24. Kapitel

Diese Nacht war eine der längsten meines Lebens. Die Abendstunden zogen sich wie Jahre, und nachdem Dad und ich uns eine gute Nacht gewünscht hatten, verging die Zeit noch langsamer. Ich versuchte ungefähr achtmal, meine Mutter anzurufen, um ihr zu sagen, dass ich kommen würde, doch sie meldete sich nicht. Ich hoffte, dass das nicht bedeutete, dass ihr etwas zugestoßen war. Und ich hoffte, dass das nicht hieß, dass sie zu betrunken war, um ans Telefon zu gehen. Aus Avalon zu verschwinden würde schon schwierig genug werden – auch ohne dass Alkohol im Spiel war.

Gegen elf Uhr hörte ich, wie Dad die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufging. Danach herrschte Stille.

Ich beschloss, nicht bis zur letzten Sekunde zu warten, ehe ich nach unten ging. Ich wollte Dad viel Zeit lassen, wieder einzuschlafen, falls ich ihn ungewollt aufweckte, wenn ich die Stufen hinunterschlich. Falls er kommen sollte, um nach mir zu sehen, würde ich ihm sagen, dass ich nicht einschlafen könne und mir daher einen Tee machen wolle.

Bevor ich mein Zimmer verließ, fischte ich den Anhänger aus dem Papierkorb – zu meinem Glück hatte Dad keine Haushälterin, die den Müll jeden Tag leerte. Einen Moment lang starrte ich die Kamee in meiner Hand an, dann legte ich mir die Kette mit dem Anhänger um den Hals. Zwar wollte ich rein gar nichts mit dem Sommerhof zu tun haben, aber die Kamee war auch ein Geschenk von meinem Dad. Falls mein Plan aufging, würde ich ihn wahrscheinlich nie mehr wiedersehen, doch wenigstens hätte ich dann etwas, das mich an ihn erinnerte.

Kein Lichtschimmer fiel unter der Tür von Dads Zimmer hindurch, als ich daran vorbeischlich, und keine der Stufen knarrte verräterisch, um ihn aufzuwecken. Als ich schließlich im Wohnzimmer stand, lauschte ich angestrengt auf irgendein Geräusch aus seinem Zimmer, aber im Haus war alles still.

Ohne das Licht einzuschalten, stand ich am Fenster und blickte in die Ferne. Oder zumindest versuchte ich es. Ein dichter Nebelschleier lag über dem Land am Fuße des Berges, und einige Nebelfetzen zogen durch die verlassenen Straßen. Den Mond oder die Sterne konnte ich nicht sehen. Während ich hinausstarrte, ging aus den Wolken, die ich ebenfalls nicht erkennen konnte, zusätzlich zu dem Nebel ein leichter Nieselregen nieder. Voller Vorfreude erzitterte ich.

Natürlich unternahm ich meinen Fluchtversuch nicht mit meinem Gepäck in der Hand oder meinem Rucksack auf dem Rücken. Zwar hasste ich es, alles zurücklassen zu müssen – vor allem meinen Computer –, doch mein Instinkt sagte mir, dass ich in dieser Nacht vielleicht um mein Leben würde rennen müssen, und ich konnte mir die zusätzliche Last nicht leisten.

Ich hatte einen der dicken Wollpullis angezogen, die ich auf meiner Shoppingtour erstanden hatte. Nach dem Angriff hatte ich meine Päckchen und Tüten in dem verwüsteten Laden zurückgelassen, aber Kimber hatte sie für mich mitgenommen und sie mir liefern lassen. Mein Hals war wie zugeschnürt, als ich sie auf die Liste der Leute setzte, die ich nach meiner Flucht aus Avalon wohl nie wiedersehen würde. Das, ermahnte ich mich selbst, war der Grund, warum ich so sehr versucht hatte, kein zu enges Verhältnis zu meinen Freunden aufzubauen: Es war viel schmerzlicher, gehen zu müssen, wenn man Gefühle investiert hatte.

Ich tat mein Bestes, um die düsteren Gedanken zu vertreiben, während ich aus dem Fenster blickte und auf Ethan wartete. Die Straßen waren gespenstisch verlassen. Ab und zu kam ein Auto vorbei, und einmal sah ich ein Pferd und einen Reiter, doch Fußgänger waren nicht unterwegs.

