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Der Gemeinderat hatte seinem Vorschlag zugestimmt, und so stand Hubertus Hohenstein nun mit einem Blumenstrauß in der Hand vor dem Chinarestaurant. Seit zwei Tagen hatten die Wangs ihren Betrieb wieder geöffnet.
Er war zum ersten Mal hier, und nachdem er eingetreten war, sah er sich neugierig um. Noch war kein Tisch besetzt, sie waren allein. Der Fotograf, den er mitgebracht hatte, schoss die ersten Fotos und der Journalist, der sie begleitete, schaltete das Aufnahmegerät ein. An den Wänden hingen Bilder von chinesischen Landschaften, auf einem war eine Frau mit schwarzen Haaren, die zu einem Knoten zusammengebunden waren, zu sehen. Sie hielt einen Blütenzweig in Händen und betrachtete mit verklärtem Blick einen Sonnenaufgang über den Gipfeln eines Berges.
»Das ist der Huang Shan, einer der schönsten Berge Chinas«, hörten sie eine brüchige Stimme sagen.
Lao Wang, der gerade aus der Küche gekommen war, lächelte ihnen freundlich zu. Hinter ihm erkannte der Bürgermeister seine Frau und seinen Sohn Wang San. »Wenigstens einmal im Leben muss man dort gewesen sein«, erklärte der alte Chinese und fragte freundlich: »Was führt Sie zu uns?«
»Ich habe Neuigkeiten«, antwortete Hubertus Hohenstein, der näher getreten war, und überreichte Zhang Liu den Strauß. »Gute Neuigkeiten.«
Der Fotograf drückte auf den Auslöser. Behände bewegte er sich im Raum.
»Wir dürfen doch?«, fragte der Journalist und deutete auf das Gerät ebenso wie auf den Fotografen.
Lao Wang nickte irritiert.
Dass der Bürgermeister den Chinesen mit seinen Blumen keine Freude bereitete, ahnte er nicht. Nach altem Brauch verschenkten sie, zumindest, wenn sie so betagt waren wie Lao Wang und seine Frau, keine Schnittblumen, denn das war eine barbarische, westliche Sitte. Auch wenn die Blüten noch prachtvoll aussahen, waren sie doch bereits tot, ermordet von unwissenden Händen. Traditionell denkende Chinesen verschenkten Topfblumen, denn sie trugen das Leben in sich.
Lao Wangs Frau verneigte sich, nahm den Strauß entgegen und bedankte sich höflich.
»Bitte setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Tee trinken?«, fragte Wang San.
Der Bürgermeister nickte. »Gern. Haben Sie auch grünen Tee?«
»Sicher.« Wang San ging lächelnd über den zweiten Fehltritt des Gastes hinweg, den er sich innerhalb kurzer Zeit geleistet hatte. Sie fanden es unhöflich, einen Wunsch zu äußern, wenn man Gast war und die Gastgeber nicht ausgesprochen gut kannte. Bescheidenheit ist eine Tugend, dachte er und rief auf Chinesisch etwas über die Schulter in die Küche. Dann nahmen sie alle an einem Tisch Platz, über dem eine rote, mit schwarzen Schriftzeichen versehene Papierlampe baumelte.
»Die Brandstifter sind gefasst«, erklärte der Bürgermeister ohne Umschweife. »Ich habe es vorhin von der Kripo erfahren und die Erlaubnis erhalten, Ihnen die Nachricht zu überbringen. Die Polizei wird sich noch bei Ihnen melden.«
Zhang Liu griff sich an die Brust.
»Wer war es?«, fragten Lao Wang und Wang San gebannt wie aus einem Munde.
»Zwei Jungen aus dem Ort, beide 17 Jahre alt.«
»Wie heißen sie?«, wollte Wang San wissen. Er bemerkte, dass er zu zittern begann.
»Frank und Thorsten Maar.«
»Die Söhne von Dorothée Maar?« Wang San war entsetzt. »Aber, ich verstehe das nicht, sie ist immer so freundlich zu uns gewesen.«
»Wir alle verstehen es nicht«, sagte der Bürgermeister. »Fakt ist aber, dass ihre Söhne gestanden haben. Die Jungen sind dafür bekannt, dass sie sich in rechten Kreisen bewegen.«
Mit weit aufgerissenen Augen sahen ihn die Chinesen an. Keiner sagte etwas.
»Es gibt keinen Zweifel.« Der Bürgermeister hielt einen Moment inne, bevor er weitersprach. »Außerdem hat Ben Stur die beiden vor zwei Tagen spätabends dabei überrascht, wie sie Ihre Buddhastatue demolieren wollten. Er hat sie gleich erkannt.«
Mei Ling brachte den grünen Tee, schenkte dem Bürgermeister ein, und setzte sich an den Tisch.
