12

 

Den 02. Mai 2010 würden sie nie vergessen. Ein Alptraum, ein böses Geschwür. Dabei hatte alles so gut angefangen.

Der Himmel strahlte in einem Blau, das tiefer und makelloser nicht sein konnte. Kein Wölkchen weit und breit, nur ein schmaler Kondensstreifen, der sich wie die Schleppe eines Hochzeitskleides über den Himmel zog. Es war einer dieser Frühlingstage, die zu schön waren, um wahr zu sein. Meisen flogen mit Sapphos Haarbüscheln, die Bruni extra für die Vögel ausgelegt hatte, aufgeregt zwischen Terrasse und Nistkasten hin und her und bauten sich daraus ein Luxusnest, die Ahr floss kristallklar im Sonnenschein dahin, und im ›Ahrstübchen‹ bereiteten sich Bea, Ulrike, Caro und Bruni voller Elan auf den Ansturm der Gäste vor. Um 11 Uhr hatten sie zu einem Empfang eingeladen, sie erwarteten alle, die im Ort Rang und Namen hatten. Den Bürgermeister Hubertus Hohenstein samt Frau Marianne, einige Winzer, darunter Dieter Schmitz mit Gattin, Repräsentanten des Eifelvereins, des Tourismusbüros sowie des Junggesellenvereins und viele mehr, so auch Christine Schäfer und weitere Mitglieder des Landfrauenvereins. Wang San, mit dem Bruni inzwischen jeden Morgen Qi Gong machte, und seine Schwester Mei Ling hatten ihr Kommen ebenfalls zugesagt. 70 Personen waren eingeladen, und ab 12 Uhr sollte die Tür des ›Ahrstübchens‹ dann auch für alle anderen Gäste geöffnet sein.

Der Sekt stand kalt, die Kanapees waren geschmiert, und es mussten nur noch einige Braten, Salate sowie diverse Süßspeisen auf dem Buffet arrangiert werden. Bea und Ulrike hatten die Tische mit kleinen Traubenhyazinthen-Sträußen geschmückt, und auf der Theke stand ein riesiges Bund Maiglöckchen. Bruni zapfte probehalber Bier und versuchte, ihm schöne, steife Schaumkronen aufzusetzen, und Bea gab zwei Aushilfskellnerinnen Anweisungen darüber, was auf den Tabletts mit Begrüßungsgetränken stehen sollte.

Sie ließ die Augen prüfend umherschweifen und setzte sich einen Moment. Sie fühlte sich aller Vorfreude zum Trotz ein wenig schwach und wackelig, so als stünde sie auf tönernen Füßen. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen, und die kleinen Reibereien mit Bruni machten ihr mehr zu schaffen, als ihr lieb war. Während sie die Freundin beim Zapfen beobachtete, dachte sie an die von ihnen vereinbarte Arbeitsteilung, wie sie sie in Zukunft praktizieren wollten. Caro sollte für den Service zuständig sein und Bruni würde hinter der Theke für die Getränke sorgen. Ulrike war für die Küche verantwortlich und Bea für das Gesamtmanagement. Allerdings würde sie auch überall dort einspringen, wo es gerade nötig war.