Was auch der Grund dafür war, dass ich Ethan sofort entdeckte, obwohl er im Schatten blieb und die Straßenlaternen mied. Mein Herz flatterte in meiner Brust, als ich ihn sah, aber ich redete mir ein, dass es nur meine Nerven waren und kein albernes Gefühl von Zuneigung.

Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass mir noch fünfzehn Minuten bis zur verabredeten Zeit blieben, doch ich sah keinen zwingenden Grund, noch länger zu warten, nachdem Ethan schon mal hier war. All meinen Mut zusammennehmend, holte ich tief Luft, hoffte, dass ich nicht gerade die schlechteste Entscheidung in der Geschichte der Menschheit traf, und schlich auf Zehenspitzen die Wendeltreppe in die Garage hinunter. Es wäre sicher okay gewesen, die Lichter einzuschalten, aber ich wollte kein Risiko eingehen.

Selbstverständlich war es in der Garage stockfinster, doch glücklicherweise standen nicht zu viele Sachen herum. Mich vortastend fand ich Dads Wagen und strich die Konturen des Autos entlang, um bis zum vorderen Tor zu gelangen – was mir sogar, ohne zu stolpern, gelang. Die Übungsmatten lagen noch immer auf dem Boden, bereit für meine nächste Unterrichtsstunde mit Keane; eine Stunde, die niemals stattfinden würde. Ich redete mir ein, dass es mir egal wäre. Keane war nur ein heißer Typ, der leider verdammt schlechte Manieren hatte. Möglicherweise hatte ich heute hinter seiner mürrischen Fassade einen Blick auf einen liebenswürdigeren Menschen erhascht. Mich mit ihm einzulassen wäre allerdings ein genauso schlimmer Fehler gewesen, wie der, mich mit Ethan eingelassen zu haben.

Leise und vorsichtig machte ich die Türschlösser auf. Mir fiel wieder ein, dass Finn gesagt hatte, mit dem Öffnen der Schlösser seien Dads Bannsprüche gebrochen. Ich hoffte nur, dass das Brechen der Zauber keinen Alarm auslöste.

Mit dem Schlimmsten rechnend, zog ich den Kopf ein, als ich die Tür aufzog, aber kein Schrillen einer Alarmanlage zerriss die Stille der Nacht. Ich holte tief Luft, atmete bedächtig aus und versuchte, meine angespannten Nerven zu beruhigen. Dann schlüpfte ich aus dem Haus meines Vaters und machte die Tür hinter mir zu.

»Du bist zu früh«, erklang hinter mir Ethans Stimme, und ich musste mich zusammenreißen, um keinen Satz nach vorn zu machen und laut aufzuschreien.

Ich wirbelte zu ihm herum und schlug die Hand vor den Mund, um mein überraschtes Aufkeuchen zu dämpfen. Als ich ihn vorhin zum letzten Mal gesehen hatte, hatte er ein Stück die Straße hinunter in einer kleinen Allee herumgelungert. Ich hatte angenommen, dass er dort auf mich warten würde.

Ethan grinste mich an. Es war ein Grinsen, bei dem mein Magen einen Purzelbaum schlagen wollte. Heute war er ganz in Schwarz gekleidet – vermutlich angemessen, wenn man in den dunklen Gassen herumschlich – und hatte seine langen Haare im Nacken zusammengebunden. Nicht direkt der »Rambo-Stil«, trotzdem finster genug, um mir einen unheilverkündenden Schauer über den Rücken zu jagen.

»Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe«, sagte Ethan, auch wenn ich vermutete, dass er es mit voller Absicht getan hatte. Idiot.

Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah ich ihn an. »Ja, was ich heute Nacht vorhabe, ist ja noch nicht beängstigend genug, also sind solche Streiche eine fabelhafte Idee.«

Seine Reue wirkte jetzt etwas aufrichtiger, doch er entschuldigte sich nicht noch einmal. »Komm schon, lass uns gehen. Wohin wollen wir überhaupt?«

»Zum Hilton. Wo auch immer das sein mag.«

Ethan runzelte die Stirn. »Ein Auto wäre gut«, erwiderte er. »Das wird ein ziemlicher Fußmarsch.«

Na toll. Wenigstens hatte ich bequeme Schuhe an. »Den Berg rauf oder runter?«, fragte ich und betete, dass er die richtige Antwort geben würde.

