigkeit ein. Mechanisch ging ich den anderen Fluggästen am Boden Richtung Ausgang und Abfahrtsbereich hinterher und hielt in dem Meer von Plakaten mit Namen Ausschau nach meinem.

Ich konnte ihn nicht finden.

Noch einmal betrachtete ich die Schilder, las jedes Plakat genau durch, falls mein Name falsch geschrieben war und ich ihn deshalb zuerst übersehen hatte. Doch die Zahl der Fahrer schrumpfte zusehends, und niemand hielt ein Schild mit meinem Namen in die Höhe. Ich biss mir auf die Unterlippe und sah auf meine Uhr, die ich schon auf die Londoner Zeit umgestellt hatte. Es war 8:23 Uhr am Morgen, und als ich das letzte Mal mit Dad gesprochen hatte, hatte er geschätzt, dass ich bei pünktlicher Landung die Zollkontrolle um 8:15 Uhr passiert haben müsste. Sein Freund sollte also eigentlich hier sein.

Wieder atmete ich tief durch und ermahnte mich, ruhig zu bleiben. Dads Freund war erst acht Minuten zu spät. Kein Grund, in Panik zu verfallen. Ich fand einen gemütlichen Sitzplatz in der Nähe der Türen und ließ meinen Blick in der Hoffnung schweifen, jemanden zu entdecken, der ins Terminal gehetzt kam und sich hektisch umschaute. Von solchen Leuten sah ich viele, aber keiner von ihnen hatte ein Schild mit meinem Namen darauf bei sich.

Als es 8:45 Uhr wurde und noch immer keine Spur von meiner Mitfahrgelegenheit zu sehen war, entschied ich, dass ich nun doch ein wenig beunruhigt sein durfte. Ich schaltete mein Handy ein, um Dad anzurufen, und stellte fest, dass ich kein Netz bekam. Erst jetzt und viel zu spät fragte ich mich, ob amerikanische Handys in London eigentlich funktionierten. Wieder schluckte ich meine Panik hinunter. Dad hatte mir ein hübsches Kennenlern-Geschenk gemacht – eine Kamee in Form einer weißen Rose, die ich an einer Kette um den Hals trug. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie nun nervös befingerte.

Ich war in meinem Leben bereits auf vielen Flughäfen gewesen, und nach einem ausreichend langen Flug war meine Mutter bei der Landung jedes Mal total besoffen gewesen. Selbst mit erst acht Jahren hatte ich Mom schon durch den Flughafen gelotst, unser Gepäck geholt und ein Taxi organisiert, das uns an unser Ziel gebracht hatte. Zugegeben, der exotischste Ort, an dem ich das hatte tun müssen, war Kanada gewesen. Aber verdammt, das hier war England und nicht Indien.

Mach dir nichts draus, sagte ich mir und fand eine Reihe von Münztelefonen. Da man meiner Mutter nicht vertrauen konnte, den Überblick über Rechnungen oder sonstiges zu behalten, hatten wir ausgemacht, dass ich meine eigene Kreditkarte hatte. Und die benutzte ich jetzt, um in Avalon anzurufen.

Ich ließ das Telefon in Dads Haus ungefähr zehnmal klingeln, doch niemand nahm ab. Schließlich legte ich auf und biss mir auf die Unterlippe.

Ich war wegen des ganzen Abenteuers schon aufgeregt genug gewesen. Jetzt war ich am Flughafen Heathrow gestrandet, und mein Dad ging nicht ans Telefon. Dazu kam noch der schreckliche Jetlag, und ich wünschte mir im Moment nichts mehr, als mich in einem kuscheligen, gemütlichen Bett zusammenzurollen und zu schlafen. Ich unterdrückte ein Gähnen – wenn ich erst mal damit anfing, könnte ich nicht mehr aufhören.

Um 9:15 Uhr musste ich mir eingestehen, dass Dads Freund wohl nicht mehr auftauchen würde. Wahrscheinlich ging mein Vater nicht ans Telefon, weil er wie versprochen an der Grenze zu Avalon wartete. Gut, ich musste also nichts weiter tun, als mir ein Taxi zu nehmen, das mich zur Grenze brachte. Und die war nur rund vierzig Kilometer von London entfernt. Kein Problem, oder?

