17. Kapitel
Mein Frustshoppen war nicht so erfolgreich gewesen, wie ich es mir erhofft hatte. Die einzige Ausbeute meiner Einkaufstour war die einzelne kleine Tüte von Victoria’s Secret. Doch obwohl mein Instinkt mir sagte, dass Dad nicht glücklich darüber sein würde, dass ich so wenig mit seinem Geschenk angefangen hatte, war ich nach der Unterhaltung mit Ethan nicht in der Stimmung gewesen, einfach so weiterzumachen, als wäre nichts gewesen. Und außerdem hatte mir das Shoppen sowieso nicht so viel Spaß gemacht.
Ich war mir sicher, dass Finn mich nach dem Gespräch mit Ethan fragen würde – vor allem nach dem feuchten Ausgang –, aber er verlor kein Wort darüber. An seinen sozialen Fähigkeiten musste er noch ein bisschen arbeiten. Andererseits war ich nicht versessen darauf, darüber zu sprechen, also kam mir das Schweigen nicht ungelegen.
Finn brachte mich zurück zum Haus meines Vaters. Ich dachte, er würde mich dort nur absetzen, weil das Haus laut Dad ja völlig sicher war, doch er ging mit mir hinein.
»Falls du später vielleicht noch mal rausgehen möchtest«, sagte er, was für seine Verhältnisse schon der reinste Vortrag gewesen war.
Es war eine einleuchtende Erklärung, aber ich fragte mich trotzdem, ob er auch als mein Gefängniswärter angestellt war. Also versuchte ich, es herauszufinden.
»Ich bin todmüde«, sagte ich. »Ich glaube kaum, dass ich heute noch mal das Haus verlasse. Jedenfalls nicht, solange Dad noch nicht wieder da ist.«
Er zuckte mit den kräftigen Schultern. »Ich bin da, falls du es dir anders überlegen solltest.«
»Können Sie mir nicht einfach eine Telefonnummer geben? Ich kann Sie dann ja anrufen, falls ich raus möchte, und Sie müssen sich nicht den Nachmittag um die Ohren schlagen und hier im Haus herumsitzen.«
»Das ist mein Job«, erwiderte er.
Jep. Er hatte definitiv das Zeug zum Gefängniswärter. »Kann ich irgendetwas sagen, damit Sie gehen?«, fragte ich. »Weil ich dringend etwas Zeit für mich allein brauche.«
»Ich kann auch in der Garage warten, wenn meine Anwesenheit dich stört.«
Die Garage, durch die ich praktischerweise gehen musste, wenn ich das Haus verlassen wollte. Nicht, dass ich das Haus verlassen wollte – jedenfalls nicht, wenn es da draußen möglicherweise Leute gab, die mich umbringen wollten. Ich bin nicht der Hohlkopf aus dreitausend Geschichten über Bodyguards, der denkt: »Meine Güte, jemand versucht, mich umzubringen. Warum lasse ich nicht meine Bodyguards stehen, damit ich ein hübsches, einladendes Ziel abgebe …« Ich wollte einfach nur wissen, dass ich gehen könnte, wenn ich es wollte.
Ich hatte viele Wünsche gehabt, seit ich nach Avalon gekommen war. Doch bisher hatte sich noch nicht einer davon erfüllt.
Ich war fast schlecht gelaunt genug, um Finn tatsächlich in die Garage zu verbannen, aber ich wusste, dass ich ungerecht war. Wie er gesagt hatte, machte er nur seine Arbeit. Es war nicht seine Schuld, dass mir das nicht gefiel.
»Gut!«, sagte ich schmollend. Ich schnappte mir meine Tüte von Victoria’s Secret und verschaffte mir einen großen Abgang, indem ich wütend die Treppe zu meinem Zimmer hinaufstapfte. Kindisch, ich weiß, doch ich fand, dass ich das Recht dazu hatte.