Der 02. 05. 2010. Ein Datum, rund und klar. Es sah gut aus und fühlte sich gut an. Bea betrachtete die Zahlen, die sie auf einen Bierdeckel gemalt hatte. Sie hatten es geschafft. Termingerecht hatten sie das Lokal neu hergerichtet, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Während sie sich nun auf der Bank zurücklehnte und ihr Blick erneut über Tische, Bänke, Theke und Buffet glitt, spürte sie, wie stolz sie auf sich und ihre Freundinnen war. Sie hatten viel geleistet in den letzten Tagen und trotz Schlafmangels sahen sie heute durchaus passabel aus, fand sie. Caro hatte sich für ein auf Figur geschnittenes, buntes Kleid mit großen geometrischen Mustern entschieden, dazu trug sie eine lange Ethnokette. Bea blickte an sich herab und strich über ihr hellgelbes Etuikleid, dessen Stoff unter ihren Händen leicht knisterte und sich angenehm kühl anfühlte. Sie fühlte sich wohl darin. Ihr Blick glitt hinüber zu Ulrike, die einige Platten auf dem Buffet arrangierte. In den vergangenen Tagen war sie regelrecht aufgeblüht, sie hatte viel häufiger gelacht als noch zu Beginn und Bea hatte den Eindruck, dass die Trennung von Claus ihr unglaublich gut tat. In ihrem wippenden braunen Rock und der hellen Bluse, die gut zu ihren haselnussbraunen Augen passte, strahlte Ulrike eine ungeheuere Energie aus, die sie einige Jahre jünger wirken ließ. Selbst ihre blonden Locken wirkten beschwingt. Wenn die Trennung vom Ehemann sich so äußert, sollten viel mehr Frauen diesen Schritt wagen, dachte Bea und blinzelte.

Leider hatte es in den letzten zwei Wochen nicht nur zwischen ihr und Bruni leichte Spannungen gegeben. Die Freundin hatte jede Gelegenheit genutzt, um für ihren Artikel zu recherchieren, was zu Lasten der gemeinsamen Vorbereitungen gegangen war, und auch Caro hatte sich ihres Erachtens vor der Arbeit gedrückt, denn sie hatte mehr Zeit im Garten verbracht als nötig. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass die meiste Arbeit auf Ulrike und ihr sitzen blieb, und irgendwann war ihr schließlich der Kragen geplatzt. Bea nahm einen Schluck Wasser und setzte das Glas vorsichtig zurück auf den Tisch. Letztendlich hatte der Streit aber auch sein Gutes gehabt. Ein reinigendes Gewitter, das neue Frische und Klarheit brachte, und hinterher hatten sie besser zusammengearbeitet als zuvor.

Sie dachte daran, wie sie sich kennengelernt hatten, vor knapp fünf Jahren. An einem drückend schwülen Sommerabend war sie mit Caro, die sie schon seit der Schulzeit kannte, am Rheinufer in Rodenkirchen joggen gewesen. Die schwüle Luft an jenem Tag hatte das Atmen erschwert, die Gliedmaßen hatten sich angefühlt wie Blei, und der Schweiß war ihnen über Gesicht und Beine geronnen. Es war ein Abend gewesen, an dem man besser bewegungslos irgendwo im Grünen gesessen hätte, einen fruchtigen Strawberry Margherita in der Hand. Sie erinnerte sich noch genau, dass sie sich damals gefragt hatte, warum sie sich in dieser Hitze selbst quälte, doch heute war sie mehr als froh darüber. Andernfalls hätten sie Ulrike und Bruni vermutlich nie getroffen. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.

Der Aufprall war so heftig gewesen, dass sie gestolpert und hingefallen war, und sie hatte Caro gleich mitgerissen. Keine von ihnen hatte die Hunde, die auf der Jagd nach einem Vogel aus dem Gebüsch geprescht kamen, kommen sehen und beinahe wäre die Situation eskaliert. Statt jedoch in einem üblen Streit zu enden, hatte sich alles auf wundersame Weise ins Positive verkehrt, und bis heute fragte sie sich, wie es überhaupt dazu gekommen war. Welcher Bruchteil einer Sekunde alles geändert hatte, wessen Blick, welches Lächeln, aber auf einmal hatten die Hundebesitzerinnen, Caro und sie auf der Terrasse im Rodenkirchener ›Kahlshof‹ gesessen, Kölsch getrunken, die Köter gestreichelt, zusammen gelacht und den Blick auf den träge dahin fließenden Rhein genossen. Und bei diesem einen Abend war es nicht geblieben.

