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Heute früh hatte sie nicht mit Wang San zusammen auf das Jadekissen geklopft. Stattdessen hatte sie eine Qi-Gong-Übung aus dem ›Spiel der 5 Tiere‹ durchgeführt, die Kranichübung, denn sie hatte an diesem Morgen das dringende Bedürfnis, die Eigenschaften, die die Chinesen dem Vogel zuschrieben, in sich aufzunehmen: Ruhe, Gelassenheit und Leichtigkeit, außerdem auch Standfestigkeit, denn auf der Erde stand der Kranich fest und unerschütterlich sogar auf nur einem Bein.

Nach einer schlechten Nacht, die sie zum großen Teil damit verbracht hatte, die Interviews, die sie mit einigen Landfrauen geführt hatte, auszuwerten und die Ergebnisse in groben Zügen zu skizzieren, war sie irgendwann gegen Morgen für zwei Stunden eingeschlafen. Gegen 3 Uhr hatte sie Caros und Lillys Heimkehr gehört, weil die Hunde vor Freude gejault hatten, und sie hatte ernsthaft mit sich gerungen, ob sie Caro zur Rede stellen sollte oder nicht. Sie hatte sich dagegen entschieden, denn sie kannte sich. Wäre sie mitten in der Nacht hinaus auf den Flur getreten, hätte sie sich vermutlich nicht beherrschen können, sie hätte die Freundin des Verrats bezichtigt, und die Auseinandersetzung wäre in einem üblen Streit geendet. Hinzu kam, dass Bruni sich über sich selber ärgerte. Warum ließ sie es zu, dass ihre Gefühle für Wang San so viel Raum einnahmen? Dass der Blick seiner sanften Chinesenaugen plötzlich wieder die Sehnsucht in ihr weckte? Jahrelang war sie gut ohne Beziehung klar gekommen, was sollten also diese Frühlingsgefühle jetzt? Schuld waren vermutlich die Hormone, im Endeffekt lag alles nur an den Hormonen. Jeder Gedanke, jedes Gefühl wurde von ihnen gesteuert. War zu viel Testosteron im Blut, wurde man aggressiv, ein Überschuss an Östrogen hingegen machte einen in manchen Fällen zur Heulsuse. Sie schüttelte unwillig den Kopf. Kaum war sie in den Wechseljahren, da fuhren ihre Gefühle Achterbahn. Sie hatte sich mittlerweile einige Literatur über Hormonersatztherapien und alternative Behandlungsmethoden der Wechseljahresbeschwerden schicken lassen, darunter dicke Wälzer über Akupunktur, chinesische Kräuterheilkunde und Bücher über den Zusammenhang zwischen Wechseljahresbeschwerden und Ernährung. Soja, frisch gemahlener Leinsamen und Nahrungsmittel, die Bioflavonoide enthalten, sollten hilfreich sein. Ihnen wurde die Fähigkeit zugeschrieben, ein Gleichgewicht der Hormone herzustellen und die Beckenorgane zu stärken. Die weiße innere Schicht von Orangen und Zitronen sollte reich an diesen Substanzen sein, und Bruni nahm sich vor, im Laufe des Tages einen ganzen Schwung davon zu kaufen. Außerdem macht sauer lustig, dachte sie.

Jetzt, da sie draußen auf der Terrasse in der frischen Morgenluft den Besen schwang, fühlte Bruni sich dank der Kranichübung schon etwas besser. Sie sagte sich, dass Caro tun und lassen konnte, was sie wollte, es war ihr gutes Recht. Sie sah hin zu Mr. Fred und Sappho, die sich satt und zufrieden in der Morgensonne räkelten, ganz dem Augenblick hingegeben, was ein leichtes Seufzen bei ihr auslöste. Leise murmelte sie vor sich hin: Lerne loslassen. Genieße den Augenblick. Diese alte buddhistische Weisheit war angeblich der Schlüssel zur Glückseligkeit, was also für sie bedeutete: Sie sollte lernen, ihre Gefühle für Wang San und die Aggression gegen Caro loszulassen. Geschirrklappern drang durch die Terrassentür nach draußen. Bruni gab ihrem Besen energisch noch mehr Schwung und fegte sich vorwärts, den Steinweg entlang durch den Garten.

Mit 50 hat man noch Träume
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