Es gab ein Telefon in meinem Zimmer, also unternahm ich einen weiteren Versuch, meine Mom anzurufen. Ich wusste nicht genau, was ich ihr sagen sollte; vor allem, nachdem ich erfahren hatte, warum sie trank. Aber alles, was mir bisher in Avalon passiert war, erschien mir so unwirklich. Und die Vorstellung, mich mit der Wirklichkeit in Verbindung zu setzen – auch wenn es die deprimierende Realität meiner Mutter und ihrer Alkoholsucht war –, kam mir sehr reizvoll vor.
Doch wieder erwischte ich nur den Anrufbeantworter. Da ich nicht wusste, was für eine Nachricht ich hinterlassen sollte, legte ich auf.
Ich war mir sicher, dass ich den Rest des Nachmittags mit Grübeln verbringen würde, wenn ich mich nicht beschäftigte, also schloss ich meinen Laptop an und begann endlich damit, eines der unanständigen Bücher zu lesen, die ich heruntergeladen hatte. Aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Sobald eine Szene auch nur anfing, entfernt heiß und sexy zu werden, ertappte ich mich dabei, wie ich mir das Gefühl von Ethans Lippen auf meinen vorstellte, die Wärme seines Körpers, als er sich über mich gebeugt hatte. Was direkt zu der Erinnerung führte, wie er mich belogen und betrogen hatte.
Die Abwärtsspirale Richtung Elend wurde durch den Klang der Türklingel unterbrochen. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte ich, es wäre Ethan, der kam, um vor mir auf die Knie zu fallen und mich um Verzeihung zu bitten. Doch ich würde ihm niemals verzeihen. Und auch wenn es befriedigend sein mochte, ihn kriechen zu sehen, konnte ich es jetzt gerade nicht ertragen, ihm gegenüberzutreten.
Die Holztreppe knarrte, als sich jemand näherte, und kurz darauf erschien Finn in der Tür. Er hatte sein Jackett, seine Krawatte und auch seine Sonnenbrille abgelegt, und ich dachte nur noch … wow! Wenn er ohne seine Secret-Service-Mann-Verkleidung herumlief, war er eine echte Gefahr, denn jede Frau hinter dem Steuer eines Autos vergaß bei seinem Anblick glatt, auf die Straße zu schauen. Wenn da nicht die Schrägstellung der Augen gewesen wäre, dann wäre er sicher der erste Anwärter für den nächsten James-Bond-Film gewesen.
»Du hast Besuch«, sagte er, und ich musste mir ein albernes Kichern verkneifen, denn sein Akzent war so britisch, dass ich unvermittelt denken musste: »Bond. James Bond.«
»Falls es Ethan sein sollte, können Sie ihm ausrichten, dass er es vergessen kann«, entgegnete ich, und der Drang zu lachen war schlagartig verschwunden.
Finn schüttelte den Kopf. »Es ist Kimber. Aber wenn du nicht mit ihr sprechen willst, ist das durchaus verständlich. Dann schicke ich sie weg.«
Vielleicht wäre es richtig gewesen, sie abzuweisen. Sie hatte mich noch schlimmer enttäuscht und verletzt als Ethan – schon allein, weil ich ihr gegenüber meinen Selbstschutz aufgegeben und ihr vertraut hatte, während ich bei Ethan immer misstrauisch geblieben war. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, nur daran zu denken, wie sie mich belogen hatte. Und trotzdem … Als wir gestern gemeinsam in ihrem Zimmer gesessen hatten, hatte ich einen verlockenden Blick darauf bekommen, wie es sein konnte, eine richtige Freundin zu haben, eine Freundin, vor der ich nichts verbergen musste. Und es hatte mir gefallen. Sehr sogar.
Ich wusste nicht, ob ich bereit war, ihr zu vergeben – angenommen, sie mochte mich wirklich und wollte Vergebung –, doch ich würde es nie erfahren, wenn ich nicht mit ihr sprach. Im Übrigen hatte ich Ethan am Nachmittag auch angehört. Es war also nur gerecht, wenn ich Kimber die gleiche Chance bot.