Ich wechselte etwas Geld und stieg kurz darauf in eines dieser riesigen schwarzen Taxis, die sie in England haben. Es fühlte sich echt komisch an, dass der Fahrer auf der falschen Seite saß, und noch komischer, dass wir auf der falschen Seite der Straße fuhren.

Mein Fahrer raste wie ein Irrer und redete auf dem Weg zum Südtor von Avalon ohne Punkt und Komma. Ich weiß nicht, was für einen Akzent er sprach – möglicherweise Cockney –, aber ich verstand nur ein Drittel von dem, was er sagte. Zum Glück schien er, bis auf ein gelegentliches Lächeln oder Nicken, keine Antwort zu erwarten. Ich hoffte nur, dass er nicht merkte, wie ich jedes Mal zusammenzuckte und aufstöhnte, wenn er beinahe jemanden zu überfahren schien.

Wie jeder andere im Universum hatte ich schon viele Bilder von Avalon gesehen. Unzählige Reiseführer widmen sich der Stadt – ich hatte allein zwei in meinem Gepäck –, und in quasi jedem Fantasyfilm, der jemals gedreht wurde, gibt es mindestens eine oder zwei Szenen, die an Originalschauplätzen in Avalon gedreht wurden, weil es wie gesagt der einzige Ort in der Welt der Sterblichen ist, an dem Magie tatsächlich funktioniert. Doch Avalon wirklich zu sehen erinnerte mich daran, wie es gewesen war, den Grand Canyon zum ersten Mal zu erleben: Kein Foto der Welt konnte dem gerecht werden.

Avalon liegt auf einem Berg. Ja, auf einem echten, leibhaftigen Berg. Das Ding ragt aus der flachen, grünen und mit Schafen gespickten Landschaft heraus in den Himmel. Es sieht fast so aus, als hätte ihn jemand aus den Alpen geklaut und wahllos an einen Platz gestellt, an den er auf keinen Fall gehört.

Häuser, Geschäfte und Bürogebäude bedecken jeden Quadratzentimeter der Berghänge, und eine einzelne Asphaltstraße schlängelt sich vom Fuß des Berges bis hinauf zu einem schlossähnlichen Gebäude, das den Gipfel beherrscht. Es gibt viele kleinere Straßen mit Kopfsteinpflaster, die von der Hauptstraße abzweigen, die als einzige breit genug für Autos ist.

Der Fuß des Berges ist komplett von einem Graben mit schlammigem, undurchsichtigem Wasser umgeben, um den ein hoher elektrischer Zaun gezogen wurde. Es gibt nur vier Eingänge zur Stadt selbst – in jeder Himmelsrichtung einen.

Mein Dad sollte mich eigentlich am Südtor in Empfang nehmen. Der Taxifahrer ließ mich am Pförtnerhaus aussteigen – ein dreigeschossiges, sich über einen halben Häuserblock erstreckendes Gebäude –, und ich bekam wieder einen plötzlichen Panikanfall, als ich ihn davonfahren sah. Es war zwar erlaubt, dass Autos die Tore nach Avalon passierten, doch der Fahrer hätte dafür ein Visum benötigt. Den Rucksack über eine Schulter gehängt, zog ich also meinen Koffer durch eine Reihe von Labyrinthen aus Absperrbändern und folgte den Schildern für Besucher. Selbstverständlich waren die Schlangen vor den Schaltern für die Ortsansässigen sehr viel kürzer.

Als ich endlich an der Reihe war, war ich trotz meiner Angst und Beunruhigung praktisch im Stehen eingeschlafen. Es gab einen kleinen Parkplatz direkt hinter dem Grenzübergang, und wie am Flughafen konnte ich dort Menschen mit Schildern in der Hand stehen sehen. Aber während ich darauf wartete, dass der Zollbeamte mir einen Stempel in den Pass drückte, konnte ich meinen Namen noch immer auf keinem der Schilder ausmachen.