»Runter.«

»Puh.« Ich versuchte, mir einzureden, dass das ein gutes Zeichen war und dass es bedeutete, dass das Schicksal auf meiner Seite war. »Dann geh du voraus.«

Der Nieselregen, den ich aus Dads Fenster bemerkt hatte, wurde zu einem leichten Regen, als wir losgingen. Natürlich hatte ich keinen Schirm dabei, ebenso wenig wie Ethan. Der Wollpullover hielt mich im Moment noch trocken, aber trotzdem war mir jetzt schon kalt. Ich ballte die Hände zu Fäusten und zog sie in die Ärmel des Pullis, um sie zu wärmen.

»Wenn das hier der Sommer ist«, brummte ich, »will ich euren Winter gar nicht erst kennenlernen.«

Zu meinem Entsetzen legte Ethan seinen Arm um meine Schultern und zog mich an sich, um seine Wärme mit mir zu teilen. Ich wusste, dass ich mich eigentlich nicht von ihm berühren lassen sollte – nicht nach allem, was ich über ihn erfahren hatte. Es lag mir auf der Zunge, ihm zu sagen, dass er seine Finger bei sich behalten solle. Doch er war so warm. Und er nutzte die Geste nicht als eine Art Anmache. Er sah mich nicht einmal an, sondern ging einfach nur weiter, als wäre es etwas so Selbstverständliches, den Arm um mich zu legen, dass ihm nicht in den Sinn kam, ich könne etwas dagegen haben.

Wenn alles gut ging, würde ich schon morgen aus Avalon verschwunden sein und Ethan nie mehr wiedersehen. Was machte es also, wenn ich ihm verwirrende Signale sendete? Was machte es, wenn ich so tat, als würde ich ihm verzeihen, auch wenn ich es in Wirklichkeit gar nicht tat? Seine Wärme vertrieb die Kälte, und so eine Gelegenheit sollte man nutzen. Also schlang ich meinen Arm um seine Taille, um uns das Laufen zu erleichtern. Keiner von uns verlor ein Wort darüber.

Nur fürs Protokoll: In Avalon zu Fuß unterwegs zu sein ist ätzend. Zumindest, wenn man versucht, den Berg hinauf- oder hinunterzulaufen, denn die Straße schlängelt sich den Berg entlang. Das heißt, selbst wenn das Ziel nur ein paar hundert Meter von einem entfernt liegt, muss man der gewundenen Straße um den Berg herum folgen, um dorthin zu gelangen.

Ab und zu gab es eine Treppe, über die wir von einer Ebene der Straße zur anderen abkürzen konnten, doch für meinen Geschmack viel zu selten.

Meine Knie und Knöchel sagten mir, dass es nicht unbedingt leichter war, eine ganze Weile den Berg hinunter- als hinaufzulaufen. Es verursachte nur eine andere Art von Schmerz. Hinzu kam, dass der stetige Regen meine Schuhe und Socken mittlerweile durchnässt hatte, so dass meine Füße zu Eisklötzen geworden waren.

Das Hotel lag am Fuße des Berges, in Sichtweite des Südtores. Der moderne Stil des Hilton passte irgendwie nicht zu den imposanten Gebäuden aus Ziegel und Stein, die das Hotel umgaben. An einer Seite gab es sogar ein mehrstöckiges Parkhaus.

Ethan und ich sahen inzwischen bestimmt schon ziemlich schmuddelig aus, und ich weiß, dass zumindest ich echt erschöpft war.

Ich brachte es nicht übers Herz, Ethan zu bitten, draußen auf mich zu warten, doch ich wollte ihn nicht mit hoch in das Zimmer meiner Mutter nehmen.

»Sie ist etwas empfindlich, was Feen angeht«, erklärte ich ihm auf dem Weg in die Lobby. »Es wird auch so schon ein ziemliches Drama werden. Ich möchte nicht, dass sie total hysterisch wird, weil du dabei bist.«

Ethan gefiel es zwar nicht – ich denke, er fürchtete, dass ich versuchen könnte, ihn loszuwerden –, aber da ich mich weigerte, mit ihm zusammen in den Aufzug zu steigen, gab er schließlich auf und war einverstanden, in der Lobby auf mich zu warten.