»Ich komme gleich runter«, sagte ich zu Finn, und er nickte.
Ich atmete ein paarmal tief durch, während ich lauschte, wie sich seine Schritte entfernten. Dann nahm ich meinen ganzen Mut und meine Würde zusammen und machte mich auf den Weg ins Wohnzimmer.
Kimber saß steif auf der Couch, als ich aus dem Treppenflur trat. Ich sah mich nach Finn um, konnte ihn aber nirgends entdecken.
»Er ist unten«, sagte Kimber, stand auf und wandte sich mir zu.
Ich war erleichtert, dass wir diese Szene nicht vor Publikum geben mussten, obwohl mir die Vorstellung missfiel, dass Finn in der Garage herumhängen musste. Ich ging mit vor der Brust verschränkten Armen auf Kimber zu, das Kinn trotzig vorgeschoben. Kimber starrte einen Moment lang ihre Füße an, ehe sie den Mut fand, meinen Blick zu erwidern.
»Mein Vater hat mich schwören lassen, dir nichts zu erzählen«, sagte sie unglücklich. »Zuerst hat es nicht so ausgesehen, als würden wir irgendetwas furchtbar Falsches machen. Wir haben dich nur von Grace weggeholt und waren nett. Ich habe mir eingeredet, dass daran nichts Schlimmes wäre. Doch dann fing Ethan an zu flirten, und mir wurde bewusst, dass mehr hinter dem Plan steckte, als nur ›nett‹ zu sein.«
Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Ja, denn warum sonst sollte ein Typ wie er ein Mädchen wie mich eines zweiten Blickes würdigen, oder?«, fragte ich und zuckte beinahe zusammen, als mir die Bitterkeit in meiner Stimme auffiel. Ich erinnerte mich zum x-ten Mal daran, dass ich von Anfang an gewusst hatte, dass Ethans Interesse an mir zu gut war, um wahr zu sein.
Kimbers Augen weiteten sich. »So habe ich das nicht gemeint!«
»Nicht? Wieso warst du dir sonst so sicher, dass das alles Teil eurer großen Verschwörung war?«
Kimber sank auf die Couch, und sie wirkte so verletzt, dass es mir schwerfiel, mich an die Schneekönigin zu erinnern, als die ich sie zuerst kennengelernt hatte.
»So war das nicht«, sagte sie, und ich hätte schwören können, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Ich bin einfach nur zynisch, und es war zu … offensichtlich passend, dass er dir unter den Umständen ›zufällig‹ verfallen ist.«
Ich seufzte laut. »Von einer Zynikerin zur anderen: Verrate mir mal, warum ich dir irgendetwas glauben sollte?«
Sie sah mich an, und in ihren hübschen Augen schimmerten Tränen. »Mir fällt kein guter Grund ein, warum du mir glauben solltest«, sagte sie schniefend. »Aber ich wünschte, du würdest es trotzdem tun. Ich habe es gehasst, dich anlügen zu müssen, doch Dad wäre echt sauer geworden, wenn ich nicht gehorcht hätte … Ethan kann in seinen Augen nichts falsch machen, aber bei mir sieht das anders aus.«
»Du hast behauptet, mein Dad wäre noch immer im Gefängnis, obwohl er schon längst draußen war.«
Sie nickte. »Mein Vater hat von mir verlangt, das zu sagen. Ich habe mich mit ihm darüber gestritten. Du solltest irgendwann selbst herausfinden, dass wir gelogen haben, und ich sagte ihm, dass es jeden guten Eindruck, den wir gemacht haben könnten, zunichtemachen würde. Aber er hat nicht auf mich gehört.« Eine einzelne Träne quoll aus ihrem Augenwinkel, und sie wischte sie ungeduldig weg. »Tut mir leid«, sagte sie und schniefte wieder. »Ich habe nicht das Recht zu weinen, denn immerhin bist du diejenige, die verletzt wurde.«
Doch es war klar, dass das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen, für Kimber ebenfalls nicht leicht gewesen war. »Du bekommst jedenfalls zumindest Pluspunkte dafür, dass du mich vor Ethan warnen wolltest«, sagte ich zu ihr. Und obwohl sie mein Vertrauen auch enttäuscht hatte, weil sie wegen meines Vaters gelogen hatte, konnte ich doch nicht vergessen, wie sie ganz ruhig und locker akzeptiert hatte, was immer mein beschämendstes Geheimnis gewesen war.
