50

 

Sie trafen sich außerhalb der Bürgersprechstunde, und Hubertus Hohenstein reichte Johannes Frier und Dieter Schmitz eine Tasse mit frisch aufgebrühtem Kaffee. Beide hatten in seinem Büro auf zwei klapprigen Stühlen vor dem wuchtigen Eichenschreibtisch Platz genommen, der so aussah, als stamme er aus den 50er-Jahren, und der für jedermann sichtbar die Spuren einer bewegten Vergangenheit trug. Unzählige feine Risse, gefüllt mit Staub und Schmutz, hatten ihn im Laufe der Jahrzehnte gezeichnet. An der einen oder anderen Stelle waren blaue Kugelschreiberspuren und helle, kreisrunde Ringe sichtbar, wie feuchte Gläser sie auf Holz hinterließen. An diesem Schreibtisch ist schon viel passiert, dachte Johannes Frier.

»Die Bürgerinitiative hat fast 1.000 Unterschriften gesammelt. Hört sich im ersten Moment nicht wirklich großartig an, aber wenn man bedenkt, dass die Ortsgemeinde Altenahr nur knapp 1.700 Einwohner hat, ist die Zahl beachtlich«, meinte er zum Bürgermeister gewandt und strich sich über die grüne Arbeitshose, die etwas knapp saß und über den Schenkeln spannte. Er hatte vor, nach dem Gespräch die Bäume im Wald hinter Burgsahr zu kennzeichnen, die demnächst gefällt werden sollten.

»Die Kreisverwaltung ist und bleibt, wie es aussieht, aller Unterschriften zum Trotz gegen den Bau des Tempels«, erklärte Hubertus Hohenstein mit ruhiger Stimme und nahm einen Schluck von dem Kaffee, doch der war so heiß, dass er sich beinahe die Zunge daran verbrannte. Vorsichtig setzte er die Tasse wieder ab.

»Vielleicht lässt sich daran ja noch etwas ändern«, entgegnete Dieter Schmitz.

»Glaube ich nicht, aber wie kommst du darauf?« Der Bürgermeister war erstaunt.

»Wir haben vor, ein paar Gespräche zu führen.« Dieter Schmitz und Johannes Frier schauten sich an.

»Wie meinst du das?«

»Johannes und ich werden uns dafür einsetzen, dass im Rechtsausschuss doch noch für den Tempel gestimmt wird«, erklärte Dieter Schmitz, dessen stoppelkurzes Haar durch die pralle Sonne der letzten Wochen ausgeblichen war.

Hubertus Hohenstein hob erstaunt die Augenbrauen. »So? Und wie wollt ihr das anstellen?« Sein Blick ging vom einen zum anderen.

»Ganz einfach«, übernahm Johannes Frier das Wort. »Wir suchen die Mitglieder des Ausschusses auf und reden mit ihnen, ganz privat.«

»Völlig informell«, ergänzte Dieter Schmitz.

Hubertus Hohenstein nickte bedächtig.

»Das könntest du übrigens auch tun«, äußerte Dieter Schmitz, und seine Stimme klang fest.

Der Bürgermeister schwieg. Ja, er könnte es auch tun, da hatte Dieter Schmitz recht. Aber wollte er es auch tun? Er war unentschlossen. Einerseits gönnte er den Chinesen ihren Tempel, nach dem feigen Anschlag sowieso, andererseits gingen sie und ihre unzähligen Landesgenossen ihm auf die Nerven. Er dachte einen Augenblick nach, und ohne dass es ihm bewusst war, kratzte er mit entrücktem Gesichtsausdruck an einem Mückenstich am Ellenbogen herum. Ihm fielen die Gesichter von zwei Männern ein, die im Rechtsausschuss der Kreisverwaltung saßen und die er einigermaßen gut kannte. Sie gingen zur Jagd wie er, hin und wieder traf man sich im selben Revier, und anschließend aß und trank man noch etwas in einer Gastwirtschaft zusammen. Die beiden könnte er in jedem Fall ansprechen.