»Wenn du in fünfzehn Minuten nicht wieder hier unten bist, komme ich nach oben, um dich zu holen«, warnte er mich.

»Okay«, erwiderte ich, um ihn endlich vom Hals zu haben. Es würde allerdings ein bisschen kompliziert für ihn werden, mich zu holen, wenn er nicht einmal wusste, welches Zimmer meine Mutter hatte …

Ich war nicht überrascht, als Mom nicht sofort die Tür öffnete. Es war immerhin mitten in der Nacht. Außerdem hatte sie keinen meiner Anrufe entgegengenommen, also warum sollte ich annehmen, dass sie an die Tür kommen würde?

Ich klopfte etwas kräftiger und hoffte, dass ich keinen der anderen Gäste auf dem Flur aufweckte. »Mom?«, rief ich laut genug, um die berechtigte Hoffnung haben zu können, gehört zu werden, andererseits jedoch niemand anderen zu stören. Wenn sie vollkommen betrunken ins Bett gefallen war, würde es eine ernsthafte Herausforderung werden, sie zu wecken.

Noch immer nichts, obwohl ich glaubte, hinter der Tür ein Rascheln bemerkt zu haben. Ich klopfte wieder, und dieses Mal war ich mir sicher, jemanden gehört zu haben.

»Mom? Ich bin’s.« Als wüsste sie das nicht. Wer sonst sollte sie »Mom« nennen?

Sie murmelte etwas Unzusammenhängendes. Erleichtert atmete ich auf – zum einen, weil sie wach war, und zum anderen, weil die Bösen sie anscheinend nicht erwischt hatten. Ich klopfte noch einmal, um sicherzugehen, dass sie es nicht doch nur für einen Traum hielt und sich wieder hinlegte. Wieder sagte sie etwas – vermutlich »Ich komme!« –, und dann hörte ich Schritte, die sich der Tür näherten.

In dem Moment begann meine Haut zu kribbeln, und die Kamee, die ich in den Ausschnitt meines T-Shirts gesteckt hatte, wurde immer wärmer. Als sich die Tür zum Zimmer meiner Mom öffnete, wurde mir bewusst, was die Zeichen bedeuteten. Aber es war zu spät.

Jemand stieß mich mit Wucht von hinten an, und ich flog durch die Tür in das Hotelzimmer. Unsanft prallte ich mit Mom zusammen, und wir landeten auf dem Boden. Als es mir gelungen war, von meiner Mutter herunterzurollen und mich wieder aufzurappeln, hatte jemand die Tür geschlossen und das Licht angeschaltet.

Vor Grauen zog sich mein Magen zusammen, als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer mich gerade überfallen hatte.

Tante Grace stand vor der Tür und wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. Neben ihr schwebte ein körperloser Arm in der Luft und hielt eine Waffe auf Mom gerichtet. Auf dem Boden unter dem Arm – an der Stelle, wo man die Füße einer Person erwartet hätte – bemerkte ich ein Paar Schuhe, das ich mit offenem Mund anstarrte. Grace lachte und griff scheinbar ins Nichts. Im nächsten Augenblick entpuppten sich der Arm und die Schuhe als Teile eines kleinen, menschlich aussehenden Mannes, der einen schwarzen Umhang mit Kapuze trug. Einen Umhang, wie ihn auch Tante Grace übergestreift hatte.

»Die Umhänge funktionieren nur, wenn man die Kapuze aufgesetzt hat«, erklärte Tante Grace, als würden wir eine nette Unterhaltung führen. »Und sie verbergen auch nur, was sich unter dem Stoff befindet, also muss man seine Gliedmaßen unter dem Umhang haben, um vollkommen unsichtbar zu sein. Die Mäntel haben mich ein kleines Vermögen gekostet, aber das waren sie wert.«

Mir fiel keine schlaue und geistreiche Erwiderung ein, also stand ich nur da, blickte die Pistole an und hoffte, dass Graces Freund keinen nervösen Finger hatte. Ich schluckte schwer und wünschte mir, ich hätte Ethan doch mitgenommen. Andererseits bezweifelte ich, dass Ethan Grace gewachsen gewesen wäre – ganz sicher jedenfalls nicht der Waffe.