Mit einem kleinen Schrecken stellte ich fest, dass ich sie nicht verlieren wollte. Die Lüge würde vermutlich noch sehr lange Zeit ein wunder Punkt zwischen uns sein, aber ich wusste nicht, wie ich ohne eine Freundin in Avalon überleben sollte.
Nachdem ich meine Entscheidung getroffen hatte, blickte ich ihr in die Augen. »Wenn du versprichst, mich nie mehr anzulügen, können wir meinetwegen noch einmal von vorn anfangen.«
Sie warf mir aus großen Augen einen hoffnungsvollen Blick zu. »Echt?«
»Wir können es ja mal probieren.«
Ihr Lächeln war strahlend und ihre Erleichterung nicht zu übersehen. »Danke, dass du mir eine zweite Chance gibst«, sagte sie und überraschte mich, als sie mich im nächsten Moment überschwenglich umarmte. Als sie mich wieder losließ, wurde sie ernst. »Ich verschwinde besser, ehe dein Vater nach Hause kommt. Er ist vielleicht nicht so begeistert, mich im Augenblick hier zu sehen.«
Ich hoffte, dass Dad kein Problem sein würde. Er hatte schließlich gesagt, dass er mich nicht davon abhalten würde, mit Ethan zu sprechen, auch wenn es ihm nicht gefiel. Und das schien doch ein gutes Zeichen zu sein.
»Hast du morgen schon etwas vor?«, fragte ich. »Denn ich habe heute versucht, ein bisschen shoppen zu gehen, und allein hat das einfach keinen Spaß gemacht.«
Ihre Augen begannen zu strahlen. »Ooh! Shopping ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Und ich kann dir die besten Boutiquen zeigen.«
»Ich bin mir sicher, dass Finn uns dabei ständig auf die Finger schauen wird«, warnte ich sie.
Sie grinste vielsagend. »Wäre das denn so schlimm?«, witzelte sie. »Ich habe ihn mir genauer angesehen, bevor er mich reingelassen hat – und er ist wirklich lecker!«
»Das vergisst man aber schnell, wenn er den finsteren Secret-Service-Mann gibt«, erwiderte ich.
Kimber lächelte unbeirrt weiter. »Umso besser. Er kann unser kleines Geheimnis sein.«
Eine Last fiel mir von den Schultern, als ich ihr Grinsen erwiderte.
Mein Vater kam erst nach sieben nach Hause. Zu dem Zeitpunkt war das Mittagessen schon längst Geschichte. Mit anderen Worten: Ich kam um vor Hunger. Ich hatte angenommen, dass er mich zum Abendessen ausführen würde, doch ich war alles andere als enttäuscht, als ich nach unten kam und feststellte, dass er etwas vom Chinesen mitgebracht hatte. Juhu! Ich würde also noch früher etwas zu essen bekommen.
In Dads Haus gab es kein Esszimmer, aber er hatte einen kleinen runden Tisch mit zwei Stühlen in einer Ecke untergebracht, und dort aßen wir. Finn war gegangen, sobald Dad nach Hause gekommen war, also waren wir beide allein. Ich fand es irgendwie gemütlich, fast heimelig. Allerdings nur so lange, bis Dad anfing zu reden.
