Epilog
Ich war nicht sonderlich überrascht, als ich feststellte, dass der »sichere Ort« sich unter der Erde in Avalons gewaltigem Tunnelsystem befand. Die gute Neuigkeit war, dass ich Strom, fließend Wasser, einen Telefonanschluss und eine Internetverbindung hatte. Die schlechte Neuigkeit war, dass ich das Tunnelsystem aus tiefstem Herzen hasste. Ich hasste es, ohne natürliches Tageslicht auskommen zu müssen. Ich hasste das klaustrophobische Gefühl, dass mir jederzeit die Decke auf den Kopf fallen könnte. (Auch wenn ich sehr genau wusste, dass das niemals passieren würde.) Und ich hasste die Erinnerung an die Dinge, die mir hier, unter der Erde, zugestoßen waren.
Nachdem die Woche Hausarrest vorbei war, durfte ich meine Mini-Suite endlich verlassen – allerdings nur am Tag und nur mit einem Bodyguard. Trotzdem war es erstaunlich, wie frei ich mich fühlte, nachdem ich eine Woche lang eingesperrt gewesen war. Es ist alles eine Frage des Blickwinkels. Ich fing sogar wieder mit dem Training bei Keane an, der meinen Fluchtversuch oder meinen Krankenhausaufenthalt nicht ein einziges Mal ansprach. Ich fragte mich, warum das so war.
Meine Mom wohnte in dem Zimmer in Dads Haus, das vorher mir gehört hatte. Sie war noch immer nicht glücklich und zufrieden, auch wenn das Entzugsdelirium abgeklungen war. Aber zumindest war sie nüchtern und halbwegs vernünftig.
Sie erinnerte mich allerdings daran, zu was mein Dad fähig ist. Ich zögerte, das Thema anzuschneiden, doch irgendwann musste ich sie ja fragen, warum sie das Sorgerecht an Dad übertragen hatte. Mir war es immer so vorgekommen, als wäre das das Letzte, was sie tun würde, und ich vermutete, dass Dad mir in dieser Angelegenheit nicht die Wahrheit sagte.
»Ich bin müde, Süße«, sagte Mom, als ich sie fragte. »Ich würde gern ein Nickerchen machen.«
Ich schnaubte verächtlich. Wenn das nicht der jämmerlichste Versuch war, das Thema zu umgehen, den ich je erlebt hatte … »Ich habe das Recht, es zu erfahren, oder nicht?«, drängte ich, obwohl ich aus Erfahrung wusste, wie schwierig es werden würde, Mom dazu zu bringen, Fragen zu beantworten, wenn sie es nicht wollte.
»Ich … dachte einfach, dass es das Beste für dich wäre«, sagte sie, aber sie sah mir dabei nicht in die Augen und konnte auch nicht still sitzen bleiben. Ihre Hände zuckten, sie rutschte nervös auf dem Stuhl herum und tippte mit einem Fuß ungeduldig auf den Boden. Teilweise war sicherlich ihr verzweifelter Wunsch nach einem Drink der Grund dafür. Doch das war nicht alles.
»Ich kann auch jederzeit Dad fragen«, bluffte ich. Ich wusste, dass mein Vater mir die Wahrheit sagen würde. Ich hatte ja bereits festgestellt, dass er kein Problem mit brutaler Ehrlichkeit hatte, aber ich wollte es von meiner Mom hören. Und wenn ich sie wochenlang würde nerven müssen, nahm ich das in Kauf.
Doch möglicherweise schwächte der fehlende Alkohol ja Moms Willen, oder er machte es so kompliziert, die Lüge aufrechtzuerhalten, dass es ihr die Mühe nicht wert war. Jedenfalls begann Mom, noch immer unruhig zappelnd, zu reden, während sie über meine Schulter hinwegblickte.
»Er hat dafür gesorgt, dass Finn mich hierherbringt, nachdem er mich aus dem Hotel geholt hat«, sagte sie. »Er … hat mir nichts gegeben.«
Sie meinte Alkohol.
