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Wenn ich alles, was einmal wichtig war in meinem Leben, hinter mir lassen möchte und Dinge wagen will, die ich schon vor 20 Jahren wagen wollte, dann müsste ich sie jetzt endlich wagen dürfen, überlegte Ulrike. Das Dumme war nur, die Zeit war viel schneller als sie.
Unwillkürlich verlagerte sie ihr Gewicht gleichmäßig auf beide Beine und schürzte die Lippen, während sie den Fisch filettierte.
Claus hatte sie seit seinem Auftauchen in Altenahr mit Anrufen bombardiert, aber ganz offensichtlich begriff er nichts von dem, was sie ihm zu erklären versuchte.
Lange genug hatte sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückgestellt. Sie hatte sich um Haus, Mann und Kinder gekümmert, war zweimal täglich mit Mr. Fred spazieren gegangen, hatte die Urlaubsreisen gebucht und auch sonst alle organisatorischen Belange einer kleinen Familie in die Hand genommen. Nach außen war es ein Bilderbuchleben gewesen. Sie hatte eingekauft, gekocht, gewaschen und gebügelt, war einmal im Monat ins Theater und einmal im Monat ins Konzert gegangen, und hin und wieder hatte sie auch das Museum Ludwig besucht. In gewisser Weise hatte sie den Traum von der perfekten Familie gelebt, so wie er in den Jungmädchenbüchern, die sie gelesen hatte, geschildert wurde. In ihrer großen Altbauwohnung in Sülz hingen Originalbilder an der Wand, und gelegentlich kamen Freunde zum Essen. Die ersten Anzeichen von Wechseljahresbeschwerden, die dazu führten, dass sie wegen starker Blutungen und wiederkehrenden Kopfschmerzen, die migräneartigen Charakter aufwiesen, nicht mehr so hundertprozentig wie üblich funktionierte, hatte sie sofort mit Hormonen bekämpft. Seit ein paar Monaten schluckte sie Gestagene, und sie war zufrieden damit. Immerhin ermöglichten sie ihr ein Leben, wie sie es jahrzehntelang gewohnt war.
Ulrike zog die Stirn kraus und fragte sich zum ersten Mal, ob sie mit dem hehren Ziel allzeitiger Funktionstüchtigkeit und ihrem Traum von der perfekten Familie letztendlich nicht nur sich selbst, sondern auch Claus und die Kinder betrogen hatte, betrogen um das wahre Leben, das sich hinter jedem Traum verbarg.
Aber mussten Träume immer Illusionen bleiben?
»Gibst du mir mal ein scharfes Messer?«, hörte sie John fragen.
»Die meisten sind stumpf, du musst sie erst schleifen«, antwortete sie und schob ihm den Schleifstein hinüber. John hatte gerade damit begonnen, Zwiebeln zu schälen, und der beißende Geruch trieb ihr die Tränen in die Augen, obwohl sie mindestens zwei Meter von ihm entfernt am Arbeitstisch stand.
Vor 20 Jahren schon hatte sie davon geträumt, ein eigenes Restaurant zu besitzen, vielleicht auch eine Pension oder ein kleines Hotel, aber finanziell war es einfach nicht machbar gewesen. Und heute? Ulrike kniff die Augen zusammen. Ohne Geld ging nichts. Bea und Caro trugen die finanzielle Hauptlast für das ›Ahrstübchen‹, und wenn sie von beiden als Geschäftspartnerin ernst genommen werden wollte, musste sie in jedem Fall mehr Geld investieren.
Sie fragte sich, ob und wie sie sich finanziell mit Claus einigen würde, falls sie nicht zu ihm zurückkehrte.
»Was hast du eigentlich für Träume?«, fragte sie aus einer spontanen Eingebung heraus John, der inzwischen mit einem frisch gewetzten Messer hantierte und schon einen Berg klein gewürfelter Zwiebeln vor sich auf dem Holzbrett aufgetürmt hatte.
»Isch? Isch habe keine Träume«, antwortete er und zog nachdenklich die Stirn in Falten. Er überlegte einen Moment, dann sagte er: »Weißt du, isch bin schon froh, wenn isch keinen Hunger haben und wenig arbeiten muss, gute Musik hören kann, jede Woche einen interessanten Menschen kennenlerne und mindestens sieben Mal die Woche Sex habe.«
»Ach, mehr nicht?« Ulrike lachte. In ihren Ohren klang, was er gesagt hatte, wie ein Sechser im Lotto. Aber ohne Träume wären die Psychiatrien vermutlich restlos überfüllt, überlegte sie und dachte, dass sie so lebensnotwendig waren wie das Blut, das durch unsere Adern fließt. Wenn wir keine Träume mehr haben, sind wir tot, dachte sie.