25

 

Die Intensität seines Blicks brachte ihre Haut zum Glühen. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie tatsächlich rot geworden war, und atmete tief durch. Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal in Männeraugen gesehen hatte, die in ihr das Gefühl hervorriefen, sie sei gerade einmal 17 Jahre alt. Ein junges Mädchen, das bereits zu zittern begann, wenn ein Mann sie nur länger als drei Sekunden anschaute. Die Unsicherheit, die Johannes Friers Nähe in ihr auslöste, irritierte sie und versetzte ihren Körper in Alarmbereitschaft. Ein feiner, kaum wahrnehmbarer Geruch ging von ihm aus, den sie mochte. Er weckte in ihr die Erinnerung an feuchten Waldboden, über dem ein Hauch von duftenden Kiefernnadeln hing.

Bea bekam eine Gänsehaut. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschaffte sich auf diese Weise Distanz. Seine Arme lagen angewinkelt vor ihm auf dem Tisch, die Hände hatte er übereinandergelegt. Während er von sich erzählte, hatte sie ausreichend Zeit, ihn zu betrachten. Seine Hände waren kräftig und sehnig, ihre Haut war rau und wies Risse auf, was nicht verwunderlich war, denn inzwischen wusste sie, dass er Waldarbeiter war. Er sprach von der Ahrregion, davon, wie sehr er die Gegend liebte, die Weinberge, die grünen Hügel und die kantigen Schieferfelsen. Auch die Menschen, die hier lebten, ihre unverstellte, gerade Art, ihre Herzlichkeit. Ihr fiel auf, dass seine Augen während des Erzählens zu leuchten begannen, und während sie ihm zuhörte, versuchte sie, sich ein Bild von ihm zu machen und das, was sie bislang von ihm wusste, in Übereinstimmung zu bringen. So ganz gelang es ihr nicht, sie hatte Widersprüchlichkeiten entdeckt, die sie aufmerken ließen. Einerseits hatte er erzählt, er sei Waldarbeiter, und in der Tat besaß er die entsprechende Figur, groß und kräftig, auch kleidete er sich einfach und schlicht. Andererseits sprachen seine markanten, dennoch sensiblen Gesichtszüge und seine Ausdrucksweise davon, dass er einen Bildungshintergrund besaß, der nicht zu dem eines Waldarbeiters passte. Darüber hinaus schien er Humor zu haben, er hatte sie schon mehrfach an diesem Abend zum Lachen gebracht.

Bea nahm noch einen Schluck Wein, löste ihren Blick von seinem Gesicht und ließ ihn über den Rhein und das gegenüberliegende Ufer schweifen, das von grünen Wiesen gesäumt war. Sie fragte sich, was an ihm es sein mochte, das sie begeisterte und gleichzeitig diese Unruhe und auch Angst in ihr auslöste, aber sie fand keine Antwort darauf. Es war etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ.

Seit dem Picknick waren sie sich nähergekommen, und inzwischen duzten sie sich. Jetzt allerdings, wo sie zusammen im ›Kap am Südkai‹ am Rheinauhafen saßen, diesem neuen Kölner Städtebaukomplex, der mit seinen Kranhäusern, den teuren Eigentumswohnungen und Büroetagen zum Inbegriff moderner Stadtarchitektur geworden war, waren sie zum ersten Mal miteinander allein. Zufrieden und satt vom Fisch, der in einer feinen Bärlauchsauce mit Graupenrisotto serviert worden war, hatten sie beinahe eine ganze Flasche Wein geleert. Bea spürte die Wirkung, und sie genoss sie. Der Wein entspannte sie zusehends.

»Euer Picknick war klasse«, sagte Johannes und fügte lachend hinzu: »Ein Glück, dass ich an dem Tag oben in Plittersdorf zu tun hatte. Sonst wären wir uns nicht begegnet und säßen heute vermutlich nicht hier.«

»Nein, aber vielleicht hättest du ja auch den Weg zu uns ins ›Ahrstübchen‹ gefunden …«

Er lächelte. »Ich wollte tatsächlich kommen, um dich wiederzusehen, aber das Schicksals-Picknick kam mir zuvor.«

Bea strich sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares aus dem Gesicht und dachte daran, dass sie unbedingt einmal wieder zur Kosmetikerin gehen sollte. Ein bisschen was für die Schönheit zu tun hatte noch nie geschadet, und das Kosmetikstudio Quédec in der Arndtstraße in Weiden, ganz in der Nähe des Einkaufscenters, gehörte zu den Geschäften, in denen die Inhaberin, eine Französin, sich noch Zeit für ihre Kundinnen nahm. Sie behandelte sie nach allen Regeln der Kunst, reinigte die Haut, arbeitete Ampullen mit kostbaren Elixieren darin ein, verabreichte wunderbar entspannende Gesichtsmassagen und zu guter Letzt trug sie meist noch eine Maske auf, die dann bei beruhigender, leiser Musik einwirken konnte. Bea fühlte sich nach einem Besuch dort jedes Mal wie neugeboren. Gleich morgen würde sie einen Termin vereinbaren.