»Einen Augenblick, Miss«, sagte der Zollbeamte, nachdem er gefühlte zehn Jahre lang meinen Reisepass geprüft hatte. Verwirrt blinzelte ich, als er dann mit meinem Pass in der Hand seinen Platz verließ.

Mein Hals wurde mit einem Mal trocken, als ich den Beamten mit einer großen, beeindruckenden Frau in einer marineblauen Uniform sprechen sah, an deren Gürtel sich eine Waffe und Handschellen befanden. Und mein Hals wurde noch trockener, als der Mann auf mich wies und die Frau in meine Richtung blickte. Tatsächlich machte sie sich dann auch auf den Weg zu mir. Ich bemerkte, dass der Zollbeamte ihr meinen Pass gereicht hatte. Das schien mir nicht gerade ein gutes Zeichen zu sein.

»Bitte, kommen Sie mit mir, Miss …« Sie klappte den Pass auf, um nachzusehen. »Hathaway.« Sie hatte einen seltsamen Akzent, irgendwie britisch, jedoch nicht ganz. In der Zwischenzeit winkte der Zollbeamte den nächsten Wartenden in der Schlange zu sich heran.

Ich musste näher an die Frau herantreten, um nicht von einer fünfköpfigen Familie niedergetrampelt zu werden, die hinter mir an den Schalter kam.

»Gibt es ein Problem?«, fragte ich, und obwohl ich mich bemühte, lässig zu klingen, zitterte meine Stimme in diesem Moment ein wenig.

Die Frau lächelte, auch wenn das Lächeln ihre Augen nicht erreichte. Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und führte mich zu einer Tür an der Seite des Gebäudes, für die eine Keycard nötig war.

Ich wollte den Griff meines Koffers packen, doch ein Typ in einem Overall kam mir zuvor. Er klatschte einen neonorangen Aufkleber darauf und schleppte das Gepäck dann hinter den Zollschalter.

Ich überlegte kurz, ob ich eine Szene machen sollte, sah dann jedoch ein, dass das meine momentane Lage nicht eben verbessern würde.

»Keine Angst«, sagte die Frau, die mich noch immer in Richtung Tür zerrte. Na ja, vermutlich »zerrte« sie mich gar nicht. Ihre Hand lag ganz leicht auf meinem Arm, und es war doch eher so, als führte sie mich. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass sich das schnell ändern würde, sollte ich langsamer werden. »Es ist hier eine Standardprozedur, dass wir mit einem gewissen Anteil unserer Besucher eine Befragung durchführen.« Ihr Lächeln wurde breiter, als sie ihre Keycard durch den Schlitz an der Tür zog. »Es ist einfach Ihr Glückstag.«

Stress und Schlafmangel waren mit einem Mal zu viel für mich, und Tränen brannten in meinen Augen. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Backe, um nicht loszuheulen. Wenn das hier tatsächlich nur eine zufällige Auswahl war, warum hatte der Zollbeamte meinen Pass dann so genau geprüft? Und warum hatte Dad mir nicht erzählt, dass diese Möglichkeit bestand? In den Reiseführern hatte ich ganz sicher nichts darüber gelesen.

Ich wurde in ein steriles, graugestrichenes Büro geführt, in dem Möbel herumstanden, die aussahen wie Überbleibsel aus einem Schulschlafsaal. Ein merkwürdiger Geruch nach nasser Wolle stieg mir in die Nase. Die beeindruckend große Frau wies auf einen Klappstuhl aus Metall, auf den ich mich setzen sollte, und zog dann einen sehr viel bequemer wirkenden Sessel hinter dem Schreibtisch hervor. Wieder lächelte sie mir zu.

»Mein Name ist Grace«, sagte sie. Ich war mir nicht sicher, ob das ihr Vor- oder Nachname war. »Ich leite den Grenzschutz, und ich muss Ihnen nur ein paar Fragen über Ihren Besuch in Avalon stellen; dann können Sie gehen.«

Ich schluckte schwer. »Okay«, murmelte ich. Als hätte ich eine Wahl.