»Sie haben den Molotowcocktail bei sich zu Hause im Keller gebastelt«, erläuterte der Bürgermeister und nahm einen Schluck von dem heißen Getränk, das ihm in einer blauen Porzellanschale serviert worden war. »Die Zutaten dafür hatten sie im Internet bestellt.«
Die Chinesen schwiegen immer noch, jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach.
»Was hat denn Ben Stur auf unserem Hof zu suchen gehabt?«, fragte Mei Ling. Sie hatte ihn hin und wieder bei ihren Freundinnen im ›Ahrstübchen‹ getroffen, und er war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen.
»Er wollte ein paar Weihrauchstäbchen anzünden.«
»Das kann er doch auch am helllichten Tage tun«, sagte Lao Wang und schüttelte den Kopf. »Jeder kann das tun«, fügte er hinzu und sagte: »Jeder, dem danach zumute ist.«
»Immerhin, gut, dass er da war«, sagte Wang San. »Sonst wäre inzwischen wohl auch die Statue hin.«
Der Bürgermeister nickte und schlürfte seinen Tee. Das heiße Getränk verströmte einen feinen, blumigen Duft.
Nach einer Weile setzte er die Schale ab. »Ich bin aber auch noch aus einem anderen Grund zu Ihnen gekommen.«
»Ja?«
»Ich möchte Ihnen gern etwas übergeben.«
Die Chinesen lächelten ihn an.
»Würden Sie erlauben, dass wir die Übergabe fotografieren? Vielleicht dort drüben?«
Der Bürgermeister tat so, als bemerke er die verwunderten Blicke der Wangs nicht und zeigte auf das eine Bild an der Wand. »Das ist doch ein schöner Hintergrund, kommen Sie …« Er erhob sich von seinem Platz und winkte dem Fotografen.
Wang San, seine Eltern und seine Schwester zögerten etwas, folgten dann aber seiner Aufforderung und stellten sich unter dem Bild, auf dem der Huang Shan, der gelbe Berg, im Morgenrot leuchtete, in Positur. Der Fotograf und der Journalist bezogen Stellung, und unter dem Blitz des Fotoapparates hub der Bürgermeister zu einer kleinen Rede an.
»Liebe Familie Wang«, sagte er und lächelte über das ganze Gesicht. »Zur Entschädigung all Ihrer Unannehmlichkeiten infolge des Brandanschlags auf Ihren Tempel, und als kleine Hilfe für die Zeit, in der Sie keine Einnahmen hatten, möchte ich Ihnen im Namen der Gemeinde einen Scheck überreichen und Ihnen versichern, dass uns die Vorfälle außerordentlich leidtun.«
Bei diesen Worten zog Hubertus Hohenstein ein Stück Papier aus der Tasche und überreichte es Lao Wang, der sich höflich bedankte und sich als Zeichen der Ehrerbietung tief vor ihm verbeugte. Schnell sah er auf die Zahlen. Der Scheck war auf eine Summe von 1.000 Euro ausgestellt. Lao Wang lächelte zufrieden und begann zu rechnen. In normalen Zeiten war das zwar nicht einmal eine Tageseinnahme, aber immerhin. »Das ist wirklich nicht nötig«, versicherte er und wollte dem Bürgermeister den Scheck zurückreichen. »Wir können ihn leider nicht annehmen.«
Hubertus Hohenstein aber wies sein Ansinnen entrüstet von sich.
Wenn er ein Chinese gewesen wäre, hätten sie jetzt eine ganze Reihe von Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht. Lao Wang hätte darauf bestanden, dass er den Scheck unter keinen Umständen annehmen könne, und Hubertus Hohenstein hätte immer wieder insistiert, dass er als Geschenk einfach angenommen werden müsse, und schließlich wäre der Scheck ohne Gesichtsverlust irgendwann in Lao Wangs Kitteltasche verschwunden.
Aber der Bürgermeister war ein Deutscher, und so reduzierten sich die Höflichkeitsfloskeln auf ein Minimum.
»Doch, natürlich«, sagte Hubertus Hohenstein nur und fügte rigoros hinzu: »Keine Widerrede!« Er merkte, dass er sich darin gefiel, Gutes zu tun. Und die Wangs waren wirklich ganz nett. Außerdem roch es gut aus der Küche. Der Duft von gebratenem Ingwer kitzelte seine Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Lao Wang beobachtete ihn und lächelte weise. Die Deutschen waren und blieben Barbaren. Aber der Scheck fühlte sich gut an in seiner Hand.