62

 

Die Welt stand Kopf. Alles hatte sich ins Gegenteil verkehrt, nichts war mehr wie zuvor. Die Freundinnen fühlten den verhallenden Schrei des Jubels um sich herum, und es kam Bea so vor, als würde die Luft noch immer zittern und ihre Haut zum Schwingen bringen. Eine Vibration, wie sie nur von kollektiver Emotion ausgelöst werden kann, und nur in Kombination mit hohen Tönen, dachte sie. Das Gefühl rief den Moment in ihr wach, als Caro vor Jahren aus dem Koma erwacht war. Sie hatte einen Verkehrsunfall gehabt, und als sie die Augen aufschlug, hatten Bea, Lilly und Caros Mutter im Krankenhaus an ihrem Bett gesessen und vor Freude so laute und hohe Töne von sich gegeben, dass irgendein Alarmsignal losgegangen war. Unwillkürlich sah sie sich prüfend um, obwohl sie wusste, dass sich außer den Küchengeräten keine technischen Geräte in ihrer Nähe befanden.

»Wer sagt es ihnen?«, fragte Caro und vollführte in ihren Sneakern auf dem Küchenboden einen kurzen Hüpfer, ein Trockentuch in der Hand. Ihre Wangen glühten.

»Natürlich Bea«, antwortete Bruni, und Ulrike fragte: »Steht Sekt kalt?«

»Moment, ich schaue nach.« Bea öffnete die Kühlschranktür und entnahm dem Schrank zwei Flaschen Champagner.

»Wollen wir hoffen, dass sie nicht auf Reiswein bestehen«, grinste Caro und sagte: »Dann nichts wie hin.«

 

Bei den Wangs war es ruhig, nur Wang San befand sich im Gastraum ihres Restaurants. Er saß allein an einem Tisch am Fenster, den Kopf in beide Hände gestützt, vertieft in ein Buch.

»Du kannst aufhören, Trübsal zu blasen«, rief Bruni beim Hereinkommen mit glänzenden Augen und Caro und Bea schwenkten freudig mit hoch erhobenen Armen die Flaschen: »Es gibt einen Grund zu feiern«, frohlockte Caro. Mr. Fred und Sappho, die sie begleitet hatten, sprangen aufgeregt zwischen ihren Beinen hin und her.

»Ja?« Hoffnungsvoll, aber ihrer Aussage misstrauend, sah er auf. »Was gibt’s?«

»Ihr werdet euch wundern. Mach schnell, trommele die Familie zusammen«, grinste Caro verschmitzt und fragte: »Ist Wang Ai auch da?«

Wang San nickte.

»Nun mach schon«, trieb Bruni ihn an. »Hol sie alle her.«

Er erhob sich und verschwand. Nach wenigen Minuten kam er zurück, Vater und Mutter hinter sich, die Gesichter gespannt, nur Sekunden später folgten auch Mei Ling, die an diesem Tag frei hatte, und Wang Ai.

»Es gibt zwei gute Nachrichten. Welche wollt ihr zuerst hören?«, fragte Bea.

»Spann uns nicht unnötig auf die Folter«, erwiderte Mei Ling. »Schieß einfach los.« Den tadelnden Blick ihrer Mutter, der ihre Ausdrucksweise missfiel, ignorierte sie einfach.

»Vielleicht setzt ihr euch besser hin.«

»Bea!«, ermahnte Bruni die Freundin leise.

»Hinsetzen!«

Die Chinesen gruppierten sich folgsam um den Tisch, an dem zuvor Wang San gesessen hatte. Zhang Liu und Lao Wang tauschten einen schnellen Blick. Das Benehmen ihrer Tochter war befremdlich, und das der Frauen erst recht. Zhang Liu seufzte leise.

»Die Zukunft der ›Eintracht Neuenahr‹ ist gerettet! Es gibt drei neue Sponsoren.« Frank hatte sie vorhin angerufen und ihr die frohe Botschaft mitgeteilt. Alles war wasserdicht. Am Nachmittag würde das Präsidium die Spielerinnen informieren und eine Pressemeldung herausgeben. Morgen schon würde es in der Zeitung stehen.

»Gleich drei Sponsoren?« Wang Ai war fassungslos. Ihre sonst mandelförmigen Augen nahmen die Form kreisrunder Reisschalen an. »Mein Aufenthalt hier ist damit finanziell gesichert?«

»Ja.« Bea strahlte. »Der Verein wird dir in den nächsten Tagen die Höhe der monatlichen Zuwendung mitteilen. Soweit ich weiß, ist es aber mehr als genug.«

»Wir können also eine Wohnung mieten«, rief Mei Ling und lachte ihre Cousine an.

»Es sieht so aus, als ob das kein Problem wäre«, bestätigte Bea.

Wang Ai und Mei Ling begannen, über das ganze Gesicht zu strahlen, dann kamen sie hinter dem Tisch hervor und umarmten sie.