»Langsam könnten die Gäste aber kommen.« Brunis Stimme unterbrach Beas Gedanken, sie klang nervös. Mit verbissenem Gesichtsausdruck polierte sie hinter der Theke so nachdrücklich ein Glas, dass Bea fürchtete, es würde jeden Augenblick zerbrechen. Bea sah auf die Uhr, es war bereits Viertel nach 11. »Allerdings. Wo bleiben sie denn?«

»Schätze, die haben zu viele Maibäume aufgestellt vergangene Nacht«, mutmaßte Caro.

»Die Junggesellen vielleicht, aber die anderen?«, erwiderte Ulrike.

»Sind noch in der Kirche«, sagte Caro knapp.

»Sicher nicht.« Bea sah aus dem Fenster und bemerkte eine Gruppe Menschen, die vor der Kirche stand und die Köpfe zusammensteckte. Einer von ihnen sah neugierig zu ihnen herüber. »Um 11 Uhr ist der Gottesdienst vorbei. Wer wollte, hätte längst hier sein können.«

»Sie lassen sich eben Zeit«, sagte Bruni und legte das Geschirrtuch beiseite. »So demonstriert man Gelassenheit und Unabhängigkeit. Vielleicht wollen sie uns zu verstehen geben, dass wir so wichtig für Altenahr nun auch nicht sind.«

»Hm.« Dieser Gedanke behagte Bea überhaupt nicht.

Bruni legte das Geschirrtuch aus der Hand und starrte aus dem Fenster. Ulrike setzte sich auf einen Barhocker und während sie nervös an einer ihrer Locken knabberte, ließen Caro und Bea sich auf eine Sitzbank fallen. Bei jedem lauteren Geräusch, das zu ihnen hereindrang, sahen sie zur Tür, aber sie blieb geschlossen. Niemand kam. Inzwischen war es 11.30 Uhr.

Um 11.45 Uhr begann Bea, sich wie in einem Vakuum zu fühlen, ihre Brust wurde eng. Es schien eine einfache und selbstverständliche Wahrheit zu sein: Die Einwohner Altenahrs interessierten sich nicht für sie.

Um kurz vor 12 öffnete sich endlich die Tür, und Caro und Bea sprangen auf. Wang San und seine Schwester Mei Ling kamen herein, mit einer Topfblume und einem großen Beutel Glückskekse in der Hand.

»Willkommen in Altenahr! Wir hoffen, dass Sie sie mögen, auch wenn sie keine chinesische, sondern eine echt amerikanische Erfindung sind«, sagte Wang San mit einer Verbeugung, und Mei Ling lächelte dazu. Die Freundinnen hatten sie vor zwei Tagen kennengelernt, als Mei Ling ihr Motorrad vor dem ›Ahrstübchen‹ geparkt und bei ihnen einen Kaffee getrunken hatte.

»Ich liebe Glückskekse«, rief Bruni begeistert und strahlte Wang San an. »Vielen Dank.« Die morgendlichen Qi-Gong-Übungen hatten dazu geführt, dass sich eine zarte Vertrautheit zwischen ihnen angebahnt hatte, die sie auch jetzt wieder wahrnehmen konnte, obwohl sie sich immer noch siezten. Sie mochte seine sanfte, bedachte Art, und zum ersten Mal seit Langem hatte sie das Gefühl, dass Männer durchaus interessant sein konnten.

Mei Ling, die ebenso glattes schwarzes Haar wie ihr Bruder besaß und ebenso dunkelbraune Augen, beobachtete Bruni dabei, wie sie die Folie des Beutels zerriss und hinein griff.

»Mut steht am Anfang des Handelns, Glück und Erfolg am Ende«, las sie vor.

Die Freundinnen sahen sich an und brachen in hysterisches Lachen aus. »Wenn das kein gutes Omen ist!« Bruni nahm den Papierstreifen und klebte ihn demonstrativ mit Tesafilm an die Theke.

»Sind wir die Ersten?«, fragte Mei Ling, sich umblickend.