»Weißt du was?«, fragte Johannes in ihre Gedanken hinein.

»Hm?«

»Ich bin gern mit dir hier.«

Bea wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, also sah sie wie unbeteiligt aus dem Fenster. Ihre Augen folgten einem Containerschiff, das langsam Richtung Norden fuhr.

Nach einem Moment, währenddessen sie eindrucksvoll schwieg, wechselte er das Thema und sagte: »Es ist schon ein paar Wochen her, seit ich in Köln gewesen bin.«

»Dann geht es dir wie mir.« Bea lachte, froh über die Unverfänglichkeit des neuen Gesprächsstoffs. Sie dachte daran, dass sie sich, so sehr sie das Landleben in Altenahr genoss, auch nach Köln gesehnt hatte. Nach den vielen Menschen, den Lichtern, dem Rhein, dem Großstadtflair, das sie nun mit jeder Pore in sich aufsog.

Nachdem Johannes angerufen und gefragt hatte, ob sie etwas zusammen unternehmen wollten, hatte sie kurz entschlossen vorgeschlagen, nach Köln zu fahren, denn sie hatte das Gefühl gehabt, als bräuchte die Verabredung mit ihm einen größeren Rahmen als den kleinen Ort Altenahr.

»Es wundert mich, dass du Köln magst. Aber vielleicht warst du ja schon früher mal hier mit deiner Säge und deswegen gibt’s so wenig Bäume in den Straßen«, sagte sie und fragte lachend: »Oder bist du etwa doch nicht so ganz der Naturbursche, für den du dich ausgibst?«

»Ja und nein.« Johannes schmunzelte und sagte: »So sehr ich die Natur auch liebe, so sehr brauche ich die Stadt. Ich bin zwar in Altenahr geboren, habe aber einige Jahre in Köln gelebt, bevor ich zurück in die Eifel gezogen bin, aber ich fahre immer noch regelmäßig hierher.«

Bea runzelte die Stirn. »Und warum bist du nicht hiergeblieben?«

Er lächelte. »Es war Zufall, vielleicht auch Schicksal, nenne es, wie du es willst. Vor ein paar Jahren, mitten im Winter, habe ich mit ein paar Freunden einen Ausflug in die Eifel gemacht. Natürlich habe ich ihnen Altenahr und die Ahrschleife gezeigt. Anschließend fuhren wir Richtung Ahrbrück den Berg hinauf nach Plittersdorf und Hürnig, wo alles in tiefem Schnee versunken war. Ein deutsches Wintermärchen, es war zauberhaft. Zufällig wanderten wir an einem wunderschönen alten Häuschen vorbei, herrlich gelegen, mit völlig unverbautem Blick in die Landschaft …«

»Hört sich fantastisch an«, sagte Bea und bemerkte wieder diesen Glanz in seinen Augen.

Er nickte. »Das ist es auch. Einige Wochen später erfuhr ich von meinen Eltern, die immer noch in Altenahr leben, dass genau dieses Haus zum Verkauf stand, und da sich in meinem Leben sowieso gerade sehr viel veränderte …« Johannes schwieg einen Moment, bevor er den Satz beendete, »… habe ich nach kurzer Überlegung zugegriffen und es gekauft.«

Bea sah ihn interessiert an, sie fragte sich, welcher Umstand in seinem Leben es wohl gewesen war, der ihn zu diesem Schritt bewogen hatte.

»Seither lebe und arbeite ich in der Eifel, inzwischen sind es schon fünf Jahre. Die Verbindungen nach Köln existieren immer noch, doch mein Lebensmittelpunkt liegt mittlerweile oberhalb von Altenahr.«

Bea überlegte einen Moment, bevor sie fragte: »In Köln warst du aber jobtechnisch nicht im Wald unterwegs?«

»Höchstens auf ein Kölsch im Stadtwald.« Er lachte ebenfalls. »Nein, ich bin zwar gelernter Waldarbeiter, aber ich bin auch Autor. In Köln saß ich meistens nur stundenlang am Schreibtisch.«

Bea zog überrascht die Augenbrauen hoch.