Grace beugte sich vor, nahm einen kleinen Spiralblock aus einer der Schreibtischschubladen und hielt dann erwartungsvoll einen kunstvoll verzierten silbernen Füller in der Hand. Vermutlich benutzen Feen nicht so gern Kugelschreiber.

»Was ist der Grund für Ihren Aufenthalt in Avalon?«, begann sie.

Tja. Ich bin sechzehn Jahre alt – da bin ich wohl kaum auf Geschäftsreise hier. »Ich bin gekommen, um meine Familie zu besuchen.«

Sie notierte das rasch und blickte mich dann über den Rand des Notizblockes hinweg an. »Sind Sie nicht ein bisschen zu jung, um ohne Begleitung zu reisen?«

Unwillkürlich straffte ich die Schultern und setzte mich etwas aufrechter hin. Ja, gut, ich war erst sechzehn, aber so jung ist das nun auch wieder nicht. Ich war alt genug, um Zahlungseingänge und -ausgänge auf dem Konto zu prüfen, Rechnungen zu bezahlen und meine Mutter durch die Gegend zu fahren, wenn sie mal wieder zu betrunken war, um selbst hinterm Steuer zu sitzen. Graces Augen funkelten belustigt, als ich sie empört ansah, und ich schaffte es, meine Wut zu zügeln, ehe ich ihr antwortete.

»Eigentlich sollte mich jemand vom Flughafen abholen«, sagte ich, obwohl das keine Antwort auf ihre Frage war. »Niemand ist aufgetaucht, also habe ich einfach ein Taxi genommen. Mein Vater wartet auf mich, wenn ich die Zollabfertigung hinter mir habe.«

Nachdenklich nickte Grace und schrieb alles mit. »Wie heißt Ihr Vater?«

»Seamus Stuart.«

»Adresse?«

»Äh, Ashley Lane 25.« Ich war froh, dass ich nach seiner Adresse gefragt hatte, bevor ich hierhergekommen war. Ich hätte nicht gedacht, dass ich sie tatsächlich brauchen würde.

»War er auf dem Parkplatz? Ich kann ihn bitten hereinzukommen, wenn Sie mögen.«

»Äh, ich habe ihn genau genommen noch nie gesehen, also kann ich nicht sagen, ob er da war oder nicht.« Hoffentlich wurde ich nicht rot. Ich weiß nicht, warum es mir peinlich war, meinen Vater noch nie gesehen zu haben, doch das war es.

Sie machte sich noch ein paar Notizen. Ich fragte mich, was sie da alles aufschrieb. Schließlich erzählte ich ihr ja nicht gerade meine Lebensgeschichte oder so. Und warum wollte der Grenzschutz diesen ganzen Mist überhaupt wissen? Ich hatte die meisten der Fragen schon beantwortet, als ich mein Visum beantragt hatte.

»Bekomme ich mein Gepäck zurück?«, fragte ich, zu nervös, um einfach nur dazusitzen und still zu sein.

»Sicher, meine Liebe«, erwiderte sie mit einem dieser falschen Lächeln.

In dem Moment ging die Tür zum Büro auf. Der Typ im Overall, der mein Gepäck mitgenommen hatte, steckte seinen Kopf herein und wartete darauf, dass Grace ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. Mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue sah sie ihn an.

»Es wurde bestätigt«, sagte er nur.

Zum ersten Mal wirkte Graces Lächeln echt.

»Was wurde bestätigt?«, wollte ich wissen. Aus irgendeinem Grund machte mir das echte Lächeln mehr Angst als das falsche.

»Na ja, deine Identität, meine Liebe. Es scheint so, als wärst du tatsächlich die Tochter von Seamus Stuart.«

Mir fiel die Kinnlade hinunter. »Wie haben Sie das bestätigt?«

»Ich sollte mich dir erst einmal richtig vorstellen«, entgegnete sie statt einer Antwort. »Mein voller Name ist Grace Stuart.« Ihr Lächeln wurde geradezu schelmisch. »Aber du darfst ruhig Tante Grace zu mir sagen.«