»Was willst du?«, fragte ich und war überrascht, dass ich beinahe ruhig klang. Mein Puls raste, und ich war in Schweiß ausgebrochen, was übrigens nichts mit der Temperatur zu tun hatte, doch meiner Stimme merkte man nichts an.

Grace hob eine ihrer anmutig geschwungenen Augenbrauen. »Weißt du das nicht, meine Liebe?«, fragte sie mit einem süßlichen Lächeln.

»Du willst deinen eigenen kleinen Faeriewalker. Tja, dann lass dir gesagt sein, dass deine Methoden, mich für dich zu gewinnen, mich nicht gerade umwerfen.« O Mann, das klang ziemlich mutig. Und wenn meine Hände nicht so gezittert hätten, dann hätte Tante Grace vielleicht glauben können, dass ich so mutig war, wie ich mich anhörte.

Sie warf mir einen Blick zu, bei dem mir das Blut in den Adern gefror. »Offensichtlich hat deine Mutter dir keine Manieren beigebracht.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust – eher, um meine zitternden Hände zu verstecken, als um trotzig zu wirken. »Augenscheinlich hat deine Mutter das bei dir auch versäumt. Oder hältst du es für höflich, die eigene Nichte zu entführen?«

Grace bewegte sich so schnell, dass ich sie nicht hätte aufhalten können, selbst wenn ich es versucht hätte. Ihre Hand flog auf mein Gesicht zu und landete mit einem schallenden Klatschen auf meiner Wange. Ich keuchte auf, und Tränen schossen mir in die Augen. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte ich gerade einen Zusammenstoß mit einem Lkw gehabt.

Ich schluckte die Tränen so gut wie möglich hinunter, biss die Zähne zusammen und befahl mir, nicht über so eine kleine Ohrfeige zu weinen. Ich dachte daran, welche Schmerzen Finn bei seiner Begegnung mit den Rittern hatte erleiden müssen. Wenn er das hatte aushalten können, ohne sich zu beklagen, dann konnte ich mich auch zusammenreißen, um Grace nicht die Genugtuung zu bereiten, mich weinen zu sehen.

»Das wollte ich schon lange tun – fast seit dem Moment, als du zum ersten Mal den Mund aufgemacht hast«, knurrte sie. »Und ich wiederhole es nur zu gern, falls du noch ein paar bissige Bemerkungen mehr auf Lager hast.«

Es gelang mir, meine Tränen zurückzuhalten, und ich legte auch nicht meine Hand auf meine schmerzende, brennende Wange. Allerdings war ich nicht scharf auf eine Wiederholung, also hielt ich den Mund.

»Kirk«, sagte Tante Grace zu ihrem Handlanger und gab ihm ein Zeichen, zu Mom zu gehen, die langsam wieder zu sich kam.

»Fass sie nicht an!«, schrie ich, als er sich zu ihr herunterbeugte. Doch er beachtete mich gar nicht, und da er eine Waffe in der Hand hielt, wagte ich es nicht, mich auf ihn zu stürzen. Keanes kunstvolle Aktionen waren nutzlos, wenn der Gegner eine Waffe hatte – und eine Geisel.

Kirk packte meine Mom und stieß sie aufs Bett. Sie gab ein überraschtes kleines »Hä?« von sich, aber sie war noch immer nicht bei sich. Kirk steckte die Pistole in den Gürtel, drehte meine Mom auf den Bauch und fesselte ihre Hände hinter ihrem Rücken. Als er fertig war, zog er die Waffe wieder aus seinem Gürtel und hielt meiner Mutter die Mündung an den Kopf.

»Wir beide werden jetzt einen kleinen Spaziergang machen, meine Liebe«, sagte Tante Grace zu mir und ergriff meinen Arm. »Benimm dich, und deiner Mutter wird nichts passieren.« Mit der anderen Hand zog sie ein Handy aus der Handtasche, die sie sich diagonal um den Körper geschlungen hatte, und wählte eine Nummer.

»Cathy Hathaways Zimmer, bitte«, sagte sie freundlich, als sich jemand meldete.

Das Telefon im Zimmer klingelte. Kirk nahm den Hörer auf und legte ihn auf das Nachttischchen.