»Nach meiner Lehre beim Forstamt habe ich Journalistik studiert. Danach habe ich dann als Praktikant beim Kölner Stadtanzeiger Gemüsepreise recherchiert, was kostet der Blumenkohl und so, und irgendwann durfte ich dann für den Lokalteil schreiben, anschließend für die Kultur. Nebenbei habe ich angefangen, ein bisschen Hörfunk zu machen, Reportagen und so etwas, und als ich dann vor 20 Jahren den alten Millowitsch kennenlernte, haben sich die Weichen endgültig gestellt.«

»Spannend.« Bea sah ihn interessiert an.

»Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich angefangen habe, Bühnenstücke zu schreiben, schließlich auch Romane, er hat mich fast dazu gedrängt. Wenn mich ein Thema sehr interessiert, arbeite ich manchmal aber immer noch journalistisch.« Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, dunkles Haar. In der Geste lag eine solche Kraft, dass Bea eine Ahnung davon bekam, wie ernst er das nahm, was ihn gerade beschäftigte.

Sie spürte ein leichtes Kribbeln unter der Haut, Johannes hatte ohne Zweifel viele interessante Facetten.

»Inzwischen schreibe ich mit Vorliebe Krimis.«

»Eifelkrimis?« Bea sah ihn an, plötzlich tauchten diverse Buchcover vor ihrem inneren Auge auf und sie fragte: »Krähen über Hürnig, Marienmord, Eifelgold, diese Romane sind alle von dir? Bist du etwa der J. J. Frier?«

»Ja, der bin ich. Jonathan Johannes Frier.« Er lächelte.

»Ich habe sie alle verschlungen.« Bea blinzelte ihn an, offensichtlich freute er sich.

»Wann kommt der nächste?«

»Ich weiß es noch nicht, mal sehen, vielleicht schreibe ich auch etwas ganz anderes.«

»Und was?«

»Einen Männerroman.«

»Was ist das denn?« Bea lachte. »Ich dachte immer, für Männer gibt es nur Magazine. Wie den Playboy oder den Kicker.« Sie nahm noch einen Schluck Wein.

Johannes grinste. »Gleiches Recht für alle. Frauenromane gibt es doch auch. Lass dich überraschen.«

»Ich bin gespannt, aber dann hältst du eine Lesung im ›Ahrstübchen‹, abgemacht?«

»Einverstanden.«

Sie lachten sich an und sie fragte sich, ob er liiert war. Aber hätte er sie dann zum Essen eingeladen? Bei diesem Gedanken spürte sie einen leichten Stich. Er lebte sicher nicht wie ein Eremit, auch wenn er ein Haus am Waldrand besaß. Sie fragte sich, ob er Kinder hatte, und auf einmal musste sie an ihre Tochter Johanna denken.

Johannes. Sie mochte diesen Namen. Johanna. Johannes. Buchstaben so sanft und weich wie ein Versprechen.

»Der Wald in der Eifel ist übrigens voller Geister.« Augenzwinkernd unterbrach er ihre Gedanken.

»Ich dachte, voller Wildschweine«, antwortete sie.

»Auch.« Er lachte. »Aber die Geister, die ich meine, sind die beste Gesellschaft, die du dir denken kannst. Du musst nur hinhören, dann hörst du sie wispern und Geheimnisse flüstern. Von ihnen bekomme ich oft Anregungen für meine Stories.«

Bea betrachtete ihn nachdenklich. Der Mann hatte Fantasie, so viel stand fest. Hoffentlich ist’s nur Fantasie und nicht was Ernstes, dachte sie.

»Komm doch einfach einmal mit«, schlug er vor.

»Wohin?«

»Na, in den Wald. Ich sorge auch fürs Picknick.« Johannes lächelte sie an. »Oder ich zeige dir nach einer kleinen Wanderung mein Haus und koche etwas für dich.«

Die Vorstellung, ihn bald wiederzusehen, war verlockend. Bea spürte, dass sie wieder unruhig wurde. Nach einem raschen Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass es spät geworden war.

»Du möchtest nach Hause?«

Bea nickte.

»Köln oder Altenahr?«

»Köln.«

»Gut, dann fahren wir morgen ganz früh zusammen zurück«, schlug er vor. »Ich habe ein kleines Apartment hier, bringst du mich da gleich noch vorbei?«

»Kein Problem.«

Während sie auf die Rechnung warteten, dachte sie daran, dass sie gern die Nacht mit ihm verbringen würde, aber er fragte nicht, und sie sagte nichts, als sie ihn vor seiner Wohnung absetzte und er sich mit einem flüchtigen Kuss von ihr verabschiedete.

Dennoch hatte sie das untrügliche Gefühl, dass die Tür, die in ihrem Leben von unsichtbarer Hand einen Spalt breit geöffnet worden war, demnächst noch weiter aufgehen würde.

Mit 50 hat man noch Träume
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