»Nein, die anderen sind schon wieder weg«, antwortete Caro und fügte schnell hinzu. »Kleiner Scherz, natürlich nicht. Außer euch ist bislang niemand gekommen.«

»Oh.« Mei Ling sah unsicher zu ihrem Bruder hinüber, der sich gerade ein Glas Orangensaft vom Tablett nahm, das eine Aushilfe in den Händen hielt.

»Nehmen Sie doch ein Gläschen Sekt«, forderte Ulrike ihn und seine Schwester auf.

Wang San schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Wir müssen gleich wieder rüber. Unser Vater vertritt mich zwar in der Küche, und unsere Schwägerin ist für Mei Ling im Service eingesprungen, aber allzu lange können wir trotzdem nicht hier bleiben. Außerdem …« Er unterbrach sich kurz und lächelte. »Außerdem verträgt die Hälfte aller Chinesen Alkohol nicht so gut, und wir gehören leider dazu.«

»Was?«, fragte Caro mit großen Augen.

»Vielen Chinesen fehlt ein wichtiges Enzym zum Alkoholabbau. Bevor wir also mit roten Köpfen nach einem einzigen Glas Sekt hier heraus wanken, trinken wir lieber Saft«, antwortete Mei Ling.

»Sie Ärmsten«, Bea hob ihr Glas. »Dennoch, zum Wohl!«

»Gan bei!«, sagten Wang San und Mei Ling wie aus einem Munde. Die Worte hörten sich wie ein hoher Singsang an.

»Gan bei?«

»Heißt so viel wie Prost.« Wang San nickte.

Bea, Caro, Bruni und Ulrike sprachen den Ausdruck vorsichtig nach, aber offensichtlich falsch, denn er und seine Schwester bestanden darauf, dass sie ihn wiederholten, dabei amüsierten sie sich über ihre Aussprache.

»Sie müssen den richtigen Ton treffen!«, dozierte Wang San und belehrte sie: »Im Chinesischen wird jede Silbe und jedes Wort in einer bestimmten Tonlage gesprochen, insgesamt gibt es vier Töne und einen neutralen. Wenn Sie den richtigen Ton nicht hundertprozentig treffen, bekommt das Wort einen völlig anderen Sinn.«

»Oder es wird völlig sinnfrei und wir verstehen es erst gar nicht«, ergänzte Mei Ling. »Chinesen, die verschiedene Dialekte sprechen, verständigen sich übrigens miteinander, indem sie die Schriftzeichen der Einfachheit halber in die Handfläche malen.«

Bruni und ihre Freundinnen waren beeindruckt.

»Eigentlich heißt Gan beileere das Glas‹. Sie würden sagen, ›Auf Ex!‹, aber das nehmen wir jetzt mal nicht so genau«, Wang San lachte und sie stießen miteinander an.

Nach einem Moment wechselte Bea das Thema und wandte sich an Mei Ling. »Waren Sie das, die ich neulich auf dem Motorrad gesehen habe?«

Mei Ling nickte stolz.

»Tolle Maschine«, sagte Bea anerkennend. »Ich wollte eigentlich auch immer einen Motorradführerschein machen, habe mich dann aber nie getraut. Wie lange haben Sie sie schon?«

»Die Kawa? Seit 10 Jahren«, erklärte Mei Ling und senkte bescheiden den Blick, was sehr chinesisch aussah, wie Bea fand.

»Ist die nicht schwer zu halten?«

Mei Ling lächelte. »Ich lege sie ja nicht hin.«

»Meine Schwester ist eine richtige Motorradtussi und die Eifelkurven sind für sie das Schärfste«, grinste Wang San.

Bruni blieb fast der Mund offen stehen. Ihn so salopp reden zu hören, war für sie gänzlich ungewohnt, er klang auf einmal wie ein Deutscher. Sie musste lächeln, denn er hatte ihr ja erzählt, dass er und seine Schwester hier aufgewachsen waren, also drückten sie sich natürlich auch so locker aus wie Deutsche. Zumindest dann, wenn die Familie nicht dabei war.