»Könnt ihr mich verstehen?«, fragte Grace, und wir alle konnten ihre Stimme aus dem Zimmertelefon schnarren hören. »Perfekt!«

Sie schob mich zur Tür und fuchtelte mit ihrem Handy herum. »Wenn ich den Befehl erteile oder wenn die Verbindung unterbrochen wird, schießt Kirk deiner Mutter in den Kopf. Glaub nicht, dass er nicht tun wird, was man ihm befiehlt – er ist ein Profi. Also wirst du jederzeit genau das tun, was ich dir sage. Verstanden?«

Ich blickte zu meiner Mutter, die gefesselt, mit dem Gesicht nach unten und einer Pistolenmündung am Kopf auf dem Bett lag. Sie war vollkommen hilflos, und dieses Mal konnte ich es nicht auf den Alkohol schieben. Wenn sie nüchtern gewesen wäre, hätte sie in demselben Schlamassel gesteckt. Und es wäre noch immer meine Schuld.

»Ich habe verstanden«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, denn ich glaubte nicht, dass Tante Grace ein stummes Nicken gereicht hätte. In ihren Augen funkelte ein beinahe irres Licht. Ich fragte mich, ob sie nachweisbar verrückt oder ob ihr die Macht nur zu Kopf gestiegen war. Wie auch immer – es jagte mir eine Heidenangst ein.

Nach einem letzten Blick zu Mom öffnete ich die Tür und trat in den Flur hinaus. Was auch immer Grace vorhatte, ich würde es tun müssen. Und dann konnte ich nur hoffen und beten, dass sie meine Mutter freiließ.

Aber wird sie das tun?, flüsterte eine gehässige kleine Stimme in meinem Kopf. Warum sollte sie die Zeugin nicht ausschalten, wenn sie mich dort hatte, wo sie mich haben wollte? Ich hielt Tante Grace für wahnsinnig – oder böse – genug, um das zu tun. Doch wie sollte ich sie davon abhalten?

Hektisch überlegte ich, als wir schweigend auf den Aufzug warteten. Ich konnte es nicht ertragen, sie anzusehen, und erst recht nicht, mit ihr zu reden.

Das Schlimmste war, dass Ethan in der Lobby auf mich wartete. Ich hätte ja darauf hoffen können, dass er meinen Retter in der Not spielte, aber er wusste nicht, in was für einer bedrohlichen Lage meine Mom sich befand. Wenn er in dieser Situation etwas Heldenhaftes tat, um mich aus Graces Fängen zu befreien, brachte er damit unwissentlich meine Mom in tödliche Gefahr.

Ich zitterte und war mit Sicherheit leichenblass, als wir kurz darauf aus dem Lift in die Lobby traten. Doch obwohl ich mich verstohlen nach Ethan umsah und hoffte, ihm ein Zeichen geben zu können, sich zurückzuziehen, konnte ich ihn nicht entdecken.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Einerseits bedeutete das, dass keine Heldentat Mom umbringen würde. Andererseits … bedeutete das allerdings auch, dass keine Heldentat mich aus der Gewalt von Tante Grace befreien würde.

Der Portier warf mir einen überraschten Blick zu, als ich mit Tante Grace zusammen das Hotel verließ. Ich bin mir sicher, dass er sich daran erinnerte, Ethan und mir die Tür aufgehalten zu haben, und wahrscheinlich fand er es seltsam, dass ich mit einer anderen Person das Gebäude verließ – und dabei völlig verängstigt aussah. Aber Grace sah ihn nur an, und mit einem Schlag schien er das Interesse an uns verloren zu haben. Die Kamee war nicht heiß geworden, also hatte ihr einschüchternder Blick offensichtlich gereicht.

»Nach rechts«, befahl Tante Grace, und ich gehorchte.

»Also, wohin gehen wir?«, fand ich schließlich den Mut zu fragen.