»Und wer sind die Sponsoren?«, wollte Wang San wissen. Seine Miene hatte sich aufgehellt, ebenso wie die seiner Eltern.

»Ein Sportartikelhersteller, ein Mineralwasserproduzent und ein Gartenbaubetrieb«, antwortete Bea. »Bis auf den Sportartikelhersteller kommen sie hier aus der Region.«

»Wirklich gut«, sagte Wang San anerkennend. Nach einem Moment allerdings runzelte er die Stirn und fragte: »Doch wieso überbringst du uns die Nachricht und nicht der Verein? Was hast du damit zu tun?«

Bea lächelte verschmitzt.

»Was hast du damit zu tun?«, wiederholte Wang San seine Frage. Ulrike, Caro und Bruni sahen ihn an, dann wanderten ihre Blicke zu seinen Eltern, die aufrecht und unbeweglich am Tisch saßen.

»Sie hat dafür gesorgt, dass die Sponsoren gefunden wurden«, sagte Bruni stolz, woraufhin Wang San, Wang Ai und ihre Cousine Bea mit Fragen bestürmten, und nachdem sie Rede und Antwort gestanden hatte, sagte sie: »Aber, ihr Lieben, das war noch nicht alles. Es gibt zwei gute Nachrichten, hatte ich gesagt.«

»Stimmt.« Ulrike nickte.

»Dann mal los …«, forderte Caro sie auf.

Bea ging hinüber zum Tisch an der Tür, wo in einer bunten Schale ein Stapel ungeöffneter Briefe lag. Sie kannte die Stelle. Der Postbote legte hier immer alles ab, was er zuzustellen hatte, und Lao Wang nahm die Briefe dann irgendwann heraus. Ein rascher Blick zeigte ihr, dass die Schale seit einiger Zeit nicht geleert worden war, was ihre These von der Depression erhärtete. Unglückliche Menschen öffneten oft die Post nicht mehr. »Das Schreiben müsste spätestens heute angekommen sein«, sagte sie und ergänzte: »Ich weiß es vom Bürgermeister. Darf ich?« Sie nahm den Stapel in die Hand und reichte ihn Lao Wang. »Sehen Sie doch bitte nach, ob ein Brief von der Kreisverwaltung dazwischen ist.«

Lao Wang zuckte zusammen, auf diese Briefe konnte er gut und gerne verzichten, aber er tat, wie ihm geheißen, und er merkte, dass er unruhig wurde. Langsam blätterte er den Stapel durch und fischte einen Umschlag hervor, den er einen Moment bewegungslos in der Hand hielt. »Der Brieföffner?«, fragte er aufblickend.

»Warte, ich hole ihn.« Mei Ling sprang eilfertig auf. »Er liegt in meinem Arbeitszimmer.«

Mei Ling verschwand. Sappho und Mr. Fred, die sich vor dem Tisch auf dem Boden niedergelassen hatten, folgten ihr mit den Augen.

Bruni setzte sich zu den Wangs an den Tisch und überließ sich der mittlerweile vor Spannung geladenen Stimmung, ohne etwas zu sagen. In solchen Momenten ist es besser, zu schweigen, dachte sie. Gleich würden die Chinesen erfahren, was sie und ihre Freundinnen bereits wussten. Gleich würden auch sie sich vor Freude nicht mehr beherrschen können. Bruni bekam eine Gänsehaut. Sie spürte Wang Sans Blick auf sich ruhen und streichelte die Hunde. Mei Ling kam mit dem Jadeöffner in der Hand zurück, und Lao Wang, sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden bewusst, öffnete behutsam den Umschlag. Er setzte eine Brille auf, faltete das Schreiben auseinander und las. Nach Minuten, die sich anfühlten wie eine kleine Ewigkeit, ließ er das Papier sinken, und Bruni bemerkte, dass sein Gesichtsausdruck sich verändert hatte. Zur Erleichterung über die gesicherte Zukunft Wang Ais hatte sich nun gut sichtbar auch Stolz gesellt, ebenso ein verräterisches Zucken um den Mund, das Bruni als Rührung interpretierte. Sie stellte fest, dass sich auf das blasse Gelb seiner Haut ein rosiger Schimmer gelegt hatte. »Wir haben gesiegt«, sagte er leise und lehnte sich zurück. Die schmale Altmännerbrust hob und senkte sich, und seine Familie starrte ihn fassungslos an. »Der Kreisrechtsausschuss hat entschieden: Unser Tempel darf neu gebaut werden«, flüsterte er, und fügte hinzu: »Größer als vorher. Wir dürfen eine richtige Tempelanlage bauen.« Als das Stimmengewirr und Lachen im Raum so anschwoll, dass kaum einer mehr den anderen verstand, ließen die Freundinnen die Korken knallen.

Mit 50 hat man noch Träume
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