»Finn hat mir erzählt, dass du heute Nachmittag zufällig Ethan begegnet bist«, sagte er, und das Essen in meinem Mund schien sich in Asche zu verwandeln.
Ich schluckte und gab mir dann mental einen Tritt in den Hintern. Ich hätte wissen müssen, dass Finn meinem Dad einen vollständigen Bericht liefern würde; vor allem, nachdem Ethan einen so großen Wirbel darum veranstaltet hatte, mir etwas Wichtiges mitteilen zu müssen. Ich hätte heute Nachmittag ein bisschen Zeit damit verbringen sollen, mir zu überlegen, was ich meinem Dad sagen wollte – ich fürchtete, dass eine Todesdrohung mich noch mehr zu einer Gefangenen machen würde, als ich es ohnehin schon war –, doch natürlich hatte ich keinen Gedanken daran verschwenden wollen.
»Ja«, erwiderte ich und bemühte mich, lässig zu klingen, während ich mir noch einen Bissen von meinem Hühnchen süß-sauer in den Mund schob. Es schmeckte noch immer nach Asche, aber solange ich kaute, wurde wenigstens nicht von mir erwartet, etwas zu sagen.
Dad lehnte sich zurück, und ich konnte seinen Blick auf mir spüren, auch wenn ich stur auf meinen Teller starrte.
»Und?«, ermunterte er mich. »Möchtest du mir erzählen, was passiert ist? Ich habe gehört, er hätte dir etwas Dringendes zu sagen gehabt.«
Ich war nicht begierig darauf, Dad zu erzählen, was passiert war. Doch ich wollte auch nicht umgebracht werden, also war es wahrscheinlich keine gute Idee, meinem Vater die Sache zu verschweigen. Ich nahm einen Schluck Wasser, um das Hühnchen herunterzuspülen, und sammelte mich ein wenig.
»In der Nacht, als Ethan und Kimber mich aus Tante Graces Fängen befreit haben, sind wir von Spriggans angegriffen worden.« Distanziertheit der Feen hin oder her, Dad rang leise nach Luft. »Kimber dachte, sie wären hinter Ethan her, weil er so mächtig ist. Aber Ethan meinte, dass sie es auf mich abgesehen hätten.«
Ich hatte so viel ausgelassen, dass ein Lkw durch die Löcher in meiner Geschichte hätte fahren können. Fragt mich nicht, warum ich nicht erzählte, welche Rolle Ethan bei der Attacke gespielt hatte. Eigentlich war ich verletzt genug, um es ihm heimzahlen zu wollen, doch mein Instinkt hielt mich davon ab.
An Dads Miene konnte ich ablesen, dass er wusste, dass ich ihm nicht alles erzählte. Angespannt erwartete ich das unvermeidliche Verhör, aber zu meiner Überraschung ging er nicht näher darauf ein.
Er seufzte schwer und schob seinen Teller von sich. »Ich nehme an, ich habe es lange genug vor mir hergeschoben«, sagte er. »Es ist Zeit, über deine Situation als Faeriewalker zu sprechen.«
»Du sagst das, als wüsstest du, dass ich ein Faeriewalker bin.« Ich hatte ihm gegenüber noch kein Wort darüber verloren und mir überlegt, das ganze Thema erst einmal zu meiden, bis er von selbst die Sprache darauf brachte.
Er lächelte schief. »Es war ziemlich offensichtlich, als ich mit dir nach Hause gekommen bin. Du hast bisher noch keinen Blick aus dem Fenster geworfen. Die meisten Leute machen sofort eine Bemerkung über die tolle Aussicht, und heute war ein besonders schöner, sonniger Tag.«
»Vielleicht habe ich ja Höhenangst.«
Er verengte leicht die Augen. »Jetzt zier dich nicht.« Er blaffte mich nicht direkt an, doch ich hörte deutlich die Verärgerung in seiner Stimme. »Du kannst nach Faerie schauen.«
Ich zuckte mit den Schultern. Vermutlich zierte ich mich tatsächlich. Es kam mir vor, als wäre das alles nicht wahr, solange ich es nicht laut aussprach.
