4. Kapitel
Letztendlich war die Zelle nicht so deprimierend, wie ich gedacht hätte. Wenn da nicht die verriegelte Tür gewesen wäre – und die Tatsache, dass es sich um einen Keller ohne Fenster handelte –, hätte ich mir fast selbst einreden können, dass ich in einem urigen kleinen Bed & Breakfast war. Das Bett war schmal, wirkte aber weich und einladend. Im Badezimmer stand eine altmodische Wanne mit verschnörkelten Füßen, und der Gasofen verbreitete sofort eine wohlige Wärme. Das Beste war, dass mein Koffer und mein Rucksack in einer Ecke lagen. Wie sie hierhergekommen waren, ließ sich nur vermuten, doch ich hätte viel Geld darauf verwettet, dass Magie im Spiel gewesen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Grace mir die Sachen persönlich hinterhergetragen hatte – selbst wenn sie vor uns da gewesen wäre.
So nett das Zimmer auch war, konnte ich jedoch nicht das Geräusch des Holzbalkens vergessen, der vor die Tür geschoben wurde. Das hier war eine Zelle, und auch wenn der Gefängniswärter ganz okay zu sein schien, war die Aufseherin, meine Tante Grace, es ganz und gar nicht.
Ungefähr eine halbe Stunde lang lief ich in meiner Zelle auf und ab und versuchte, mir einen Fluchtplan zurechtzulegen. Natürlich hätte ich nicht gewusst, wohin, falls es mir tatsächlich auf wundersame Weise gelungen wäre, aus diesem Raum zu entwischen. Ein Blick in meinen Koffer und meinen Rucksack zeigte mir, dass mein Pass, meine Kreditkarte und mein gesamtes Bargeld fehlten. Wenn ich flüchten wollte, musste ich mir meine Sachen zurückholen. Oder einen Helfer finden.
Meine Planung – wenn man das überhaupt so nennen konnte – wurde von dem Geräusch des Balkens unterbrochen, der zurückgezogen wurde. Einen Moment später kam Lachlan in die Zelle. In einer seiner Riesenpranken hielt er ein Tablett, auf dem eine Teekanne und Tassen standen. Als er die Tür hinter sich schloss und die Hand senkte, sah ich, dass er noch einen Teller dabeihatte, auf dem eine Auswahl an Scones angerichtet war. Mein Magen gab ein peinliches lautes Knurren von sich, das Lachlan freundlicherweise ignorierte.
Er stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch, an dem zwei Stühle standen. Einen davon zog er wie ein echter Gentleman für mich vor. Ich war zu hungrig, um mir diese Chance entgehen zu lassen, also verschlang ich in Rekordzeit zwei der warmen, köstlichen Brötchen. Lachlan blieb bei mir, während ich aß, und jedes Mal, wenn ich ihm einen kurzen Blick zuwarf, lächelte er und wirkte irgendwie stolz.
»Hast du die gemacht?«, fragte ich.
Er nickte und wies mit dem Daumen Richtung Decke. »Das ist meine Bäckerei da oben.«
»Die sind echt lecker«, entgegnete ich, auch wenn ich mir sicher war, dass er das schon gemerkt hatte.
Für eine kurze Weile lenkte mich das Essen ab, und ich fühlte mich besser. Aber meine Laune sank schlagartig, als Lachlan das Tablett hochnahm, um zu verschwinden. Bald würde ich wieder allein in meiner Zelle hocken.
Lachlan warf mir ein mitfühlendes Lächeln zu. »Deine Tante Grace meint es nur gut«, erklärte er. »Ich weiß, dass sie sich nicht gerade diplomatisch verhalten hat …«
Ich konnte mir ein bitteres Lachen nicht verkneifen. Ja, so konnte man es auch ausdrücken. Lachlan wirkte durch mein Lachen verletzt. Vermutlich mochte er Tante Grace wirklich, denn er tat sein Bestes, um sie zu verteidigen.
»Sie hat in letzter Zeit sehr unter Stress gestanden«, fuhr er fort. »Und deine Ankunft hat …« Er runzelte die Stirn und beendete seinen Satz nicht.
»Meine Ankunft hat was?«
»Sagen wir einfach, dass du eine weitere Komplikation in einem ohnehin schon komplizierten Leben bedeutest.«
»Warum?«, fragte ich und warf frustriert die Hände in die Luft. »Ich bin nur hierhergekommen, um meinen Vater zu besuchen! Wieso scheint das für alle so ein Riesenproblem zu sein?« Okay, ich hatte mir eigentlich vorgestellt, dass ich herkommen würde, um bei meinem Vater zu leben, doch nach weniger als einem Tag an diesem Ort hatte ich die Idee schon fast wieder verworfen.
Lachlan starrte auf seine Füße, und um seinen Mund erkannte ich einen missmutigen Zug. »Es steht mir nicht zu, dir das zu erklären.«
Aber ich hatte das Gefühl, dass er es gern wollte. »Bitte, Lachlan«, sagte ich und versuchte, möglichst verzweifelt und jämmerlich zu klingen. Gut, das fiel mir alles andere als schwer; ich bemühte mich einfach nur nicht, es zu verbergen. »Bitte sag mir, was los ist.«
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, er würde nachgeben. Doch dann presste er die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Das steht mir nicht zu.«
Bitte mach, dass mein Vater mich morgen abholt, betete ich stumm.
»Du solltest etwas schlafen«, sagte Lachlan, erhob sich und nahm das Tablett in die Hand.
Wie aufs Stichwort musste ich fürchterlich gähnen.
Er lächelte mich an. »Ich bin direkt auf der anderen Seite der Tür«, versicherte er. »Falls du irgendetwas brauchst, schrei einfach.«
Ich schluckte das nächste Gähnen hinunter, als Lachlan ging und die Tür hinter sich verschloss.