»Als sie zum ersten Mal mit dem Motorrad nach Hause kam, war sie 19, und es gab einen riesigen Aufstand«, erklärte er.

Mei Ling betrachtete ihren Bruder, und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lachen.

»Unsere Eltern waren geschockt«, sagte Wang San und wies damit jeden Verdacht von sich. »Eine junge Chinesin fährt Fahrrad, maximal eine Vespa.«

In Mei Lings Augen blitzten kleine Lichter. »Immerhin, kürzlich ist unser Vater zum ersten Mal mitgefahren. Er sah zwar etwas blass aus hinterher, aber ich glaube, es hat ihm trotzdem Spaß gemacht.«

Wang San lachte. »Er ist ein alter Mann, aber ein sehr mutiger alter Mann.«

Caro betrachtete Wang Sans Schwester interessiert. Die Chinesen gefielen ihr immer besser.

»Ich fahre vorsichtig.« Mei Lings Stimme klang routiniert, so als hätte sie diesen Satz schon oft gesagt. »Wenn Sie wollen, machen wir einmal eine kleine Spritztour.«

Bea reagierte sofort begeistert und fragte: »Wann?«

»Wann Sie wollen.«

»Warum waren Sie eigentlich nie bei unserer Qi-Gong-Stunde?« Wang Sans Frage kam plötzlich, und es war deutlich, dass er vor allem Caro ansah. Bruni schluckte.

Caro, Bea und Ulrike waren überrascht. »Qi-Gong-Stunde?«

Wang San nickte. »Morgens um 6, da machen Bruni und ich doch unten an der Ahr unsere Übungen. Wissen Sie das nicht?« Er lachte. »Wir tanken Kraft für den Tag.«

Bruni warf Caro und den anderen beschwörende Blicke zu. Einen Moment herrschte Stille. Schließlich räusperte Caro sich und sagte: »Doch, ja, natürlich, aber …«

Bruni fiel ihr ins Wort: »Caro meint, dass 6 Uhr ein bisschen früh für sie und die anderen ist.« Sie sah ihren Freundinnen scharf und intensiv in die Augen. »Nicht wahr? Ihr schlaft doch lieber länger?«

Die Freundinnen schwiegen. Die Pause war etwas zu lang.

»Doch, ja«, sagte Caro schließlich. »Ja, ja.«

»Viel zu früh.« Ulrike nickte bestätigend.

Bruni atmete auf, die Freundinnen hatten verstanden.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und der Bürgermeister samt Frau sowie der Winzer Dieter Schmitz und seine Frau Ines traten ein.

Hubert Hohenstein zuckte unwillkürlich zusammen. Das hätte er sich denken können, die Chinesen waren also auch da. Das würde ja eine schöne Feier werden.

 

10 Stunden später war alles vorbei.

Bea schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und ließ sich auf die Bank am Ecktisch sinken, wo die Freundinnen bereits saßen. Sie wusste nicht, ob sie lieber heulen oder vor Wut und Frustration schreien wollte. Nur ungefähr ein Drittel der Eingeladenen war erschienen, und die meisten schienen vor allem deswegen gekommen zu sein, weil ihr Amt es erforderte. Trotzdem hatten sie gelächelt und die Haltung gewahrt. Was wäre ihnen auch anderes übrig geblieben?

Sie betrachtete die Freundinnen, die allesamt einen matten und deprimierten Eindruck machten. Zerstreut warf sie einen Blick auf ihr Handy, das einen kurzen, dumpfen Ton von sich gab. Frank. Er hatte offenbar dreimal versucht, sie zu erreichen.

»Der einzige Lichtblick war Christine Schäfer«, sagte Ulrike mit kraftloser Stimme.

»Ja, die ist wirklich nett«, stimmte Bruni ihr zu.

»Dass sie uns einen symbolträchtigen Apfelbaum mitgebracht und auch noch an das Rezept gedacht hat, ist doch wenigstens etwas«, sagte Bea und fügte hinzu: »Immerhin eine, die uns aus der Landfrauentruppe wohlgesonnen ist.«

»Ich glaube, es gibt noch eine Zweite«, sagte Caro. Die Freundinnen sahen sie an.