»Und Ethan und sein Untergrund haben dir erklärt, was das bedeutet?«, hakte er nach.
Noch ein Schulterzucken. »Um die Wahrheit zu sagen, scheint mir das alles keine große Sache zu sein. Jedenfalls nicht wichtig genug, um ein solches Riesendrama zu veranstalten.«
»Dann hast du noch nicht genug darüber nachgedacht.« Er war noch immer sauer auf mich, obwohl ich nicht genau wusste, warum eigentlich. »Wie gut kennst du dich in Geschichte aus?«
Die Frage erstaunte mich. Ich hatte keine Ahnung, was das jetzt mit der Unterhaltung zu tun hatte. »Sagen wir einfach, dass es in der Schule nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern zählt«, erwiderte ich – denn seien wir mal ehrlich: Geschichtsstunden sind langweilig, langweilig, langweilig.
»Typisch amerikanisch«, murmelte Dad leise. »Hast du schon mal was von Richard III. gehört?«
Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Ich habe gesagt, dass es nicht mein Lieblingsfach ist, aber ganz doof bin ich auch nicht.«
»Richard III. kam auf den Thron, als sein Bruder Edward IV. starb. Doch wofür er eigentlich bekannt ist, ist die mutmaßliche Ermordung der ›Prinzen im Tower‹, der Söhne seines Bruders.«
»Wie gesagt, ganz doof und unwissend bin ich nicht.« Ich konnte nicht behaupten, dass ich viel mehr wusste, als Dad gerade erzählt hatte, aber ich fand seinen Ton irgendwie herablassend.
Seine Augen waren wie blaue Speere, die mich aufspießten, und mir wurde klar, dass er es nicht gewohnt war, Widerworte zu bekommen. Tja, er würde sich daran gewöhnen müssen, falls ich bleiben sollte. Trotzdem war der Blick so einschüchternd, dass ich spürte, wie ich auf meinem Stuhl zusammensank.
»Ob Richard die Kinder nun hat ermorden lassen oder nicht, ist unter Historikern noch immer umstritten.«
Er hielt inne, wartete darauf, dass ich eine vorlaute Bemerkung machte, bereit, mich anzufahren, falls ich es tun sollte. Also hielt ich meinen Mund und fragte mich noch immer, was das alles mit Faeriewalkern zu tun hatte.
»Zu jener Zeit stand Avalon unter der Kontrolle der Menschen und wurde von den Königen Englands regiert. Es war eine Zeit großer Zwietracht für die britische Krone, denn die Häuser York und Lancaster kämpften um den Thron. Man kennt diese Fehde als Rosenkriege, und sie dauerten mehr als dreißig Jahre. Die Feen ergriffen in dem Streit Partei: Die Lichtfeen favorisierten York, und die Dunkelfeen unterstützten Lancaster.« Er warf mir ein bitteres Lächeln zu. »Erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, die Feen würden sich nicht ändern? Die Lichtfeen des Sommerhofes tragen bis zum heutigen Tag die weiße Rose des Hauses York und die Dunkelfeen des Winterhofes noch immer die rote Rose des Hauses Lancaster. Die Dunkelfeen zerstörten praktisch im Alleingang das Haus York, indem sie die ›Prinzen im Tower‹ entführten und Richard damit in erhebliche Schwierigkeiten brachten. Weil man ihn verdächtigte, die Kinder umgebracht zu haben, gelang es ihm nie, den Thron wirklich fest in der Hand zu haben, und als er im Kampf fiel, ging die Krone ans Haus Lancaster.«
Gut, man musste kein Genie sein, um zu ahnen, worauf Dad hinauswollte. Offensichtlich war ein Faeriewalker in die Angelegenheit verstrickt gewesen, obwohl ich nicht genau wusste, wie. Hochkonzentriert runzelte ich die Stirn.