»Der Tempel würde Altenahr nur gut tun, nach allem, was vorgefallen ist«, unterbrach Johannes Frier seine Gedanken. »Er wäre öffentliches Symbol der Wiedergutmachung und Akzeptanz zugleich«, sinnierte er.

»Mit Sicherheit wäre er auch eine Touristenattraktion«, ergänzte Dieter Schmitz. Sie waren alle zusammen zur Schule gegangen, das war zwar lange her, aber dennoch meinte er immer noch ein unsichtbares Band zu spüren, das zwischen ihnen schwang. Hubertus und er begegneten sich regelmäßig im örtlichen Vereinsleben, und mit Johannes war er seit der Schulzeit befreundet, auch wenn sie sich zwischendurch, als Johannes in Köln lebte, etwas aus den Augen verloren hatten. Seit Jo aber wieder in der Nähe wohnte, gingen sie beieinander ein und aus wie in früheren Zeiten, und jetzt hatten sie sich zusammengetan im Kampf gegen die rechten Tendenzen in der Gemeinde, in der sie geboren waren. Dieter Schmitz strich sich energisch über sein Kinn, das sich genauso rau und trocken anfühlte wie die Haare auf seinem Kopf.

Er hatte Angst, dass die Frauen aus Köln ihren Pachtvertrag kündigen könnten, denn schließlich waren nicht nur die Chinesen, sondern auch sie im Ort angefeindet worden, und dem Bürgermeister gönnte er sein ›Ahrstübchen‹ nicht. Er hatte genug andere Lokale im Tal gepachtet, in die er dann Geschäftsführer setzte, die er schlecht bezahlte. Er selbst sahnte ab. Dieter Schmitz fragte sich, ob Hubertus ihm inzwischen verziehen hatte, dass er nicht ihm den Pachtvertrag für das ›Ahrstübchen‹ gegeben hatte. Hubertus ließ sich jedenfalls nichts anmerken.

»Als touristische Attraktion würde der Tempel der hiesigen Gastronomie sicher guttun«, stellte Johannes fest und blickte den Bürgermeister aufmerksam an.

»Ach, was.« Hubertus Hohenstein machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Kassen der Chinesen wären voll, sonst nichts, und die haben sowieso schon genug. Unsere Gastronomie würde leer ausgehen, das sage ich euch.«

»Wenn sie ihr Qualitätsniveau endlich einmal ein bisschen anheben würde, bestimmt nicht«, insistierte Johannes und fügte hinzu: »Dann würde neben den vielen Senioren vermutlich auch jüngeres Publikum hierherkommen.«

Der Bürgermeister schwieg. Er sah auf die Uhr, gleich wäre es wieder so weit, aber das Donnern der Reisebusse würde ihn heute, wie seit Tagen schon, nicht aus der Ruhe bringen. Erstaunt stellte er fest, dass er das Geräusch beinahe vermisste.

»Die Wangs haben im Augenblick übrigens einen erheblichen Verdienstausfall«, wechselte Johannes das Thema und fragte: »Das weißt du doch?«

Der Bürgermeister nickte.

»Ist die Gemeinde nicht in der Pflicht, weiterzuhelfen? Bei allem, was passiert ist?«

Hubertus Hohenstein nahm noch einen Schluck Kaffee. »Rechtlich gesehen nicht, moralisch vielleicht …, ein bisschen …«, räumte er ein und fragte: »Und wie stellt ihr euch das vor?«

»Ganz einfach«, antwortete Johannes Frier. »Die Gemeinde leistet einen Solidaritätsbeitrag. Die Summe muss nicht allzu hoch sein, aber es wäre eine symbolische Geste, und die Scheckübergabe wäre doch schon ein wunderbarer Pressetermin …«

Hubertus Hohenstein sah seine alten Schulkameraden nachdenklich an. Er nahm noch einen Schluck Kaffee und zu ihrer großen Überraschung sagte er: »Wisst ihr, ich habe auch schon an so etwas gedacht.«

Mit 50 hat man noch Träume
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