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Alle im Hause der Familie Wang waren sprachlos.

Als Wang Ai die Graffiti Chinesen raus! und den Totenkopf an der Hauswand betrachtet hatte, war sie innerlich steif geworden. Die Zeichnung hatte sich in ihr Gehirn gebrannt, und ihr Anblick ließ sie frösteln. Ihr Onkel hüllte sich in Schweigen, er hatte den ganzen Vormittag kein Wort von sich gegeben, und auch seine Singvögel schienen nicht mehr so laut zu zwitschern wie zuvor. Bei der Vorbereitung des Mittagessens, zu dem sie 100 Personen erwarteten, herrschte in der Küche dumpfes Schweigen. Wang San putzte das Gemüse mit unbeweglichem Gesicht, Lao Wang schuppte den Fisch, ohne auch nur einmal aufzublicken und ihre Tante wusch verbissen wieder und wieder den Reis, als würde er dadurch weißer werden. Selbst Wang Yis Kinder waren am Morgen, bevor sie sich auf den Schulweg machten, verhältnismäßig still gewesen.

Als wäre es noch nicht genug. Dies war der Satz, den Lao Wang irgendwann vor sich hin murmelte. Als wäre es noch nicht genug.

Fragend sah Wang Ai zu ihrem Cousin Wang San, der sie beiseite nahm und ihr leise von den Schikanen erzählte, denen sie bislang ausgesetzt waren, und sie hatte das Gefühl, sie müsse dringend an die frische Luft. Sie organisierte sich einen Eimer mit Wasser, Lösungsmittel, einen Schwamm und eine Bürste und verließ das Haus. Verbissen begann sie damit, die Graffiti von der Hauswand zu waschen. Einige Journalisten hatten bereits Fotos gemacht, aber nun war es wichtig, dass mit dem Eintreffen der chinesischen Reisegruppe alle Spuren beseitigt waren.

Während Wang Ai die Wand schrubbte und an der Schrift herumkratzte, ging ihr vieles durch den Kopf. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich ein Auslandsstipendium beantragen sollte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ein Jahr in Köln zu studieren, aber inzwischen fragte sie sich, ob es wirklich eine gute Idee war, in Deutschland zu bleiben. Außerdem würde sie im Fall eines Auslandsstudiums auf Fußball verzichten müssen, und das fiele ihr schwer, denn der Ballsport hatte einen ebenso festen Platz in ihrem Leben wie ihre Familie.

Ihre Mutter, eine Deutsche, befürwortete den Auslandsaufenthalt, denn der Gedanke, dass ihre Tochter ihre alte Heimat kennenlernen würde, wärmte ihr Herz, und nirgendwo konnte man besser Germanistik studieren als in Deutschland. Außerdem hatte Wang Ai die besten Voraussetzungen: In Altenahr lebten die Verwandten väterlicherseits, in Köln ein Bruder ihrer Mutter. Sie befände sich also mehr oder weniger im Schoß der Familie und wäre in Deutschland gut aufgehoben.

Doch war Wang Ai sich nicht sicher, ob man ihr zu Hause in China überhaupt ein einjähriges Visum erteilen würde. Seit zwei Jahren gehörte sie zum Kader der chinesischen Nationalmannschaft.

Wang Ai trat drei Schritte zurück und betrachtete mit schief gelegtem Kopf die Wand, ein Großteil der Farbe war bereits weitgehend entfernt. Sie presste die Lippen aufeinander. Sollte sie den Antrag für das Auslandsstudium nach ihrer Rückkehr in Shanghai wirklich stellen?

Ihre Cousine Mei Ling war von der Idee völlig begeistert. Sie hatten bereits Pläne geschmiedet und überlegt, sich in Köln eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, doch diese Worte an der Wand hatten schlagartig ein anderes Licht auf ihre Pläne geworfen. Wollte sie, und sei es auch nur für ein Jahr, in einem Land leben, in dem Chinesen wie auch andere Ausländer verhasst waren? Gut, sie wusste, Fremdenfeindlichkeit gab es überall auf der Welt, manche ihrer eigenen Landsleute sahen insbesondere auf Schwarze herab, aber sie war noch nie zuvor persönlich damit konfrontiert worden.

Sie holte tief Luft und betrachtete den Totenkopf und den Schriftzug Emanzen raus! am Haus gegenüber, die Kölnerinnen hatten ihn nicht entfernt, und so sprang er ihr immer noch genauso schwarz und bedrohlich ins Auge wie vor ein paar Stunden. Wang Ai schüttelte unmerklich den Kopf. Offensichtlich waren hier nicht nur Ausländer unbeliebt, sondern auch Frauen.

Sie beobachtete, wie ihre Tante mit schlurfenden Schritten aus der Hintertür trat und sah zu, wie sie einen Fisch in den Teich vor dem Tempel gleiten ließ, um ihn vor dem sicheren Wok-Tod zu retten.

Über ihr Gesicht glitt ein Lächeln. Die Familie war abergläubisch. Sie dachte an ihre Haustür, an deren oberer Hälfte ein kleiner Spiegel angebracht war, der dazu diente, die bösen Geister fernzuhalten, und auf einmal verdunkelte ein Schatten ihr Gesicht. Der Spiegel hatte nichts genutzt. Ihre Tante würde eine Menge Papiergeld opfern müssen, um die bösen Geister, die ihnen Unheil gebracht hatten, zu besänftigen.

Der Ahnenkult der Chinesen beruhte auf der Annahme, dass der Mensch zwei Seelen besitzt. Die eine wird im Augenblick der Empfängnis geboren und lebt nach dem Tod des Körpers bei dem Leichnam im Grab, wo sie sich von den dargebrachten Opfern ernährt. Wenn der Leichnam sich aufgelöst hat, geht diese Seele ein in die Unterwelt, wo sie ein Schattendasein führt. Werden ihr keine Opfer gebracht, kehrt sie als böser Geist auf die Erde zurück.

Die zweite Seele war eine höhere, geistige Seele, die sich erst nach der Geburt eines Menschen entwickelte, ihn schützte und begleitete.

Wang Ai sah sich um. Wenn es sie denn gab, wo waren die guten Seelen verdammt noch einmal geblieben?

Mit Nachdruck wrang sie den Schwamm aus und begutachtete die Wand. Von der Schrift und dem Totenkopf war fast nichts mehr zu erkennen. Ein letztes Mal wischte sie darüber, dann ließ sie den Schwamm schwungvoll ins Wasser fallen und schlenderte hinüber zum Fischteich. Sie setzte sich auf den Rand, und ließ seufzend langsam den Blick umherschweifen. Als er über den Eingang des Tempels glitt, hielt sie inne. Hatte dieser große Stein dort gestern schon gestanden? Sie hatte ihn jedenfalls nicht bemerkt. Vermutlich hatte ihr Onkel ihn heute Morgen dort aufgestellt. Er war rund und hoch, nach oben hin wurde er etwas schmaler, und irgendwie wirkte er auf sie, als trage er Jahrtausende altes, profundes Wissen in sich.

Neugierig stand sie auf und trat näher an ihn heran, und während sie die schön geschwungenen Zeichen las, die auf seine raue Oberfläche gepinselt waren, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, denn auf dem Stein stand geschrieben: Wenn ich einen grünen Zweig im Herzen trage, wird sich bald ein Singvogel darauf niederlassen.

Ihr Onkel war wirklich gut.

Mit 50 hat man noch Träume
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