»Also gibt es einen Zauberspruch, mit dem man Leute verschwinden lassen kann? Und ein Faeriewalker hat den Spruch in den Tower von London gebracht, und die Kinder – Simsalabim – weggezaubert?«
»Nein. Die Dunkelfeen haben einen Faeriewalker und einen Ritter des Winterhofes in die Welt der Sterblichen geschickt. Der Ritter hat eine Reihe von Verwirrungszaubern benutzt, so dass sie in den Tower eindringen und sich Zugang zu den Prinzen verschaffen konnten.«
»Einen Moment mal!«, sagte ich und setzte mich etwas aufrechter hin. »Ich dachte, die Faeriewalker können nur Magie in die Welt der Sterblichen bringen. Sie können auch Leute mitbringen?«
Dad nickte. »Den Faeriewalker umgibt eine Aura von Feenmagie. Wenn die Fee darauf achtet, in der Aura des Faeriewalkers zu bleiben, kann er – oder sie – in die Welt der Sterblichen gelangen, ohne dass die magischen Fähigkeiten darunter leiden. Genauso wie ein Faeriewalker einen Sterblichen mit funktionstüchtiger Technik nach Faerie bringen kann.«
»Das ist mit den Prinzen geschehen? Der Ritter und der Faeriewalker haben sie entführt und nach Faerie gebracht?«
»Ja.«
»Und was ist mit den Jungs passiert, als sie in Faerie waren?«
Dad sah düster und unglücklich aus. »Sterbliche können in Faerie nicht überleben. Jedenfalls nicht ohne die besondere Magie des Faeriewalkers, die sie beschützt. Der Faeriewalker ließ sie dort zurück, und sie starben. Beginnst du allmählich zu verstehen, warum es doch eine ›große Sache‹ ist, dass du ein Faeriewalker bist?«
Ja, so langsam wurde mir einiges klar. Kein Wunder, dass niemand mit Sicherheit wusste, was den Prinzen widerfahren war. Man hatte die Möglichkeit einer magischen Verschleppung nach Faerie nicht in Betracht gezogen.
»Einen Faeriewalker an der eigenen Seite zu haben ist ungefähr so, als wäre man in Besitz einer Nuklearwaffe. Auch wenn niemand vorhat, sie einzusetzen, ist die Bedrohung doch sehr wirkungsvoll. Grace wollte dich mit Gewalt auf ihre Seite bringen; Alistair wollte dich für sich gewinnen, indem seine Kinder sich bei dir eingeschmeichelt haben.«
Ich hob das Kinn. Es gefiel mir nicht, an Ethan erinnert zu werden. »Und du?«, fragte ich. »Wie willst du versuchen, mich auf deine Seite zu ziehen?«
Er lächelte mich an, beugte sich vor und legte seine Hand auf meine. »Indem ich einfach dein Vater bin. Indem ich dich beschütze und dich freundlich behandele. Und indem ich ehrlich zu dir bin.«
Behutsam zog ich meine Hand unter seiner hervor. Ich war noch nicht bereit für körperliche Zuneigungsbekundungen. »Deine Art gefällt mir eindeutig am besten«, murmelte ich leise.
Wieder lächelte er, und seine Augen funkelten. »Darauf habe ich gezählt.«
Als ich an diesem Abend ins Bett ging, war ich vorsichtig optimistisch. Ich fühlte mich auf jeden Fall sicherer, wohler und freier, als ich es getan hatte, seit ich Tante Grace zum ersten Mal begegnet war. Doch ich fragte mich auch, ob Dads Haltung mir gegenüber sich ändern würde, wenn ich nicht mehr das tat, was er von mir wollte. Würde er mich dann noch immer »freundlich« behandeln? Oder würde er seine Krallen ausfahren? Denn ich wusste, dass er die besaß, auch wenn er sie mir noch nicht gezeigt hatte.