»Ich war … verzweifelt«, fuhr sie fort. »Aber er wollte mir noch immer nicht helfen. Dann hat er mir all diese Formulare in die Hand gedrückt und mich gebeten, sie zu unterschreiben. Er hat mir nicht erzählt, was das für Formulare waren, und ich durfte sie nicht lesen.«
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Du meinst, du hast hier gesessen und deine Rechte an mir überschrieben, ohne dir die Mühe zu machen herauszufinden, was du da überhaupt unterzeichnest?«
Sie zog die Schultern hoch und senkte den Blick. »Nicht sofort«, murmelte sie. »Erst habe ich mich geweigert. Doch dann ging es mir immer schlechter und schlechter, und Seamus wollte mir noch immer nicht helfen.«
Und ich nehme an, ich begann allmählich zu begreifen, wie Dad tickte, denn den Rest konnte ich mir allein zusammenreimen. »Er hat dir versprochen, dir einen Drink zu geben, wenn du die Papiere unterschreibst«, flüsterte ich, denn wenn ich es laut ausgesprochen hätte, dann hätte meine Stimme versagt.
Das schlechte Gewissen stand Mom ins Gesicht geschrieben. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Dokumente vor einem amerikanischen Gericht gültig sind«, sagte sie. »Ich war nicht ganz bei mir, als ich die Papiere unterschrieben habe.« Sie verzog den Mund. »Um ehrlich zu sein, kann ich mich kaum daran erinnern … Aber meine Unterschrift ist auf den Formularen, und wenn Seamus sagt, dass ich unterschrieben habe, dann habe ich keinen Grund, daran zu zweifeln.«
Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen meine Wut an. Mir fiel wieder ein, dass Dad sie für unzurechnungsfähig hatte erklären lassen. Doch er hatte diese Unzurechnungsfähigkeit offensichtlich zuerst einmal für sich ausgenutzt. Ja, ich war wütend auf Mom, weil sie das getan hatte – und ich konnte das Gefühl schmerzlicher Enttäuschung nicht unterdrücken, weil sie nicht um mich gekämpft hatte. Aber ein großer Teil der Schuld lag ganz eindeutig bei meinem Vater.
Als ich in mein unterirdisches Zimmer zurückkehrte, beschloss ich, dass es an der Zeit war, die trügerische Hoffnung zu begraben, dass meine Mom oder mein Dad sich um mich kümmern und dabei nur meine Interessen im Blick haben würden. Seit Jahren sorgte ich selbst für mich, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern, ob es mir nun gefiel oder nicht.
In Avalon für mich selbst zu sorgen würde eine größere … Herausforderung sein, als es zu Hause gewesen war. Zu Hause hatte ich durch Moms Alkoholsucht die Freiheit gehabt, fast alles zu tun, was ich wollte, ohne mich um das elterliche Einverständnis scheren zu müssen. Von nun an musste ich zwei Elternteile beschwichtigen – und sie gegeneinander ausspielen, falls nötig.
Doch jetzt hatte ich etwas, das ich definitiv nicht gehabt hatte, ehe ich nach Avalon gekommen war. Etwas, das ich geschworen hatte, zu meinem Vorteil zu nutzen. Magie.
Nein, ich wusste nicht, wie ich sie nutzen konnte. Und ja, Ethan hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es eine sehr, sehr schlechte Idee war, jemandem zu verraten, dass ich sie spüren konnte. Aber wenn ich lernte, sie mir zunutze zu machen, wäre ich damit in Besitz einer sehr mächtigen, geheimen Waffe. Vielleicht sogar einer Waffe, die es mir irgendwann ermöglichen würde, aus Avalon zu fliehen und ein für alle Mal vom Radar der Königinnen Faeries zu verschwinden.
Der Plan war gut, hatte jedoch seine Schwachstellen … In der Woche der extrem langweiligen Gefangenschaft hatte ich nur herausgefunden, dass die Magie mein Singen zu »mögen« schien: Ich konnte kein Lied vollständig singen, ohne dieses besondere Kribbeln zu verspüren. Doch bisher hatte ich es noch nicht geschafft, die Magie dazu zu überreden, irgendetwas zu tun.
Aber das werde ich schon noch schaffen. Immerhin bin ich klug, fest entschlossen und zuversichtlich, dass ich die Sache durchschauen und lernen werde. (Zumindest rede ich mir das ein.) Und wenn ich es gelernt habe, werde ich diese Geheimwaffe nutzen, um allen anderen die Kontrolle über mein Schicksal zu entreißen und es wieder selbst in die Hand zu nehmen. Wie es sich gehört.