»Marianne Hohenstein, die Frau vom Bürgermeister.«

»Die?«, fragte Ulrike zweifelnd.

»Ja. Es hatte den Anschein, als habe sie sich bei uns ganz wohl gefühlt«, antwortete Caro.

»Vielleicht nachdem ihr Mann weg war und sie drei Gläser Sekt intus hatte«, kommentierte Bruni lachend. »Aber du hast recht, sie wurde immer lockerer.«

»Kaum sind die Männer weg, geht’s den Frauen gut«, sinnierte Caro mit einem Seitenblick auf Ulrike und fragte: »Habt ihr eigentlich bemerkt, wie Ines Schmitz uns gemustert hat?«

»Vor allem dich.« Bruni wurde auf einmal heiß und sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Rasch stand sie auf und öffnete ein Fenster, was die Freundinnen kommentarlos hinnahmen. Sie setzte sich wieder und nahm sich vor, demnächst ein Buch über Heilpflanzentherapie in den Wechseljahren zu besorgen. Manche Pflanzen beinhalteten Östrogene und boten somit eine geeignete Alternative zur Hormonersatztherapie, die in der Regel auf synthetischer Basis beruhte und die sie strikt ablehnte, da sie den Langzeitnebenwirkungen nicht traute. Phytoöstrogene wirkten zwar in weitaus geringerem Maß, aber einen Versuch war es wert. Außerdem würde sie sich auch einmal mit bioidentischen Hormonen auseinandersetzen und dann mit ihrer Ärztin reden.

Neidisch betrachtete sie Caro, die selbst in diesem erschöpften Zustand noch ganz passabel aussah. Sie nippte an ihrem Wein. Es liegt nicht allein an ihrer Figur und den blonden Haaren, dachte sie, es liegt an ihrer Haltung. Sie hat Anmut. Schon als Bruni sie das erste Mal gesehen hatte, war ihr die Weichheit ihrer Bewegungen aufgefallen, die Art, wie sie sich übers Haar strich, wie sie ging. Nicht die Spur von Affektiertheit. Bruni wusste, dass sie selbst mit ihren 1,80 Meter und den langen Gliedmaßen eher ungelenk wirkte. Früher hatte sie mit ihrem eigenen Aussehen gehadert, doch inzwischen nicht mehr. Sie hatte sich mit ihrem Körper ausgesöhnt. Er war Teil ihrer Persönlichkeit, aber eben nur ein Teil. Wichtig war doch, was man im Kopf hatte.

»Als dieser Junge mit seinem Freund hereinschneite und bis über beide Ohren rot wurde, als er dich begrüßte, hat Ines Schmitz das übrigens genau registriert«, sagte Bruni und fragte: »Wer war das eigentlich?«

»Ben Stur, ein ganz süßer Junge«, antwortete Caro und sagte: »Habe ihn neulich kennengelernt. Übrigens, warum hast du uns nichts von dem Qi Gong erzählt? Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Wang San uns doch alle zu den morgendlichen Übungen eingeladen, nicht nur dich, oder?«

Bruni nahm einen Schluck Wein. »Nun starrt mich nicht so an.« Sie senkte den Blick, und da die Freundinnen immer noch auf eine Erklärung warteten, sagte sie schließlich: »Ich werde ja wohl auch mal was ohne euch machen dürfen.«

»Du hast dich in ihn verguckt?«, fragte Ulrike und setzte sich auf. »Ich meine, ernsthaft? Findest du, er passt zu dir? Glaubst du, daraus kann etwas werden?«

Bruni blinzelte. »Warum nicht?« Dann lächelte sie die Freundinnen an, befeuchtete den rechten Zeigefinger, rieb sich das Auge, und nach einem kurzen Moment blies sie die daran haftende Wimper kraftvoll in die Luft.

Mit 50 hat man noch Träume
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