Grace ließ ein hinterhältiges kleines Lächeln aufblitzen. »Nach Faerie.«

Ich war so schockiert und entsetzt, dass ich abrupt stehen blieb. »Das kann nicht dein Ernst sein!«

Sie blickte mich mit ihren kalten blauen Augen an. »Sehe ich aus, als würde ich Scherze machen? Jetzt beweg dich, oder ich gebe Kirk das Startsignal, etwas Spaß mit deiner Mutter zu haben. Und du kannst dabei zuhören.«

Mein Kopf schwirrte, und einen Moment lang fürchtete ich, ohnmächtig zu werden. Ich zwang mich, nicht über Graces Drohung nachzudenken und stattdessen einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Warum gehen wir nach Faerie?«, brachte ich als ersticktes Flüstern hervor, obwohl ich schon eine Ahnung hatte. Eine furchtbare, erschreckende, unglaubliche Ahnung.

»Seamus hat uns – also Alistair und mir – erzählt, was mit deinem Ritter passiert ist. Und Alistair hat mir gesagt, was mit den Spriggans los war. Die beiden irren sich gewaltig, wenn sie glauben, dass wir dich schützen und irgendwann deine Kräfte für unsere eigenen Zwecke nutzen können.« Sie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Als könnten wir, selbst wenn wir zu dritt sind, beiden Königinnen von Faerie einen Strich durch die Rechnung machen.«

Ich ging etwas langsamer, in der Hoffnung das Unvermeidliche etwas hinauszuzögern, doch Grace gab mir einen kleinen Stoß, damit ich mich beeilte.

»Wenn die Königinnen deinen Tod wünschen, dann wirst du sterben«, sagte sie. »Faeriewalker werden nicht jeden Tag geboren, und es wäre eine Schande, deine einzigartigen Kräfte nicht zu nutzen, solange du noch unter den Lebenden weilst.«

Jetzt war ich mir sicher, was sie vorhatte, auch wenn es noch so unglaublich klang. Aber ich musste hören, wie sie es aussprach, um es tatsächlich glauben zu können, also drängte ich weiter.

»Also, warum gehen wir nach Faerie?«

Das Telefon in der einen Hand, griff Grace in ihre Tasche und öffnete sie gerade weit genug, damit ich einen Blick auf die Waffe werfen konnte, die sie darin versteckt hatte. Ich wusste nichts über Waffen, doch sogar ich sah, dass sie ein übles Teil war und so gewaltig, dass sie kaum in die große Handtasche passte.

»Die Feen sind schwierig umzubringen«, sagte sie. »Vor allem in Faerie, wo reines Eisen nicht existiert.«

Jep, sie war so verrückt, wie ich vermutet hatte.

»Dieses kleine Baby«, sagte sie und tätschelte die Waffe in ihrer Tasche, »würde, auch wenn sie nicht aus reinem Eisen besteht, in Faerie nicht funktionieren. Aber wenn die Pistole in der Hand eines Faeriewalkers ist – oder in der Hand von jemandem, der sich in der Aura eines Faeriewalkers aufhält –, kann sie abgefeuert werden. Und selbst eine Königin Faeries kann durch eine Kugel in den Kopf umgebracht werden.«

»Du willst eine der Königinnen ermorden«, stieß ich fassungslos hervor.

»Ich könnte versuchen, beide zu erwischen«, überlegte sie. »Ich habe die Macht, Titanias Thron zu halten, wenn es mir gelingt, ihn zu besteigen. Vielleicht wird meine erste offizielle Handlung als Königin des Sommerhofes dann sein, Mab zu beseitigen. Ich bin nicht so anmaßend zu glauben, dass ich beide Häuser regieren könnte. Doch wenn Mab erst tot ist, wird der Thronfolger des Winterhofes mit Sicherheit weniger mächtig sein, und das würde eine Zusammenarbeit enorm erleichtern.« Grace warf mir ein böses Lächeln zu. »Und mit dir an meiner Seite würde niemand es jemals wagen, mich zu bedrohen. Ich werde für immer Königin sein!«

Nein, sie war überhaupt nicht anmaßend. Ich hatte ehrlich keine Ahnung, ob die Welt ein besserer Ort sein würde, wenn ihr Vorhaben gelang oder wenn sie scheiterte. Mir war nur bewusst, dass mir allmählich nicht mehr viel Zeit blieb, um mir einen grandiosen Fluchtplan zurechtzulegen. Denn wir mussten nur noch ein paar hundert Meter zurücklegen, bis wir die Brücke erreichen und den Graben zum Südtor überqueren würden.